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Johann Gottlieb Christaller an Erdmann Christaller:

Vater Christaller geht mit seinem aus der Bahn entgleisenden Ältesten hart ins Gericht

(Schorndorf, 22. Nov. 1880)

Nbrg,80 JG Chr 2

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Lieber Sohn! Die Sachen stehen so, daß ich Dir eigentlich nicht mehr schreiben sollte. In unserem Fall wäre es aber nicht der Vater, der das Tafeltuch entzwei schneidet, sondern der Sohn. Wir kommen immer tiefer in die verkehrte Welt hinein, die ich einmal auf einem Bilderbogen 'Unsere Zeit' dargestellt sah: Ein Bauer liest, auf dem Dampfpflug sitzend, die Zeitung, ein Jude, die Wurst in der Hand, reitet auf einem Schwein, Dienstboten werden von der Herrschaft spazieren geführt, das wohlgenährte Weib jagt ihren schmächtigen Mann mit dem Besen zum Haus hinaus usw. Wie die Herrschaft oder doch Erhebung der Kinder über die Eltern dargestellt war, erinnere ich mich nicht. Aber eine Auffassung des Verhältnisses wie die aus Deinem System resultierende, geht noch über solche Phantasiespiele. Diese Konsequenz Deiner modernen Weltanschauung wäre werth, in einer Schrift wie die von Decan Hrn Guth aufgenommen zu werden. Also: ein Sohn hat dem Vater für gar nichts zu danken, hat nicht die geringste Pflicht gegen ihn, der Vater hat gar kein Recht, gar kein Verdienst ihm gegenüber, nur die verdammte Pflicht u Schuldigkeit seiner Erziehung. Wenn der Erbfeind an den Grenzen oder schon dieseits steht, bereit des Vaters Haus u Habe zu zerstören und alles zu verheeren, u der Sohn sympathisiert zufällig mit dem Feinde, so darf ihm der Vater ja nicht dreinreden, sondern muß ihn mit Kleidung u Waffen, mit Stiefeln u Sporen, mit dem besten Pferd aus seinem Stall ausrüsten, daß er ja recht gut vom Feinde aufgenommen wird u rasch zu einem Commando, zu Ehren u Würden, zu Auszeichnungen im Kampf wider sein Vaterland erworben, gelangen kann. 'Quo usque tandem!' 'ne plus ultra!' 'How sharper than a serpent's tooth, it is to have a thankless child." (Shak.), so sagt Shakespeare, u den wirst Du doch gelten lassen? [...]

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Dein System stellt auf den Kopf u kehrt geradezu um, nicht nur was die Bibel lehrt, sondern auch das Naturrecht, u das was die ältesten Völker, alle Völker u besonders das am längsten bestehende Volk, das der Chinesen, als Grundlage ihres Bestandes angesehen haben. Diese Lehre ist m. W. noch nie dagewesen.

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Die Praxis davon allerdings, ist vielfach vorgekommen u kommt immer häufiger vor, aber, daß ein 23-jähriger Sohn diese Theorie seinem 53-jährigen Vater auf seinen Geburtstag vordemonstriert u auf Grund des gesunden Menschenverstandes Zustimmung erwartet, das ist gewiß noch nie dagewesen, da bist Du Original. Da darfst Du freilich wohl vorbeugen, daß niemand diesen Inhalt Deines Briefes erfährt; übrigens in dem Kreise der eigenen Leute, wo man Dich doch schon einigermaßen kennt, gehört es nothwendig auch vollends dazu. Wenn Du meinst, vollkommen recht zu haben, wenn Du klare und selbstverständliche Gedanken aussprichst, das Dich so ganz befriedigende Ergebnis Deines Suchens nach Wahrheit, warum willst Du es dann verheimlicht wissen? Die Wahrheit muß doch Gemeingut werden, u es läßt sich nicht verkennen, daß die abgefallenen Christen massenhaft schon vorbereitet sind für solche Lehren. Aber allerdings so unverfroren ausgesprochen, muß man davor erschrecken u sich entsetzen u ein Vater, der es fühlt, daß die Schmach des Sohnes seine eigene ist, kann es vor anderen als den eigenen Leuten nicht über die Lippen bringen; ich habe 3-4 Tage gewartet, bis ich den Brief nur der Mutter gab, Sonntag Nachmittag.

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Sie dachte zurück an Deine Kindheit, wo man Dich so lieb hatte, sie hatte es ihrem Gefühle nach seit einer Reihe von Jahren so herankommen sehen, es entfiel ihr so nebenbei der Ausdruck: 'verrückt', und das ist wirklich der zutreffende Ausdruck. Deine ganze Anschauung, Dein ganzes Wesen, ist verrückt von dem richtigen Grund. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß einem Menschen sein Verstand solche Streiche spielen könnte.

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Du hast Dec. 1875 Tante M(erkle) einen Brief geschrieben mit Bezug auf einen vorherigen über Römer 9, u sagst darin: Sieh, so schreckliche, grausame Grundsätze u solche Widersprüche kann ich Gott nicht zutrauen, deshalb glaube ich es nicht. [...] Wenn mir jemand das Kapitel anders erklären kann, so werde ich ihm sehr dankbar sein. Nun, auf diese in Deinen Briefen u mündlichen Äußerungen sehr vereinzelt dastehende Herauslassung Deiner Skrupel hätte man freilich eingehen sollen. Ich begreife nicht, warum es nicht geschehen ist. Aber eben deswegen studiert man ja Theologie, daß man solche 'furchtbar lautenden' Aussprüche in ihrem ganzen Zusammenhang u nach dem, was sie wirklich sagen wollen, verstehen lernte. Deine krasse, plumpe Auffassung, die mich an tatsächliche Aussprüche von Hindus u Muhamedanner erinnert, beweist eben nur, daß ein 18-jähriger Mensch, der schwierige Rechnungsaufgaben lösen kann, damit noch nicht befähigt ist, schwierige Stellen zu verstehen. Du kannst Dir doch denken, daß dieses Kapitel von den glaubigen Gelehrten nicht unerklärt geblieben ist, u Du hättest Dich an die Personen oder die Bücher wenden sollen, die Dir Aufschluß geben können. Ich hätte gerne mit Dir mich daran gemacht; daß Tante oder ich brieflich es nicht konnten, begreifst Du. Wenn Du in Deinen Studienjahren immer das getrieben hättest, was Du solltest, u nicht das, wozu Dich der Vorwitz trieb, oder die Genußtsucht, so könnte es ganz anders bei Dir stehen. Würdest Du Dich in Gehorsam in die Umstände schicken, in die Du hereingeboren bist, so würdest Du Deinem Glück u Deiner Befriedigung eine viel gesichertere Existenz bereiten, als wenn Du nur nach Deinem Kopfe handelst. Was Du von Genöthigtsein durch die Gemütsart faselst, muß Dir eben durch die Erfahrung der Macht der sittlichen Weltordnung korrigiert werden.

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