Startseite / Archive / 2015 / 3.1 Die Tuareg - Ein Überblick
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1. Einführung

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Die Gruppen, die als Tuareg bezeichnet werden, stellen kein homogenes Volk dar. Vielmehr sind sie Clans und Zusammenschlüsse von Clans, die eine gemeinsame Sprache, das Tamasheq, oder miteinander verwandte Sprachen sprechen, [1] zahlreiche kulturelle Gemeinsamkeiten pflegen und im Großraum Sahara – Sahel von Viehzucht (Ziegen, Schafe, Kamele), Handel und in ausgewählten Gebieten auch von Landwirtschaft leben (Hofbauer / Münch, 2013: 123ff). Sie werden als Nomaden bezeichnet, weil ihr größter Teil nicht sesshaft ist, zumindest nicht in ständiger Lebensform. Sie haben nie in ihrer Geschichte ein eigenes Staatswesen aller Tuareg gegründet. Zwar haben sie immer wieder gegen Fremdherrschaft gekämpft und für Freiheit in ihrem Lebensraum und seit den 1990ger Jahren das Recht auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit in einem eigenen Staat gefordert. Dennoch sind sie in der Vergangenheit, vor allem wegen ihrer Lebensform als Nomaden, nicht zu einer Nation zusammengewachsen. Die einzelnen Gruppen verstehen sich zwar als verwandt, nicht aber als eine zusammengehörige Gemeinschaft.

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Den Begriff 'Nation' haben sie erst im Exil in Algerien und Libyen entwickelt, wo sie vom Gastland als „members of a homogenic group“ wahrgenommen wurden (Klute, 2011: 1) Diese Definition durch Andere verweist auf ein grundlegendes Problem, das die gesamte Problematik der Tuareg und ihrer Rebellionen durchzieht: der Beobachter weiß nur sehr wenig von dem, was 'die Tuareg' politisch denken und anstreben, was ihre Anführer und Kriegsherren als Ziel verfolgen. Man weiß auch nie genau, wer hinter den Bezeichnungen 'die Tuareg', 'die Rebellen' steht. Man weiß auch nicht viel über den religiösen, islamischen Diskurs der Führer der Rebellenbewegungen. Man vernimmt zwar einige präzise formulierten Stimmen, vermag diese aber in der komplexen Situation politischer Forderungen, wirtschaftlicher Interessen und gruppendynamischer Spannungen nicht genau zu deuten. Dass viele Beobachter sich in ihren Berichten über dieses Volk und diese Geschichte widersprechen, ist ein Zeichen dieser grundsätzlichen Problematik der Geschichtswissenschaft und der Politikwissenschaft. Der Beobachter kann nur interpretieren.

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Die Gesamtzahl der Tuareg wird auf 1.500.000 bis 2 Millionen oder gar 3 Millionen Menschen geschätzt, verteilt auf die Staaten Niger (860.000), Mali (440.000), Burkina Faso (15.000), Algerien (35.000), Libyen (15.000), Marokko (1984: 4.500) und Tunesien (1987: 2.000). [2] In all diesen Staaten stellen sie eine Minderheit dar, in Mali weniger als 10% der Bevölkerung (CIA - The World Factbook, 18.4.2013). Selbst im Norden des Landes sind sie weniger zahlreich als etwa die Songhai. In dieser Verteilung über mehrere Staaten und ihrer Konzentration auf den Wüstenbereich liegen die Wurzeln vieler Konflikte, in Bezug auf ihre Identität, ihre politischen Rechte, die Staatszugehörigkeit und ihre Integration in die Staaten, in denen sie leben.

