Startseite / Archive / 2021 / Rezension: Leo Sibomana und Matthias Brack 2021. Legenden, Märchen und Fabeln aus Ruanda
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1. Rezension

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Die emeritierten Regensburger Professoren, der Linguist Leo Sibomana, gebürtiger Ruander, und der Mitherausgeber des „Wörterbuch Kinyarwanda-Deutsch“ (Brack & Musoni 2020), Matthias Brack, haben gemeinsam eine Sammlung von Legenden, Märchen und Fabeln aus Ruanda zusammengestellt. Sie bringen zwanzig Erzählungen, auf der linken Seite den Originaltext in Kinyarwanda, auf der rechten eine genaue, aber nicht wörtliche deutsche Übersetzung, so dass sich die Geschichten flüssig lesen lassen und als literarische Werke erlebt werden können. Denn das Ziel der Autoren ist es, dem deutschen Publikum einen kleinen Einblick in den Reichtum der Literatur von Ruanda zu vermitteln, die wegen der kolonialzeitlichen Bindung an Belgien in Europa meist nur in Französisch bekannt wurde.

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Die Auswahl der Geschichten ist recht geschickt. Die ersten Erzählungen bringen mehr regional geprägte Überlieferungen zu Urzeit und Geschichte. Eine ätiologische Geschichte von Gott und dem Hund eröffnet die Sammlung, es folgt eine recht eigenständige Version vom in Afrika so beliebten Thema der Herkunft des Todes. Ebenso bleibt das in ganz Afrika beliebte Thema vom Streit des Regens (hier Blitz, Gewitter) mit einem Herausforderer (in Namibia meist der Elefant) rätselhaft, weil die Persönlichkeit des Herausforderers nicht weiter zu erkennen ist; alle müssen, wenn fast verdurstet, die größere Macht des Regens eingestehen. Dann folgen regionale historische Sagen, wie die von der sonderbaren Gutsherrin, die ihr Anwesen durch eine Spuckschlange und einen Waldgürtel zu schützen suchte, und dem mythischen ersten König. Ausführlich wegen der Wichtigkeit für die alte ruandische Glaubenswelt sind dann Überlieferungen zu Ryangombe, der alten Gottheit, gegeben.

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Ab der folgenden Geschichte erkennen wir vertrautere Themen und Motive: Nr. 8 behandelt das alte Motiv vom Mädchen in Männerkleidern, hier um den Vater von der Fronarbeit zu befreien. Der Vielfraß (Nr.9), der wegen seiner übergroßen Stärke gleich einen ganzen Wald rodet, erinnert an den Starken Hans (ATU 650A). Ebenso gibt es in Nr.10 bekannte Motive vom Tierhelfer-Märchen (ATU 554). Doch sind diese Märchen, die wohl seit Generationen mündlich in den Familien weitergegeben wurden, völlig afrikanische Märchen geworden. Man vergleiche etwa die Tierhelfer-Version der Brüder Grimm, „Die Bienenkönigin“ (KHM 62), mit der ruandischen Form: Der Sohn vom gütigen Fallensteller, der seine Tiere wieder frei ließ, geht in die Unterwelt, um dort die vom inzwischen verstorbenen Vater vermittelte Braut zu holen. Der Herrscher der Unterwelt verlangt jedoch erst, Aufgaben zu vollbringen. Die Tiere, selbst der einst auch in die Falle geratene und wieder freigelassene Blitz, helfen dort.

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Nr.12 ist ein schönes Beispiel, wie die mündliche Überlieferung verschiedene Motive verknüpft. Die Märchenheldin im verschlossenen Haus hatte die verstellte Stimme der Hyäne für die des Bruders gehalten, die Tür geöffnet und wurde vom Hyänenuntier gefressen (ATU 123). Wie in den beliebten ostafrikanischen Oger-Geschichten schneidet nun der Bruder den Daumen (!) ab und alle Gefressenen kommen lebendig heraus. Besonders ansprechend ist das in Ost- und Südafrika verbreitete Märchen vom Schlangensohn erzählt (ATU 433B), recht ähnlich, wie es schon im uralten indischen Pancatantra (Greither 2014) bekannt war.

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Auch unter den Tiergeschichten erkennen wir bekannte Motive, wie den Wettlauf, bei dem das listige Tier seine Verwandten an der Rennstrecke aufstellt (ATU 275C), die dankbaren Mäuse, die das Netz des gefangenen Löwen durchnagen (ATU 75) oder den Undankbaren, der den, der ihn gerettet hat, gleich fressen will, doch durch einen klugen Richter wieder in seine ursprüngliche missliche Lage gebracht wird (ATU 155). Auch treffen wir auf weiter in Afrika verbreitete Motive, wie das vom unvermutet in die Höhle der Hyäne Geratene, die sich durch listiges Reden befreien (Nr.16 und Nr.18). Doch bei den ruandischen Tiergeschichten fällt besonders auf, dass sie recht unkonventionellen Fabeltieren zugeteilt werden: der Wettlauf ist zwischen der Kröte und der Schwalbe (Nr.15); der Hase will den Raben töten (Nr.17). In Ruanda ist es die Kröte, die sich im Korb versteckt, um hinauf in den Himmel in das Haus des Blitzes zu gelangen, was meist der Schildkröte zugeschrieben wird, die sich in Süd- und Zentralafrika ins Vogelnest mitschmuggeln lässt.

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Das Buch kann als Übungsbuch für Sprachstudien dienen, es bietet reichhaltige Unterlagen für die Erzähl-, Motiv- und Kulturforschung und es kann von Alt und Jung als ansprechende Literatur genossen werden. Die vielen Zeichnungen der elfjährigen Enkelin von Professor Brack, Eliane Hierl, geben dem Ganzen einen besonderen Reiz.

Abkürzungen

ATU

Aarne-Thompson-Uther-Index

KHM

Kinder- und Hausmärchen


Quellenverzeichnis

ATU – siehe Uther

Brack, Matthias und Marie-Goretti Musoni 2020.

Wörterbuch Kinyarwanda–Deutsch: Mit Einführung in Sprache und Grammatik (Afrikawissenschaftliche Lehrbücher, hrgs. von Wilhelm J.G. Möhlig) . Köln: Rüdiger Köppe

Grimm, Jacob und Wilhelm ©1996

Brüder Grimm. Kinder- und Hausmärchen. Nach der Großen Ausgabe von 1857, 4 Bde, herausgegeben von Hans-Jörg Uther. München: Diederichs

Uther, Hans-Jörg 2004

The Types of International Folktales. A Classification and Bibliography. Based on the System of Antti Aarne and Stith Thompson. Folklore Fellows Communications 284. Helsinki: Suomalainen Tiedeakatemia – Academia Scientiarum Fennica. (zitiert ATU)

Greither, Aloys (Hrsg.) 2014

Pancatantra: Die fünf Bücher indischer Lebensweisheit (Fernöstliche Klassiker), übersetzt von Theodor Benfey. Wiesbaden: Marix Verlag

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