Startseite / Archive / 2014 / Die Prophetin Ngozi - Aufzeichnungen aus Nigeria 1995-96
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1. Vorwort

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Ngozika Ogbu, eine christliche Prophetin, stammte aus Alor Uno, einer Gemeinde im nördlichen Igbo-Gebiet, nur drei, vier Kilometer vom Campus meiner damaligen Universität entfernt. Im Februar 1995 zerstörte sie mit ihren Anhängern die Kultstätte einer Gottheit, die in der ganzen Region berühmt war. Adoro war die Schutzgöttin von Alor Uno und zugleich ein Orakel, das in weitem Umkreis Klienten anzog. Menschen, die in Landstreitigkeiten verwickelt waren oder die beschuldigt wurden, ein Verbrechen begangen zu haben, zogen zum Adoro-Schrein und legten vor einem der Priester einen Eid ab, in dem sie ihre Unschuld beteuerten. Wer einen falschen Eid schwor und damit die Göttin erzürnte, starb innerhalb eines Jahres (oder einer anderen Frist), sei es durch Krankheit oder einen Unfall. Der gesamte Besitz des Getöteten fiel an den Schrein, und seine Familie musste der Göttin, um sie zu beschwichtigen, einen ihrer Angehörigen opfern, in der Regel ein Mädchen oder eine junge Frau. Die Auserwählte wurde jedoch nicht getötet, sondern nach Alor Uno geschickt, wo sie – in früheren Zeiten – dem Dienst der Göttin geweiht war. Kultsklaven, die in den meisten Regionen des Igbolands ‘Osu’ genannt wurden, waren für immer verdammt. Ihre Unreinheit konnte sich durch körperlichen Kontakt auf andere übertragen, deshalb wollte niemand sie bei sich aufnehmen. In Alor Uno leben heute Tausende von Osu, oder genauer: deren Nachkommen. Nach den Gesetzen des modernen Nigerias ist es nicht erlaubt, sie zu diskriminieren, trotzdem leben sie immer noch in separaten Dörfern, und niemand unter den Freigeborenen würde eine(n) Osu heiraten.

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Mit der Zerstörung des Adoro-Schreins war Ngozis Mission in Alor Uno noch nicht beendet, denn Gott hatte ihr den Auftrag gegeben, ihre Heimatgemeinde, die aus 31 Dörfern bestand, von allen Relikten des Heidentums zu reinigen. Sie zog daher mit Dutzenden von Anhängern wochenlang von Haus zu Haus, zerstörte die Familienschreine und durchsuchte die Gebäude nach Jujus, d.h. nach Zaubermitteln und traditionellen Kultobjekten. Die meisten Bewohner Alor Unos waren Mitglieder der katholischen oder anglikanischen Kirche, trotzdem fanden sich in jeder Familie Götzenbilder und andere verdächtige Gegenstände. Was die Prophetin aus den Gehöften der Bürger und aus dem zerstörten Adoro-Schrein zusammentrug, ließ sie nicht gleich verbrennen, sondern stellte es auf dem Marktplatz zur Schau. Für die Menschen in Alor Uno war es faszinierend zu beobachten, was die Prophetin aus den Winkeln der Häuser ans Licht gezerrt hatte. Selbst aus weit entfernten Städten reisten Besucher an, um die gewaltige Ansammlung mysteriöser Objekte zu sehen.

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Über die Ereignisse in Alor Uno wurde viel geredet, auch auf dem Campus meiner Universität in Nsukka. Daniel Agbu, ein Bekannter, der aus einer benachbarten Gemeinde stammte, führte mich am 18. März zum Marktplatz von Alor Uno, damit ich dort, so wie andere Besucher, die Jujus betrachten konnte. Die Zerstörung des Adoro-Schreins lag gerade fünf Wochen zurück, und Ngozis Anhänger sprachen noch viel von diesem einschneidenden Ereignis. Sie gaben mir außerdem einen Videofilm, den die Prophetin gleich nach dem Angriff auf die Kultstätte hatte drehen lassen. Der Film zeigt das Fest nach dem Sieg über Adoro, als sich Hunderte von Dorfbewohnern auf dem Marktplatz versammelten. Dazu enthält er Interviews, in denen die Akteure die Motive ihres Handelns erklären, und er zeigt, wie Anhänger der Prophetin unter dem Einfluss des Heiligen Geist in Besessenheit gerieten (Auszüge aus dem zweistündigen Videofilm sowie zwei englische Übersetzungen des gesamten Filmtexts sind zugänglich unter Documents Relating to Prophetess Ngozi in Igboland).

Da Ngozi ihre Reinigungskampagne bis in den April hinein fortsetzte, konnte ich sie einige Male beim Einsammeln der Jujus begleiten. Zugleich begann ich, ihre Gottesdienste zu besuchen und am sozialen Leben der Gemeinde teilzunehmen. Dabei konnte ich beobachten, wie sich ihre religiöse Bewegung allmählich zu einer Kirche verfestigte. Die Institutionalisierung ihrer "Mission" war wichtig, weil die Prophetin manchmal für Wochen oder Monate verreist war, um in anderen Orten Anhänger zu gewinnen und weitere Gemeinden zu gründen. Auf einigen dieser Missionsreisen durfte ich sie begleiten: meist in umliegende Ortschaften, aber auch nach Awkuzu, ins westliche Igbo-Gebiet, und ins 500 Kilometer entfernte Kano, im muslimischen Norden Nigerias.