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Die politischen, kulturellen und sozialen Strukturen haben sich aus den Erfahrungen und Überlebenskämpfen entwickelt. Obwohl diese Organisationsformen sich in einem ständigen Wandlungsprozess an die politische und materielle Umwelt anpassen, sind manche Strukturen, bei aller Differenziertheit der Clans dominant. So haben sich „confederations“ aus mehreren Clans gebildet. An ihrer Spitze steht ein oberster Chief, assistiert von einem Ältestenrat, zusammen zuständig für die Angelegenheiten der Gruppe als ganzer. Die Autorität in den Clans und Familien oder Großfamilien wird traditionell von eigenen Vertretern, in der Regel von Männern aus dem Kreis der Ältesten, ausgeübt. Durch die politischen Veränderungen seit der Kolonialzeit sind auch Vertreter aus den neuen Eliten zu Anführern aufgestiegen: Gebildete mit Schul- und Hochschulabschluss, Geschäftsleute, Militärs aus den Reihen der Söldner und Persönlichkeiten, die in den bewaffneten Auseinandersetzungen mit anderen Völkern, anderen Tuareggruppen oder mit dem Staat Mali zu Einfluss gekommen sind. Nach der Rebellion von 1990 ist die Macht auf die jüngere Generation und ihre militärischen Anführer übergegangen, in einem „Bruch zwischen Chiefs und Rebellen“ (Boilley, 1999: 494).

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Die segmentäre Grundstruktur der Gesellschaft, das Leben in verschiedenen Ländern und diese politischen Umwälzungen des Machtgefüges erklären z.T. die Unfähigkeit der Tuareg zu einem gemeinsamen Vorgehen und die Bruderkriege zwischen verschiedenen Gruppen.

In der Sozialstruktur war lange der Unterschied zwischen adligen Gruppen und Vasallengruppen wirksam und hat Herrschaftsverhältnisse der Unterordnung geschaffen. Auch Sklaven oder Leibeigene lebten und arbeiteten in den Gruppen. Welche Bedeutung diese Unterscheidungen heute haben, ist umstritten. Nach Wiedemann spielen die „adligen Ifoghas als hellhäutige Oberklasse“, die in der Kolonialzeit von den Franzosen zu „edlen Rittern der Wüste“ aufgewertet wurden, heute aber von Teilen der schwarzen, gebildeten Elite Malis als „rassisstische Feudalklasse“ abgestempelt werden, immer noch eine wichtige Rolle (Wiedemann, 2014: 276).

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Die Religion war ursprünglich animistisch, hat aber im Laufe der Jahrhunderte islamische Züge angenommen und aus beiden eigene Formen der Frömmigkeit und des religiösen Selbstverständnisses entstehen lassen.

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Die große Mehrheit der Tuareg hat nie eine Schule besucht, die Alphabetisierungsrate wird für das Jahr 2006 auf 22,9 % geschätzt. Die Tuareg sehen darin eine gezielte politische Strategie der Regierung, die Entwicklungsinvestitionen im Norden Malis zurückhält, um die Nomadenbevölkerung sesshaft zu machen. Die Forderung nach eigenen Schulen und nach dem Schutz ihrer Sprache und Kultur wird heute mit Nachdruck vorgetragen, [3] obwohl die Tuareg in der Kolonialzeit „ihren Kindern die moderne Schule“ der Franzosen verweigert und sich dem Druck der Modernisierung nur in sehr geringem Maße gebeugt hatten (Rocksloh-Papendieck, 2012: 2).

2. Die ökonomische Basis der Tuareg

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Die ökonomische Basis der Tuareg-Gemeinschaften liegt in Viehhaltung, Landwirtschaft und Handel. Die Viehhaltung (Ziegen, Schafe, Kamele) zwingt sie auf der Suche nach Futter und Wasser zu Wanderungen durch weite Gebiete, über die staatlichen Grenzen hinweg. In einigen Regionen können sie auch landwirtschaftlichen Tätigkeiten nachgehen. Ihr Handel umfasst den Transport von Salz und Datteln, Hirse, getrocknetem Fleisch, getrocknetem Käse, Butter, Kleidungen, Kopfbedeckungen, Lederwaren, Straußenfedern und ähnlichen Gütern. Auf den Salztransport sind eigene Karawanen spezialisiert. In den letzten Jahren transportieren Karawanen oder Autokonvois auch Schmuggelware, Zigaretten, Drogen und Waffen zur nordafrikanischen Küste und nach Ägypten. Die Zigaretten und Drogen kommen vor allem aus südamerikanischen Drogenkartellen und sind für Europa bestimmt.

