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Johann Gottlieb Christallers Charakteristik von Frl. Scholtz an Tochter Martha

(Schorndorf, 21. Jan. 1880)

M3,80 G C 2

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So räthselhaft ein Charakter wie der von Frl. Scholtz ist, so ist doch manches eben aus ihrer Begabung, ihrem cholerischen Temperament u ihrer Lebensführung u Stellung zu erklären. Sie hat so sehr als irgendein weibliches Gemüth das Bedürfnis zu lieben u geliebt zu werden. Soweit dieses Bedürfnis nicht seine Befriedigung fand, mochte sie sich durch Herrschsucht zu entschädigen versucht sehen. Darin hat sie das begünstigt, daß des Insp. J(osenhans) Charakter u Anschauung vielfach in gleicher Linie lagen (wären sie aber Mann u Frau gewesen, so hätte es schwerlich eine glückliche Ehe gegeben.). Es fiel oft anderen Leuten auf, daß sie so viel zusammen waren. Ich weiß von zwei Frauen (darunter Deine sel Mutter), die stundenlang auf Zutritt zu Frl. Scholtz warteten, immer hieß es, der Inspektor sei noch drinnen. Und weiß von Bewohnern des Missionshauses, daß sie oft dort war. Das kann ich nun ganz wohl zurecht legen. Aber ich denke, sie hat dabei zu wenig zu lernen gehabt, ihren eigenen Willen zu brechen, auf Ansichten, die den ihrigen entgegen gesetzt waren, zu hören. Und so ist der eigene Wille u die Selbstgefälligkeit immer stärker geworden. Deine Liebe war ihr um so sicherer, seit Du Deine eigene Mutter verloren hattest, u ich freute mich herzlich Eurer gegenseitigen Anhänglichkeit. Aber leider hat es sich, seit Du ihre Gehilfin bist, gezeigt, daß ihre Energie eben so einseitig geworden ist, da ihr Deine dienstwillige Lenksamkeit, die aber eben nicht in allem ihre bloße Copie sein konnte, als ein unangenehm berührender Gegensatz erschien, 'wie Tag u Nacht' ist aber eine unpassende Vergleichung. [...] Das ist ja eben die Folge des Bannes, unter dem ihr stehet, und des seltsamen Doppelspiels, das in Eurem Hause getrieben wird, daß die Einfalt u Wahrhaftigkeit bei allen notleidet.

<2>

Ich habs glaub ich schon einmal geschrieben. Wenn man verheiratet ist, kann man vom Eigensinn eher kuriert werden, u eine Mutter, die eigene Kinder gehabt hat, ist weniger in Gefahr, selbstisch auch zu lieben. Aber einer unverheirateten Person ist auch Gelegenheit geboten, sich zu fügen u nachzugeben u zu lernen u sich u sein altes Verfahren zu ändern, wenn man nur will. [...]

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