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Wenn die Prophetin in Alor Uno war, empfing sie Hilfesuchende und bot ihnen ähnliche Dienstleistungen an wie der zerstörte Adoro-Schrein. Klienten wandten sich an sie, um zu erfahren, ob ein Zauber oder Fluch über sie verhängt worden war. Sie ließen sich von Ngozi die Zukunft voraussagen und wollten durch sie von Krankheit und Unfruchtbarkeit geheilt werden. Auch in Fällen von Diebstahl, Vergiftung oder Mord wurde die Prophetin konsultiert – und sie nahm für diese Bemühungen zuweilen Geldgeschenke entgegen, sei es persönlich oder über die Gottesdienstkollekte. Einen Teil dieser Einnahmen verwendete sie dazu, einen Kreis von engen Anhängern um sich zu scharen, die für sie Aufträge erledigten. Nur so konnte sich die Prophetin von organisatorischer Arbeit entlasten. Manchmal nahm sie einen Teil ihrer Vertrauten mit sich, wenn sie ihren Kampf gegen das Heidentum in andere Ortschaften führte und dort Ableger ihrer Kirche zu gründen suchte.

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Als eine junge Frau von vielleicht 25 Jahren stand sie noch am Anfang ihrer Karriere. Um sich vor anderen Propheten und Wunderpastoren auszuzeichnen, musste sie ihre charismatischen Fähigkeiten unter Beweis stellen, und dabei erwies sich die Konfrontation mit dem Adoro-Schrein, der seit Generationen als unbezwingbar gegolten hatte, als hilfreich. Die Überreste der einst mächtigen Kultstätte, zusammen mit all den gefährlichen ‘Idolen’ und Zaubermitteln, die sie aus den Privathäusern zusammengetragen hatte, kündeten von der überlegenen Kraft der Prophetin. Ihr war es daher ganz recht, wenn Besucher von weit her anreisten und die aus dem Adoro-Schrein geraubten Jujus in Augenschein nahmen. Auch die Besuche des weißen Universitätsdozenten, der Ngozis Kampf gegen das Heidentum mit so viel Interesse beobachtete, waren ihr willkommen. Erst allmählich begriff ich, dass die grandiose Juju-Kulisse, die sie auf dem Marktplatz arrangiert hatte, zu einer Art Public-Relations-Kampagne gehörte. Viele Besucher, die aus anderen Ortschaften angereist kamen, um das ‘Wunder’ von Alor Uno zu bestaunen, suchten gleich um eine private Unterredung bei der Prophetin nach.

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Auch andere Dinge habe ich lange nicht verstanden. Es dauerte Monate, bis Thompson Attamah, ein wichtiger Unterstützer der Prophetin, beiläufig erwähnte, dass es in Alor Uno zwei ‘Clans’ gebe. Näheres über diese Clans mochte er nicht berichten, aber allmählich erfuhr ich, dass Alor Uno in Osu-Dörfer und Freigeborenen-Dörfer segregiert war und dass diese Spaltung mit Adoro zusammenhing. Vor dem Biafra-Krieg, 1967 bis 1970, hatte die Regierung einen Osu zum traditionellen Herrscher (chief) eingesetzt; nach dem Krieg war es den Freigeborenen gelungen, die Macht zurückzuerobern. In öffentlichen Debatten war von dem Gegensatz zwischen Osu und Freigeborenen nicht die Rede, und man sprach nicht laut über den Status einer Person. Deshalb dauerte es lange, bis ich erfuhr, dass auch Ngozi in ihrer Kindheit der Göttin Adoro geweiht worden war. Es hieß, Adoro habe ihren Vater getötet, weil der in einem Rechtsstreit mit seinem Bruder einen Eid geschworen und die Unwahrheit gesagt hatte (oder weil der Bruder, der im Grunde Schuld hatte, das Urteil der Göttin manipuliert hatte). Auf der Familie lastete jedenfalls ein Fluch, und Ngozi, die jüngste Tochter des Verstorbenen, wurde dazu bestimmt, den Fluch auf sich zunehmen und Osu zu werden. Doch sie entzog sich diesem Schicksal, rannte davon und wurde eine mad woman. Viele Anhänger, die sie später in Alor Uno gewann, erinnerten sich noch daran, wie die junge Frau verstört durch den Ort geirrt war. Im Nachhinein erschien es Ngozi, dass jene Leidensjahre Teil ihrer spirituellen Berufung waren. Die Stimmen, die sie in ihrem Wahn gehört hatte, erhielten einen Sinn, als sie gewahr wurde, dass sie zu einer Mission berufen war, dass der Heilige Geist sie erwählt hatte, ihre Mitbürger vom Bösen zu befreien (vgl. dazu meinen Aufsatz ‘Wahn und Prophetie’ in: Peter Burschel und Christoph Marx (Hg.), Gewalterfahrung und Prophetie, Wien/Köln/Weimar, 2012).