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Der Lebensraum und die wirtschaftliche Überlebensmöglichkeit sind seit 1900 massiv eingeschränkt worden, durch die französische Kolonialmacht und die neuen afrikanischen Staaten. Die Grenzziehungen ebenso wie die Zuweisung von Land an sesshafte Bauern und die wachsenden Konflikte zwischen Viehhaltern und Bauern erschweren die Tierhaltung und schnüren das Wirtschaftsleben ein. Politische Zwangsmaßnahmen der Regierungen zur Sesshaftwerdung greifen die kulturelle Identität der Tuareg an und schüren ihre Ablehnung eines Staates, von dem sie sich benachteiligt und unterdrückt fühlen. Ja, sie glauben, hinter der Politik der Regierung den Versuch sehen zu können, „de planifier et d’organiser leur disparition programmée" (Boilley, 2011: 382).

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Die prekäre wirtschaftliche Lage hat jüngere Tuareg gezwungen, in der nationalen Armee oder Verwaltung eine Anstellung zu suchen oder – bis zu Gaddafis Sturz – als Söldner in seiner Armee oder als Arbeiter in der Ölindustrie der Nachbarstaaten Algerien und Libyen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Zehntausende von Flüchtlingen kamen dazu, als sie vor Vergeltungsmaßnahmen der Armee gegen Tuaregrebellionen und vor den Folgen katastrophaler Dürren in den Jahren 1972-1974 und 1984 in den Nachbarländern Zuflucht suchten (Boilley, 1999: 367-389).

3. Die Rebellionen

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Seit Beginn der Kolonialzeit ist es zu einer Serie von blutigen Rebellionen der Tuareg gegen jede Form von Fremdherrschaft gekommen, zunächst gegen die Kolonialmacht Frankreich, seit der Unabhängigkeit im Jahre 1960 gegen den neuen Staat Mali, der als Fremdkörper, von Fremden, d.h. Schwarzafrikanern, beherrscht, empfunden wird. Sprecher der "Chefs coutumiers", zahlreiche Händler und Notable aus der Region des Nigerbogens hatten in einem offenen Brief an den französischen Staatspräsidenten General de Gaulle vom 30.5.1958 für die Schaffung eines Saharastaates plädiert, „Organisation Commune des Régions Sahariennes“, der den Lebensraum der Tuareg und anderer Nomadenvölker umfassen sollte und in dem alle Bewohner der Region, vor allem die Tuareg, nach der Beendigung der Kolonialzeit ihre politische Heimat finden sollten. Nur so könne ihre kulturelle Identität gewahrt bleiben: "Nos intérêts et nos aspirations ne pourraient dans aucun cas être valablement défendu tant que nous sommes rattachés à un territoire valablement représenté et gouverné par une majorité noire dont l’ethnique, les intérêts et les aspirations ne sont pas mêmes que les nôtres". [4] Mit dieser Forderung betonten die Unterzeichner ihre Ablehnung der Einordnung ihres Lebensraumes in einen neuen Staat Mali, vergebens.

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Seit der Unabhängigkeit des neuen Staates wird von Sprechern der Tuareg der Vorwurf erhoben, dass die Regierung die Tuareg nicht als gleichberechtigtes Volk anerkennt, es nicht in den Staat integrieren will, die Lebensweise als Nomaden abbauen und diese in der Entwicklungs- und Personalpolitik massiv benachteiligt. Der malische Staat ist von Sprechern der Rebellenbewegung MNLA im Jahre 2013 sogar als „État génocidaire qui pratique l’épuration ethnique depuis plus de 50 ans“ bezeichnet worden (MNLA - Communiqué, 5.6.2013). Welche Rolle dabei auch heute noch ein ethnischer Antagonismus zwischen den Tuareg und den Schwarzafrikanern aus dem Süden des Landes spielt, ist schwer einzuschätzen. Offensichtlich hat es zahlreiche „Mischehen“ gegeben und „decades of peaceful cohabitation between Tuareg, Arabs, Songhai, Fulani, Bambara, Malinke, Sarakollé, Bozo, Dogon and numerous other communities across the north and south of the vast country”. Dennoch behauptet Gilles Olkakounté Yabi, Sprecher der International Crisis Group, der Antagonismus zwischen heller-häutigen Menschen aus dem Norden und den Schwarzen aus dem Süden „remains a reality“ (Yabi, 2012: 2).