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Wenn ich mit Ngozi allein war, sprach sie manchmal mit Verbitterung über die Bewohner Alor Unos, die sie schon in ihrer Kindheit verstoßen hatten. Viele waren jetzt Mitglied ihrer Kirche, aber es war nicht Zuneigung, was sie zu Ngozi führte, sondern Eigennutz. Sie suchten das persönliche Gespräch mit ihr, um von ihren Problemen zu berichten und spirituellen Beistand zu bekommen. Als ich Ngozi gegenüber einmal das Wort ‘Osu’ benutzte, war sie überrascht und ein wenig erschrocken. Sie hatte sich stets geweigert, die Osu-Identität anzunehmen, und mochte auch später, als Prophetin, keinen Aufstand der Osu gegen die Freigeborenen führen. Unter ihren Anhängern stammten zwar einige aus den Dörfern der früheren Kultsklaven, aber niemand von ihnen schien bereit, über sein Schicksal als Ausgestoßener zu reden. Auch an der Universität fand ich niemanden, der sich zu seiner Osu-Identität bekannt hätte. Offiziell gibt es keine ‘Osu’, denn ein Gesetz aus dem Jahre 1956 verbietet es, jemanden als Osu zu bezeichnen. In modernen Institutionen, wie den Universitäten, ist es daher üblich, dass die Betroffenen nicht über ihre Herkunft sprechen, in der Hoffnung, das Geheimnis ihrer Identität zu wahren und keinen Anlass zur Diskriminierung zu geben. In der Anonymität der Städte ist es ohnehin nicht möglich, die alten Kastengrenzen, mit ihren Reinheitstabus, aufrecht zu erhalten. Wer ein Restaurant besucht oder an einem kirchlichen Gottesdienst teilnimmt, kann nicht wissen, ob die Person neben ihm ein Osu ist. In den Dörfern dagegen, wo die Menschen sich seit Generationen kennen, leben die alten Ressentiments fort. Im Vergleich zur vorkolonialen Zeit ist die heutige Diskriminierung milde und kaum sichtbar, doch gibt es vereinzelt Orte im Igboland, in denen es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Nachkommen der Osu und der Freigeborenen kam.

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Da Ngozi mir gestattete, mich an den Aktivitäten der Gemeinde zu beteiligen, habe ich nie eine Filmkamera oder einen Notizblock dabei gehabt, um die Geschehnisse aufzuzeichnen. Aber ich habe mich abends, wenn ich von Alor Uno nach Hause kam, oft noch gezwungen, meine Eindrücke schriftlich niederzulegen, damit die Erinnerung an sie nicht verloren geht. Was ich im Folgenden aus Gesprächen mit Ngozi und andern Akteuren wiedergebe, ist also in meinen nachträglich entstandenen Notizen immer nur sinngemäß festgehalten. Nur manche prägnante Formulierungen, die ich mir genauer gemerkt hatte, sind in den handschriftlichen Aufzeichnungen als wörtliche Rede gekennzeichnet. Natürlich kann ich bei keinem dieser Zitate sicher sein, dass ich es in seinem exakten Wortlaut bewahrt habe, und deshalb wurden diese Zitate hier in einfache (nicht doppelte) Anführungszeichen gesetzt.

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Meine Notizen waren nicht dazu gedacht, von anderen gelesen zu werden. Trotzdem habe ich sie für die Veröffentlichung in Afrikanistik online nicht umgeschrieben. Statt die Ereignisse in Alor Uno im Nachhinein zu deuten und sie damit verständlicher zu machen, sind sie so beschrieben, wie ich sie damals wahrnahm. Der Leser wird also, ähnlich wie der Autor, durch eine fremde Welt irren und anfangs wenig verstehen. Ich habe allerdings, um die Lektüre zu vereinfachen, den Text um zwei Drittel gekürzt. Weggefallen sind vor allem ausführliche Beschreibungen religiöser Riten sowie Berichte über die Dorfkonflikte. Doch von diesen Kürzungen abgesehen wurden keine größeren Änderungen vorgenommen. Ich habe keine Textpassagen umgestellt und keine erklärenden Sätze eingefügt. Der Text wurde nur nach Fehlern durchgeschaut und stilistisch überarbeitet. Einige kurze Hinweise, die notwendig waren, um unbekannte Begriffe und Namen zu erklären, sind in eckige Klammern gesetzt […] oder als Fußnoten angefügt. Außerdem wurden zwei, drei Personennamen geändert.

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Mein Aufenthalt in Nsukka endete früher als geplant, weil Nigerias Universitäten Mitte der 1990er Jahre meist bestreikt wurden und ein regulärer Unterricht kaum möglich war. Der Deutsche Akademische Austauschdienst, der mich nach Nigeria vermittelte hatte, entsandte sich mich daher zum 1. Juli 1996 an die Universität Natal in Südafrika. Bei einem Nigeria-Besuch im Dezember 1996 sah ich Ngozi ein letztes Mal, so dass meine Chronik der Ereignisse am 22. Dezember 1996 abbricht. Spätere Nigeria-Reisen führten mich immer nur kurz nach Alor Uno. Ich traf Mitglieder der Kirche, und es entstanden zwischen 2000 bis 2011 weitere 300 Seiten Notizen. Doch diesen Teil meiner Aufzeichnungen habe ich weggelassen, denn Ngozi war damals schon tot. Sie starb am 25. Dezember 1999.

2. Alor Uno, 18. März 95

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Daniel und ich treffen gegen 16 Uhr in Alor Uno ein, parken gleich neben dem Marktplatz. Unmittelbar an der Straße sind Hunderte von Jujus aufgehäuft, wie eine Müllhalde, etwa 20 Meter entlang der Straße. Neben den magischen und religiösen Objekten alle möglichen Gegenstände, die aus Schreinen oder Privathäusern geraubt wurden: etwa zehn Fahrräder, zwei oder drei alte Motorräder, Teile von Wohnungseinrichtungen.

Daniel deutet auf einen jungen Mann, Ngozis Bruder, in einem weißen, allerdings ziemlich beschmutzten Gewand: Ich könne ihn nach den Vorgängen in der Stadt fragen, er gehöre zu den Anhängern der Prophetin. Wir gesellen uns zu ihm; er hat keine Bedenken, meine Fragen zu beantworten. Andere junge Männer kommen hinzu. Sie erklären mir den Kampf gegen das Heidentum, gegen Hexen, Götzenbilder und Kräuterdoktoren. Als Weißer, das heißt Christ, stehe ich in ihren Augen wohl automatisch auf ihrer Seite. Keine Scheu, mir die idols zu erklären. Einige Fetische bestehen aus Bündeln von Tuch, bläulich, indigoartig gefärbt. In ihnen sind Vogelfedern und andere Substanzen eingewickelt.

"Das hier ist das gefährlichste Juju. Es kann Tausend Menschen in einer Woche, ja an einem Tag töten." Später heißt es, dass ein anderes Objekt noch gefährlicher sei: hoch aufgerichtet auf einem Stab, vielleicht 3 Meter hoch, mit einem Tuch umhüllt, in blau-weißer Batik. Es heißt, dass niemand dieses idol berühren konnte. Tod wäre die Folge gewesen. Nur die Prophetin hatte die Kraft, es dem Schrein zu entreißen.

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Ein anderes gefährliches Objekt: ein Möbelstück, pinkfarben bemalt. Es gleicht einem Schlafzimmerspiegel auf einem Holzgestell. Nur die Hälfte des Spiegels ist erhalten. Wenn der Zauberer es wünschte, erschien eine Person in diesem Spiegel, und er konnte sie töten.

Meine Gesprächspartner sind trotz ihrer christlichen Haltung überzeugt, dass all diese Gegenstände extrem bedrohlich waren. Jetzt haben sie freilich einen Großteil ihrer Kraft eingebüßt: "Sie sind kaum noch gefährlich." Auch Daniel hält den heidnischen Zauber für extrem wirksam: Die Prophetin habe all die Schreine nur deshalb zerstören können, weil sie über gewaltige Kräfte verfüge. Bevor sie mit ihrer Säuberungsaktion begann, habe sie eine Woche lang gefastet.

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Ich deute auf die Rosenkränze, die die jungen Männer sich um den Hals gehängt haben, und erkläre, dass sie ja nun vor den Jujus geschützt seien. Sie fühlen sich nicht veralbert, sondern nicken zustimmend: Das Werk der Prophetin nütze der ganzen Stadt, weil es die Hexer schwäche. Unter den Fetischen und den damit verbundenen Geistern hätten selbst die Familien der Eigentümer zu leiden, denn sie würden von den idols bedroht. Außerdem gebe es Menschenopfer, allerdings keine öffentlichen Opfer. Doch könne man im Busch verstreut Menschenknochen finden.

Ein junger Mann, der etwas besser Englisch spricht [es ist Chuka], fragt mich von sich aus, ob ich die Prophetin "bei der Arbeit" sehen will. Wir machen uns auf den Weg. Ich ziehe es vor, nicht mit dem großen Jeep vorzufahren. Zu Fuß mache ich weniger Aufsehen. Es stellt sich heraus, dass Ngozi, die Prophetin, keine 1000 Meter entfernt bei der Arbeit ist.

Daniel hatte nur erzählt, sie sei eine Waise, ihre Eltern seien durch die Aktivitäten eines heidnischen Priesters oder Zauberers ums Leben gekommen. Sein Schrein habe das Land von Ngozis Eltern in Besitz genommen. Nun sei sie in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, um das Land ihrer Familie zurückzugewinnen und den Schrein mit Gewalt zu zerstören.

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Wir nähern uns einer Gruppe von 100 bis 150 Menschen, mehr als die Hälfte von ihnen Kinder und Heranwachsende. Es handelt sich um eine Art Prozession. Christliche Hymnen werden gesungen, begleitet von einigen Musikinstrumenten: Eisenbehälter, auf die einige Jugendliche mit Holzstöcken klopfen. Etwa eine Handvoll von Frauen ist in lang wallende, weiße Gewänder gekleidet, mit Kopftüchern. Einige halten Bücher, offenbar Bibeln, in der Hand. Viele Männer und Frauen haben sich die billigen weißen Plastik-Rosenkränze um den Hals gehängt. Einige tragen zwei auf einmal, eine junge Frau sogar drei. Ansonsten erscheint mir die Kleidung nicht auffällig. Ngozi dagegen ist ungewöhnlich gekleidet: barfuß, halbnackt, mit weißem BH, ohne Bluse, im weißen Unterrock, unter dem sich ein weißer Slip abzeichnet. Auf dem Kopf, bis auf den Rücken herunterhängend: ein glänzend weißes Tuch, aus einem Stoff, der an ihren Unterrock erinnert. Sie ist etwas kleiner als der Durchschnitt der Igbo-Frauen, breitschultrig, gedrungen, aber nicht fett. Die Haut um den Bauch hängt schlaff herunter. Sonst dagegen erscheint ihre Haut jung und fest: eine Frau in den Zwanzigern. Nur die Hände wirken älter, etwas abgearbeitet, und die Stirn zeigt eine auffällige Furche.

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Sie bewegt sich rasch, mit entschlossenen Schritten, stets direkt auf ein Ziel zugehend. Allerdings weiß sie nicht immer, wohin sie sich wenden soll. Welches Gehöft kommt als nächstes an die Reihe? In solchen Momenten des Zögerns, der Unsicherheit hilft ihr eine Art Zeremonienmeister, ein stämmiger Mann um die 30, mit einem Stock in der Hand. Unmittelbar hinter ihr stehend, weist er Ngozi den Weg, hebt seinen Stock, schreit auf die Umstehenden ein, um der Prophetin den Weg zu bahnen. Auf sein Kommando öffnet sich sofort eine Schneise, und Ngozi marschiert auf das nächste Haus zu, oder sie läuft ums Haus, hin und zurück auf den Hof. Hinter ihr schließt sich die Gasse, und die Umstehenden folgen ihr in einer Prozession, jedoch ohne feste Marschordnung. Nur der Zeremonienmeister hält sich meist unmittelbar hinter ihr. Neben dem Stab trägt er zuweilen einen Plastikeimer mit Wasser, aus dem er einen etwas kleineren Eimer, den Ngozi meist mit sich schleppt, mit Wasser auffüllt.