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Im Hintergrund aller Rebellionen standen auch durch Dürren und Repressionsmaßnahmen der Regierung oder des Militärs ausgelöste Flüchtlingsbewegungen.

Die erste Rebellion gegen den Staat Mali fand in den Jahren 1963-1964 statt. Auslöser war die Zurückweisung einer Forderung von Tuareg-Ältesten nach regionaler Autonomie, nach der Möglichkeit, Schulunterricht in Arabisch zu organisieren, und nach einer stärkeren Ausrichtung des Staates am Islam. Mehrere Gruppen attackierten daraufhin Regierungsvertreter, wurden aber von der malischen Armee aufgerieben. [5]

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Dreißig Jahre später, in den Jahren 1990-1996, wurde ein erneuter Versuch gestartet und wiederum die Forderung nach regionaler Autonomie erhoben (Brüne, 2005: 101-105). Auslöser war die Rückkehr von etwa 20.000 Tuareg-Migranten aus den Nachbarstaaten Algerien und Libyen nach Mali und Niger. Unter ihnen waren einige Hundert, die als Söldner in Libyens 'Islamischer Legion' gedient und dort geheime Vereinigungen von „Tuareg im Exil“ gegründet hatten. Sie überfielen Stützpunkte der malischen Armee, und der Staat konnte die militärische Bedrohung nicht zurückwerfen und stimmte unter Vermittlung Algeriens in Friedensverhandlungen ein (Klute, 2012: 9). In einem ersten Friedensvertrag in Tamanrasset, [6] im Januar 1991, stimmten Rebellen und Regierung einer Regelung zu, welche dem Norden Malis einen besonderen Status einräumte, mit Selbständigkeit in kulturellen, regionalen und sozialen Angelegenheiten, mit einer eigenen Polizei und dem Zugeständnis, dass diese Region direkt mit ausländischen Investoren über Entwicklungsprojekte verhandeln konnte. Das Abkommen wurde aber nicht vollständig umgesetzt. Auch in einem zweiten Friedensabkommen vom April 1992, dem sogenannten „Pacte National“, [7] konnten die Tuareg nicht zufriedengestellt werden. Die Folge war ein blutiger Bruderkrieg zwischen zwei Rebellengruppen, der ARLA ('Armée Révolutionaire pour la Libération de l’AZAWAD'), die sich eher aus unteren Gruppen der Tuareg rekrutierte, und der MPA ('Mouvement Populaire de l’AZAWAD'), deren Mitglieder aus höheren Tuareg-Gruppen stammten, über die Frage, ob der Kampf gegen die Regierung nach dem zweiten Friedensabkommen fortgesetzt werden sollte. [8] Der Pacte National wurde erst im Sommer 1993 von allen Rebellen-Organisationen unterzeichnet. Nach dem Kollaps von Verwaltungsstrukturen der Regierung im Norden Malis brach der bewaffnete Konflikt 1994 mit noch größerer Härte wieder aus und wurde zu einem Kampf zwischen 'weißen' Maliern, d.h. Tuaregs und Mauren auf der einen, und 'schwarzen' Maliern, d.h. vor allem Songhay, auf der anderen Seite. Gleichzeitig flammte der Bruderkrieg zwischen Tuareg-Rebellengruppen wieder auf. Eine feierliche Friedenszeremonie, „La flamme de la paix“, in Timbuktu 1996, brachte nach Interventionen mehrerer Tuareg-Ältester, die die Kriegsmüdigkeit der Menschen nutzen konnten, für die nächsten zehn Jahre einen relativen Frieden (Klute, 2011: 9).

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Eine erneute Rebellion brach im Jahre 2006 in der Region Kidal los. Einerseits spielten Dissidenten aus den Reihen der Rebellenbewegung und aus der nationalen Armee Malis eine kriegstreibende Rolle. Dieser Konflikt, in dem Mitglieder aus den oberen Schichten der Tuareg-Gesellschaft gegen solche der „imghad“, „tribeless lower classes“ kämpften (One Hippo, 2013: 3). Letztere hatten sich in der nationalen Armee gegenüber schwarzafrikanischen Soldaten benachteiligt und diskriminiert gefühlt und erlebten ähnliche Vorurteile bei den Rebellen. Anderseits wirkte sich hier auch die regionale Konstellation der Rivalität zwischen Algerien und Libyen um die Kontrolle Nordmalis aus (IFRI, 2008: 4). Ein Schlichtungsabkommen in Algier (4.7.2006) vermochte den bewaffneten Kampf der von Algerien unterstützten ADC ('Alliance Démocratique pour le Changement du 23 mai') gegen den früheren Business-Partner AQMI nicht einzudämmen. Offenbar ging es bei der Rivalität um den Versuch Algeriens, den expandierenden Einfluss Gaddafis zurückzudrängen und den Kampf gegen AQMI, die frühere algerische GSCP ('Groupe Salafiste pour le Combat et la Prédication'), zu intensivieren (IFRI, 2008: 5). Aber auch der Versuch, in den in Kidal blühenden Schmuggel mit Zigaretten, Drogen und Waffen einzudringen, spielte wohl ebenfalls eine Rolle (IFRI, 2008: 4).

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Seit 2007 hat die Tätigkeit von Rebellengruppen eine neue Qualität erreicht: vor dem Hintergrund einer globalisierten und weite Teile des nördlichen Teiles Westafrikas erfassenden Ausbreitung islamistischer Strömungen stehen die Tuareg-Rebellenbewegungen, nun organisiert in der MNLA ('Mouvement National de Libération de l’AZAWAD') [9], im Kampf gegen die Regierung in Konkurrenz zu islamistischen Gruppen wie AQMI, Ansar Dine und MUJAO.

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Zu Beginn des Jahres 2012 hat eine neue Phase der Rebellion eingesetzt; es war keine erneute Rebellion der Tuareg, es war ein militärisch und ideologisch völlig neuer Konflikt, in dem es den Tuareg um die Abspaltung des Nordens vom Zentralstaat, also um die Unabhängigkeit eines eigenen Staates AZAWAD und den mit ihnen Verbündeten um die Errichtung eines islamischen Gottesstaates ging (One Hippo, 2013: 7). Alle Gruppen konnten in gemeinsamem Vorgehen die Armee des Landes aus dem Norden vertreiben. Sehr bald jedoch wurde die MNLA von einer militärisch stärkeren Allianz aus Ansar Dine, AQMI und MUJAO zurückgedrängt. Bei den Zielen in diesen Kämpfen ist aber nicht eindeutig auszumachen, welche Rolle der Islam und die Idee des islamischen Gottesstaates bei den Kämpfern wirklich spielte, liegt doch die finanzielle Basis von AQMI, Ansar Dine und MUJAO im Schmuggel und in der Erpressung von Lösegeldern bei selbst inszenierten Entführungen.

4. Die Unabhängigkeitserklärung

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Die politische Organisation mehrerer Gruppen aus dem Norden Malis, die MNLA, hat am 6.4.2012 die Unabhängigkeit des nördlichen Teiles von Mali unter dem Namen AZAWAD erklärt. In der Unabhängigkeitserklärung werden die wichtigsten Konfliktpunkte mit der Regierung aufgezählt:

  • die ungerechtfertigte, weil nicht mit der Bevölkerung abgesprochene, Zusammenlegung von AZAWAD mit dem neuen Staat Mali im Jahre 1960;

  • „les massacres, les exactions et humiliations, spoliations et génocides de 1963, 1990, 2006, 2010 et 2012, qui ont visé exclusivement le peuple de l’AZAWAD jusqu’au 1er avril 2012";

  • Das inhumane Vorgehen der Regierung der Republik Mali, die die verschiedenen Trockenperioden (1967, 1973, 1984, 2010) genutzt hat, um unser Volk zu vernichten;

  • Die mehr als 50 Jahre dauernde Korruption und Zusammenarbeit von Militär, Politik und Finanzwelt.