Auf katholisches Dekor [wie bei den Prozessionen meiner katholischen Kindheit] wird offenbar ganz verzichtet: Ngozis Eimer mit (Weih?)-Wasser sieht etwa so aus wie die 5-Liter-Plastikbehälter für Speisefett. Der Behälter wird immer wieder ganz unzeremoniell mit Wasser aufgefüllt, ohne irgendwelche Gesten des Segnens, ohne irgendwelche magischen Pülverchen. Ngozi sprenkelt das Wasser auf die Umstehenden und auf den Boden, speziell auf die zu zerstörenden oder schon zerstörten Schreine.

Immer wieder fallen Wassertropfen auf die Umstehenden. Nicht einmal zwei Minuten nach meiner Ankunft fällt auch etwas von dem Wasser auf mich. Ngozi registriert meine Anwesenheit, fixiert mich aber nicht mit den Augen. Die ersten Minuten bin ich besorgt, dass sie sich öffentlich gegen mich wenden könnte, dass sie vielleicht eine Stellungnahme verlangt, was ich hier zu suchen habe. Oder sie könnte womöglich direkt ihre Anhänger aufrufen, mich davonzujagen. Sie scheint jedoch durch meine Präsenz nicht sonderlich irritiert zu sein. Auch die Dorfbewohner betrachten mich nur mit mäßiger Neugierde. Schon im Gespräch auf der Hauptstraße hatte ich mich als Universitätsdozent vorgestellt: Department of Foreign Languages. Als ich zu Kommentaren gedrängt werde, erkläre ich: So viele Jujus habe ich noch nie gesehen. Das sei alles völlig neu für mich. Im Übrigen halte ich mich ein wenig zurück, dränge mich nicht ins Zentrum des Geschehens.

Daniel drückt mir zwei, drei Zweige mit Blättern in die Hand. Ich trage sie mit mir herum als Zeichen für ‘Frieden’. Auch einige andere halten Zweige in der Hand.

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Ngozi zieht mit ihren Anhängern von Gehöft zu Gehöft. Bis um 6 Uhr abends werden etwa ein halbes Dutzend Gehöfte gereinigt. Gefolgt von einigen ihrer Getreuen wendet sie sich meist direkt zum Wohnhaus, tritt durch die Tür, hält sich eine Weile im Innern auf. Niemand setzt ihr direkt Widerstand entgegen, einiges deutet eher auf Kooperation. Schon nach zwei, drei Minuten tragen einige der Getreuen irgendwelche Zaubermittelchen aus dem Haus. Für mich – der einige Meter entfernt ist – lassen sich die Jujus nicht recht erkennen: undefinierbare Substanzen, Lumpen oder Bündel in irgendwelchen Pappkartons, Kaleabassen, Tonscherben. Alles etwas schmutzig, unansehnlich.

Ich kann nicht sehen, dass Ngozi direkt irgendetwas in die Hand nimmt. Aber ihre Begleiter haben keine Scheu, die gefährlichen Objekte anzufassen. Für das Entfernen der Idole oder das Zerstören der Schreine scheinen die Männer zuständig zu sein. Etwa eine Handvoll von ihnen hat dazu das nötige Werkzeug zur Hand: einer mit einer schweren Hacke, ein anderer mit einem ordinären Spaten, weitere mit Stöcken, Macheten. Es scheint, als könne sich jeder an dem Zerstörungswerk beteiligen und auf die Schreine einschlagen, die Miniaturdächer aus Stroh oder Wellblech abtragen und zur Seite räumen, die Lehmmauern zerschlagen. In den Schreinen, ähnlich wie in den Wohnhäusern, sind geheimnisvolle Gegenstände aufbewahrt: Rinderschädel, Glasflaschen verschiedener Größe und Farbe, verschmierte Bündel. All diese Objekte werden von dem Gelände weggeschafft und auf einer Stelle zusammengetragen.

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Zunächst habe ich den Eindruck, dass nur Männer sich an diesen Gegenständen zu schaffen machen. Doch am Ende der Zeremonie sind es meist Frauen, die all die gesammelten Objekte zum Marktplatz an der Hauptstraße schleppen. Erstaunlich ist, dass die Gesten der Beteiligten kaum Angst verraten, wenn es darum geht, mit den Jujus zu hantieren. In einem Fall kommt Ngozi zur Hilfe. Es geht um einen Baum, der (nach Daniels Information) üblicherweise zur Aufbewahrung von Jujus benutzt wird. In diesem Fall macht der Baum einen unscheinbaren Eindruck: allenfalls 3 Meter hoch, mit schütterer Laubkrone. Zwischen einer Astgabel ist etwas zerknicktes Wellblech gesteckt, und daraus wird später ein Zauber hervorgezogen: wieder eine Art Bündel, in schmutzig-blauen Stoff gehüllt. Bevor einer der Männer den Baum mit seiner Machete nieder hackt, stellt sich Ngozi davor und sprenkelt Wasser auf den Boden. (Ich fühle mich an Bonifazius erinnert.)

Vor einer anderen Hütte wird eine alte, vielleicht 60-jährige Frau auf einen Stein oder Holzblock gesetzt. Ngozi wendet sich ihr zu, die Menge drängt sich heran. Um Platz zu schaffen, zieht der Zeremonienmeister mit seinem Stock einen Strich auf den Boden, den die Herandrängenden nicht übertreten dürfen. Ngozi beugt sich herunter zu der Frau, streicht ihr mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand das Kreuzzeichen auf die Brust, dann auf die Stirn. Die alte Frau duldet es gelassen. Daniel erfährt, dass es sich um eine Hexe handelt. Am Ende der Veranstaltung, als Ngozi 20 Minuten predigt, sehe ich die alte Frau herantreten. Doch sie bleibt nicht bis zum Schluss, sondern wendet sich wieder in Richtung Hütte zurück.