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Die Unabhängigkeitserklärung selbst hat folgenden Wortlaut:

„Proclamons irrévocablement, l’État indépendant de l’Azawad à compter de ce jour, vendredi 6 avril 2012. Déclarons : La reconnaissance des frontières en vigueur avec les états limitrophes et leur inviolabilité; L’adhésion totale à la charte des Nations Unies; L’engagement ferme du MNLA à créer les conditions de paix durable, à initier les fondements institutionnels de l’Etat basés sur une Constitution démocratique de l'Azawad indépendant."  [10]

Als Autor dieser Erklärung wird das Exekutivkomitee der MNLA genannt, das in Absprache mit dem 'Comité Exécutif', dem 'Conseil Révolutionnaire', dem 'Conseil Consultatif', dem 'Etat-Major de l’Armée de Libération' und den Regionalbüros der MNLA gesprochen habe. Die Erklärung erwähnt den religiösen Aspekt, den Islam, nicht. Sie spricht von einem demokratischen Staat, der die Menschenrechtserklärung und die Charta der Vereinten Nationen anerkennt, geht aber über diese allgemeinen Ziele eines demokratischen Staates nicht hinaus. Erst ein späteres Dokument, die „Political platform“, erläutert die politischen Vorstellungen der MNLA. [11]

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Diese von der MNLA ausgerufene Unabhängigkeit eines eigenen Staates wurde von vielen Tuareg aber nicht unterstützt. [12] Ein leitender Forscher von ICG, Gilles Olakounlé Yabi, kommt zu dem Schluß: „There is little evidence to suggest majority support for the independent state proposed by the MNLA“.  [13] Inzwischen ist diese Unabhängigkeit vor Verhandlungen mit der Regierung Malis über Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vorläufig zurückgenommen worden. Die MNLA hat im Juni 2013 einem Waffenstillstand mit der Regierung zugestimmt, diesen im November 2013 aber wegen wiederholter Angriffe der Armee gegen die Zivilbevölkerung aufgekündigt. [14]

Seit April 2014 finden laut französischen Presseberichten, vor allem in „Le Monde“, erneut heftige Kämpfe von Tuareg-Einheiten mit Einheiten der Armee Malis statt.

Literaturhinweise

Alesbury, Andrew 2013.

‘A society in motion : The Tuareg from the precolonial era to today’. In: Nomadic Peoples, 17, 3:106-125

Boilley, Pierre 2011

'Géopolitique africaine et rébellions touarègues. Approches locales, approches globales (1960-2011)'. In: L’Année du Maghreb, VII., 2011, 151-162

Boilley, Pierre 1999. 2/2012

' Les Touaregs Kel Adagh. Dépendances et révoltes: du Soudan français au Mali contemporain '. Paris: Karthala

Bouquet, Christian 2013

'Peut-on parler de „seigneurs de guerre“ dans la zone sahélo-saharienne? Entre vernis idéologique et crime organisé'. In: Afrique Contemporaine 2013, 1, (245), 93

Brüne, Stefan 2005

'Der „Tuareg-Konflikt“. Friedenskonsolidierung durch Entwicklungszusammenarbeit'. In: Engel, Ulf / Jacobeit, Cord / Mehler, Andreas / Schubert, Gunter (Hg.) 2005. Navigieren in der Weltgesellschaft. Festschrift für Rainer Tetzlaff, 99-111. Münster: LIT

Claudot-Hawad, Hélène 2013

'La “question touarègue”, quels enjeux?' In: Galy, Michel / Badie, Bertrand (Hrsg.) La guerre au Mali : Comprendre la crise au Sahel et au Sahara : enjeux et zones d’ombre, Paris. 125-147

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'Irrédentisme Touareg au Mali'. In: Mali Demain 19.5.2012. http://www.maliweb.net/insecurite/irredentisme-touareg-au-mali-67502.html , (18.9.2014)

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'From Friends to Enemies: Negotiating nationalism, tribal identities, and kinship in the fratricidal war of the Malian Tuareg'. In: L’Année du Maghreb, VII | 2011, 163-175.