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Auf dem Hof eines anderen Gehöfts. Ngozi lässt sich den großen Eimer mit Wasser reichen und schüttet sich aufrecht stehend den kompletten Inhalt über den Kopf. Es ist ein kühler, trüber Tag, vielleicht der kälteste, den ich in Nsukka erlebt habe, so dass Ngozi stark frieren muss. Doch statt sich zu bewegen, bleibt sie minutenlang auf demselben Fleck stehen. Sie nimmt sich das Tuch vom Kopf, schlingt in die Mitte des Tuchs einen dicken Knoten und legt es sich auf den Kopf, den Knoten in der Mitte, die Enden links und rechts zu den Ohren herabhängend. Ihre Mimik ist auffallend: die Augen meist starr geradeaus gerichtet, wie auf ein festes Ziel, selbst wenn sich nicht genau erkennen lässt, was sie anpeilt. Nur selten scheint sie mit den Augen, mit den Händen oder durch Bewegungen des Gesichts direkt mit den Umstehenden zu kommunizieren. Zuweilen huscht allerdings ein Lächeln über ihr Gesicht, und ich merke, wie es ihr gefällt, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Doch scheint sie sichtlich bemüht, sich nicht ablenken zu lassen, so als wolle sie voll konzentriert ihr Werk zu Ende führen.

Erst als sie mit einer Predigt beginnt, wirkt sie informell, in direktem Kontakt mit den Dorfbewohnern. Ihre Predigt zieht jedoch nicht mehr Bewohner an als zuvor. Die Zahl ihrer Begleiter bleibt bis zum Schluss ziemlich konstant, auch wenn es einige Fluktuation gibt. Menschen kommen und gehen. Nicht übermäßig neugierig, scheinen sie vertraut zu sein mit dem, was passiert.

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Einige der Umstehenden scheinen enger mit Ngozi und ihrem Werk verbunden zu sein: Getreue, die sich vielleicht schon lange um sie geschart haben. Andere fühlen sich vielleicht mehr von der Volksfestatmosphäre angezogen. Manche mögen interessiert sein zu sehen, was aus den Häusern ihrer Nachbarn zum Vorschein kommt. Wie selbstverständlich sind in jedem Gehöft irgendwelche Jujus verborgen: keine Sensation, wenn irgendwelche rätselhaften Objekte heraus getragen werden.

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Zurück zur Predigt. Ngozi hatte sich auf dem zentralen Pfad, nicht weit von den Trümmern eines großen Schreins nach einem geeigneten Platz umgesehen. Entschlossen ging sie auf einen x-beliebigen Fleck zu, scharrte und stampfte wie zum Test auf den Boden, blieb stehen und richtete das Wort an die Umstehenden, in Igbo, so dass ich nichts verstand außer einigen eingestreuten Brocken Englisch, meist Elemente ritueller Rede, die sie als Versatzstücke brauchte, um ihren Vortrag zu akzentuieren, und um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen: "Praise the Lord Almighty" – "Amen". Standardisierte Wechselrede, die Kommunikation erleichtert.

Ihr Vortrag ist lebhaft, immer wieder unterbrochen von Sentenzen, Floskeln, Ausrufen. Auf den Effekt bedacht, Scherze, munteres Plappern, auf das die Umstehenden mit Lachen reagieren. Gleichzeitig spüre ich, dass sie zu argumentieren, zu überzeugen versucht, aber ohne große Emphase, ohne den Gestus eines Volkstribuns, ohne religiöse Ekstase oder Verzückung. Entsprechend reagieren die Umstehenden: recht gelassen, mit etwas Heiterkeit, Neugierde, aber nicht wie hypnotisiert oder aufgeputscht. Einige – vom langen Herumziehen erschöpft – haben sich auf den Boden gesetzt.

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Auch während der Reinigungsaktion wirkte Ngozi nicht verzückt, nicht wie in Trance. Einmal jedoch waren drei Frauen unter den Zuschauern vom Geist erfasst (Daniel: "vom Heiligen Geist"). Sie torkelten zwischen den übrigen Zuschauern umher, konnten sich kaum auf den Beinen halten, schienen zu Boden zu fallen, wurden von den Umstehenden zurückgestoßen, wieder aufgerichtet. Alles in allem ließ die Trance erkennen, dass ihre Opfer mit viel Geschick es gerade noch vermeiden konnten, auf den Boden zu fallen und sich zu verletzen. Offenbar war genügend Selbstkontrolle da, um nicht Schaden zu nehmen. Dabei keine Bedenken, heftig zu grimassieren, sich wie spastisch zu bewegen: die Arme krampfhaft an den Körper gepresst, dann wieder in weit ausholenden Bewegungen durch die Luft fuchtelnd. Bei den Zuschauern zuweilen Zeichen der Belustigung.

Gegen Ende drängt mich Daniel, nach Hause aufzubrechen. Ihn hat es ohnehin überrascht, dass ich der Prozession so lange gefolgt bin. Ich bitte ihn festzustellen, wann das Schreine-Zerstören seine Fortsetzung nimmt. Ich würde gern wiederkommen. Nur hat die Prophetin keine festen Dienstzeiten. Am Dienstag, den 21. März, seien die Chancen ganz gut, sie wieder bei der Arbeit anzutreffen. Ich treffe eine Verabredung mit Daniel und biete ihm bereits an, ihm etwas Geld zu zahlen, zum Ausgleich für die Einkünfte aus dem Okada-Geschäft, die ihm verloren gehen könnten, wenn er, statt zu arbeiten, mit mir nach Alor Uno zieht.

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Daniel erzählt mir eine halbe Stunde später, was Ngozi gepredigt hat:

Sie sagte, was sie in dieser Stadt tue, sei der Wille Gottes. Sie werde niemandem Böses tun. Die Leute glaubten, sie sei verrückt, und fragten sich, warum sie sich auf diese Weise kleide (nämlich halbnackt). Aber sie kleide sich so, weil Gott es ihr befohlen habe. Und dazu zitierte sie die Bibel über einen Mann, der in Tierfelle gehüllt war, während er die Menschen taufte. Wenn sie hübsche Kleider anlegte, würde es Verderben über die Menschen bringen.

Gott habe sie gebeten, die Stadt von schlechten Dingen zu reinigen. Sie sei gesandt wie Moses. Bevor Moses seine Aufgabe vollenden und die Israeliten ins gelobte Land bringen konnte, beklagten sie sich, dass er sie in ein Land ohne Wasser führe. Moses sprach zu Gott, und Gott forderte ihn auf, mit seinem Stab auf einen Stein zu schlagen. Da floss Wasser aus der Erde. Aber niemand von ihnen sah das gelobte Land.

Sie [Ngozi] habe kein Haus, keine Kirche. Gott wusste, dass Josef und Maria arm waren, trotzdem sandte er Jesus durch sie. Die Menschen von Alor Uno sollten Gott dankbar sein, dass er ihnen eine Person geschickt habe, die ihnen zeige, wie sie ihn verehren sollen. Gott habe ihre Tochter zu seinem Werkzeug erkoren.

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Es werde eine Zeit kommen, da sie diese Arbeit auch an anderen Orten auszuführen habe. Gott werde ihr befehlen, in die Fremde zu gehen, und sie werde drei Jahre lang abwesend sein. In dieser Zeit werde man munkeln, dass sie gestorben sei, aber sie werde wieder auftauchen. Ohne den Schutz Gottes wäre sie längst gestürzt. Es sei nicht leicht, die Geister zu vertreiben, und dass sie mit ihrer Arbeit so weit gekommen sei, beweise, dass sie es mit der Zustimmung Gottes tue.

Wer ihr folge und sich den Anordnungen Gottes nicht völlig füge, sondern annehme, dass Gott verborgene Dinge nicht wahrnehme, werde eines Tages zur Rechenschaft gezogen. Vor Gott könne sich niemand verstecken.

Jeder [ihrer Zuhörer] möge weiterhin die Kirche besuchen, die er mag, wichtig sei nur, Gott zu dienen. Christus sagte, der allmächtige Gott sei die Wahrheit und das Licht, das zum ewigen Leben führe.

3. Alor Uno, 21. März 95

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Ich hatte mich mit Daniel verabredet. Er wollte gegen 3 Uhr in die Bibliothek der Deutschabteilung kommen, damit wir gemeinsam nach Alor Uno fahren. Nach einer halben Stunde Warten breche ich ohne ihn auf. Sarah, die Kunsthistorikerin aus den USA, die über Uli-Körper-Bemalungen forscht, hat mir versprochen, die Jujus auf dem Marktplatz von Alor Uno mit ihrer Videokamera zu filmen. Als sie erfährt, dass wir ohne Daniel aufbrechen müssen, zeigt sie sich etwas irritiert: Es sei sicher zu provokant, einfach mit den Filmarbeiten zu beginnen.

Auf dem Marktplatz sind wir rasch von einer Menschentraube umringt. Sarah zögert, ihre Kamera aus dem Wagen zu holen. Doch als ich die Dorfbewohner frage, hat niemand Einwände. Sarah drängt jedoch darauf, dass ich die Umstehenden in Gespräche verwickele, damit sie in Ruhe filmen kann. Es gelingt besser als erwartet. Einige Erwachsene sorgen dafür, dass sich die Dorfkinder nicht lästig machen und sich vor die Kamera drängen. Man will wissen, ob ich den Film, den "meine Frau" aufnimmt, später zeigen könne.

Während Sarah 20 Minuten lang filmt, lasse ich mir die jüngsten Ereignisse erzählen. Ein junger Mann [Chuka], den ich bereits bei meinem ersten Besuch kennen gelernt hatte, berichtet mir, dass etwa zehn Tage zuvor ein Überfall stattfand. 15 Männer seien in einem Fahrzeug angereist, bewaffnet mit Äxten, einer Pistole usw. Ihr Ziel sei gewesen, Ngozi zu ermorden. Doch angesichts der Übermacht der Gläubigen mussten sie flüchten, wobei einer von ihnen gefasst und verhört wurde. Dabei stellte sich heraus, dass es sich bei den Angreifern um Studenten [meiner Universität] handelte. Sie seien für 3000 Naira angeheuert worden, die Gläubigen zu attackieren. Auftraggeber waren angeblich Zauberer oder Priester in Alor Uno, die sich durch Ngozi bedroht sahen.

4. Beverly Hills [1], 21. März 95

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Daniel kommt abends vorbei, um sich zu entschuldigen, nachdem er mich am Nachmittag versetzt hatte. Er warnt mich, dass ich mich nicht zu sehr in diese Zauberei einlassen solle. Es sei zu riskant. Werner Kortsch [der vor meiner Zeit an der Universität Nsukka beschäftigt war] wurde das Opfer von Zauberei. Verantwortlich war seine Freundin Grace, eine Urhobo. Sie war eine Zauberin, die ihn durch Liebesmagie an sich band. All die Zauberkniffe hatte sie von ihrer Mutter gelernt. Daniel mag sie nicht und hat Werner vergeblich vor ihr gewarnt. Überhaupt müsse man sich vor diesen Frauen aus Bendel State [westlich vom Igboland] in Acht nehmen.