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'Post-Gaddafi Repercussions, Global Islam or Local Logics?' In: Anthropological perspectives on the recent events in Northern Mali. Basel Papers on Political Transformations, Basel. 7 -13

Klute, Georg & Lecocq, Baz 2013

'Tuareg Separatism in Mali and Niger'. In: Secessionism in Africa, hrsg. von Zeller, Wolfgang und Tomás, Jordi. London: Palgrave (forthcoming)

Krech, Hans 2011

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'Die Krise im Norden Malis. Aktuelle Lage, Ursachen, Akteure und politische Optionen'. Studie, Dezember 2012. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung

Togo, Théodore 2002/2006

'The Rebellion in the North of Mali'. In: Caritas Internationalis. Peacebuilding. A Caritas Training Manuel, Vatican. 232-235

Wiedemann, Charlotte 2014

'Mali oder das Ringen um Würde. Meine Reisen in einem verwundeten Land'. München: Pantheon

Yabi, Gilles Olakounlé 18.4.2012

'Mali’s crisis: pitfalls and pathaways'. In: Open Democracy: free thinking for the world. https://www.opendemocracy.net/gilles-olakounl%C3%A9-yabi/malis-crisis-pitfalls-and-pathways (18.9.2014)

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http://www.mnlamov.net/component/content/article/169-declaration-dindependance-de-lazawad.html , (18.9.2014)

AZAWAD Political Platform 3.10.2012

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http://www.unesco.org/culture/fr/indigenous/Dvd/pj/TOUAREG/TouaregC4_2.pdf , (18.9.2014)

MNLA Communiqué du 5.6.2013

http://www.malijet.com/communiques-de-presse/73387-communique-du-mnla-sur-l-offensive-de-l-armee-malienne.html , (17.9.2014)

MNLA Communiqué du 27.9.2013

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MNLA Communiqué du 28.11.2013

http://www.mnlamov.net/actualites/34-actualites/321-larmee-malienne-ouvre-le-feu-sur-la-population-civile.html , (18.9.2014)

Pacte National 11.4.1992

http://peacemaker.un.org/sites/peacemaker.un.org/files/ML_920411_PacteNationalGouvMaliAzawad.pdf , (18.9.2014)



[1] Das Identifikationsmerkmal der Sprache Tamasheq verdeckt nach Rocksloh-Papendieck das soziale und politische Problem, dass auch die „Kel Tamasheq noirs“, die Bellah, die früheren Leibeigenen der Tuareg, diese Sprache sprechen, zahlenmäßig im Norden Malis aber sehr viel größer sind als „die hellhäutigen Tuareg.“ Rocksloh-Papendieck, 2012: 2. – Bellah oder Bella ist die Bezeichnung in Songhay, sie werden auch Iklan genannt (in Tamascheq), Bouzou (in Haussa). Über ihre zahlenmäßige Bedeutung findet man keine genaueren Angaben. – Zu ihren Lebensbedingungen in Mali siehe: IRIN, Humanitarian news and analysis.

[2] Care, 2008; Wikipedia (englisch und deutsch) legen andere Zahlen vor.

[3] Siehe den von Intellektuellen im Sommer 1990 vorgelegten Forderungskatalog „Nous, Touaregs du Mali“, zitiert in Boilley, 2012:481-482

[4] Text in Auszügen bei Boilley, 2012: 292-293. Auch in: Irrédentisme Touareg au Mali.

[5] Näheres bei: Klute, 2012: 9. – Ausführlich bei: Brüne, 2005: 100-101.

[6] Text : 'Les accords de Tamanrasset', 6.1.1991. Einzelheiten bei: Boilley, 1999: 474-494

[7] Text: 'Pacte National', 11.4.1992. Einzelheiten bei: Boilley, 1999: 495-533, vor allem 526-533

[8] Klute, 2012: 10-11. – Théodore Togo stellt eine Liste von 8 verschiedenen Gruppen zusammen.

[9] Die Homepage der MNLA spricht manchmal auch von 'Mouvement National pour la libération de l’Azawad'.

[10] Wortlaut in: AZAWAD Déclaration d’Indépendance.

[11] Wortlaut in: AZAWAD Political Platform.

[12] Thomas Scheen zitiert einen Arzt aus den Reihen der Tuareg mit den Worten: „Die Mehrheit der Tuareg verflucht diese Leute.“ Wut auf die Berufsrevolutionäre, in: FAZ, 22.1.2013.

[13] Yabi, 2012. – Er fügt hinzu, dass es für zukünftige Verhandlungen wesentlich ist, genauer zu erfahren, was die Tuareg wirklich wollen.

[14] MNLA Communiqué du 28.11.2013

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