Victoria [meine Hausangestellte] hatte mir erzählt, dass sie auch zu der Prophetin gehe. Daniel lacht und fragt: Hat sie dir nicht gesagt, dass sie ein Mitglied der Sekte ist? Sie hat sich der Sekte angeschlossen, nachdem ihr Geliebter oder Verlobter gestorben war. Sie litt darunter, dass er sie nachts im Traum verfolgte, und sie bekam Angst, dass irgendwelche Geister sie in den Tod ziehen wollten. Von der Prophetin erhofft sie sich nun Hilfe.

5. Alor Uno, 25. März 95

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Auf dem Marktplatz haben sich seit dem letzten Wochenende viele neue Objekte angehäuft, darunter eine Hand voll Masken. Mein Interesse wird durch ein menschliches Skelett angezogen. Die erste Auskunft: Es seien die Knochen des Schreingründers. Doch der soll schon vor 100 Jahren gestorben sein. Andere versichern daher, es handele sich um die Überreste einer Frau, die vor nicht allzu langer Zeit geopfert wurde.

Ngozi – so wird mir gesagt – ist in einem der umliegenden Dörfer bei der Arbeit. Drei ihrer Anhänger schlagen vor, mit meinem Wagen an den Ort des Geschehens zu fahren. Unter den dreien ist Ugwu, der früher am Music Department [der Universität] gearbeitet hat. Nach seiner Auskunft sind die Bewohner von Alor Uno mit der Säuberungskampagne einverstanden. Neulich hätten sich Bewohner aus allen Dörfern zusammengefunden, um Ngozis Arbeit gutzuheißen. Der ganze Ort leide unter seiner schlechten Reputation, weil er von umliegenden Ortschaften mit Zauberei in Verbindung gebracht werde. In der Region herrsche so viel Misstrauen gegenüber den Bewohnern, dass niemand die Leute von Alor Uno heiraten mag. Die Menschen seien gezwungen, ihre Ehepartner innerhalb der Ortschaft zu finden. Schuld sei vor allen der Schrein von Adoro. Diese Göttin sei besonders gefährlich. Ihr zu Ehren fänden alle vier Jahre Maskenumzüge statt.

Herr Ugwu äußert sich recht vorsichtig zu den traditionellen Igbo-Kulten. Er will sie nicht in Bausch und Bogen verdammen, gibt aber zweierlei zu bedenken:

Alle vier Jahre, wenn die Feiern zu Ehren der Gottheit stattfanden, nutzten Dorfbewohner die Gelegenheit, sich concoctions zubereiten zu lassen. Ich frage nach: "Um andere zu vergiften?" – "Ja." Offenbar sieht Herr Ugwu darin ein Abweichen von der ursprünglichen Form des Kults.

Außerdem passen solche heidnischen Kulte nicht mehr in moderne Zeiten. Er will wissen, ob wir in Deutschland auch gegen Zauberei und heidnische Götter ankämpfen müssen. Ich sage: "Schon lange nicht mehr." Er nickt und sieht seine Ansicht bestätigt.

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Als wir am Einsatzort eintreffen, hält Ngozi gerade eine Predigt. Etwa 200 Personen, viele Kinder eingeschlossen, sind zwischen den Häusern auf einem Platz versammelt. Eine friedliche Atmosphäre: Mütter mit ihren Kindern und Säuglingen, die Dorfjugend reichlich neugierig, im Schatten der Bäume. Von einem der benachbarten Grundstücke schallt leise Disco-Musik herüber und mischt sich mit den Worten der Prophetin, den Hymnen der Gläubigen. Unter einem Baum sind die Jujus zusammengetragen, die man im Laufe des Tages erbeutet hat: wieder einige Krüge aus Ton, Bündel in Stoff eingewickelt und verschnürt, ein imprägnierter oder ausgestopfter Vogel.

Der Vortrag von Ngozi ist wieder häufig unterbrochen von Deklamationen: "Praise the Lord" etc. Sie selber stimmt kurz Hymnen an, die Anwesenden fallen in den Gesang ein und klatschen mit den Händen. In die Rede sind oft Scherze eingeflochten; die Zuhörer lachen. Zuweilen wendet sie sich direkt an einen oder eine ihrer Getreuen, macht Kommentare über ihn oder sie, und die Aufmerksamkeit aller richtet sich für einige Sekunden auf die angesprochene Person. Während ihrer Predigt wandert Ngozi hin und her, nähert sich einigen der Gruppen, schaut einzelne an, dreht sich wieder um. Dann plötzlich, mit entschlossenen Schritten, marschiert sie auf eines der umstehenden Häuser zu, den Eimer mit Weihwasser in der Hand. Die Versammelten springen auf, folgen ihr. Die Arbeit beginnt.

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Bis zur Dämmerung, von 16.30 bis kurz vor 19 Uhr, werden etwa ein Dutzend Häuser ‘gereinigt’. Der Zeremonienmeister mit dem Stock ist diesmal nicht dabei. Aber Ngozi ist vorwiegend von einer Clique Männer umgeben, die auf ihre Kommandos hört. Wenn sie sich einem Haus nähert, umkreist sie es zunächst und besprenkelt es mit Wasser, tritt dann in das Gebäude ein und inspiziert die Räume. Danach gibt sie Anweisungen an ihre Adjutanten. Einer von ihnen hält sich unmittelbar in ihrer Nähe auf und lässt sich Zahlen diktieren, die er auf ein Stück Pappe notiert. Es sind die Nummern biblischer Psalmen. Er übermittelt die Zahlen einigen der Aktivisten: Männern und Frauen, die sich mit Bibeln in der Hand vor das Gebäude stellen und die jeweiligen Bibelpassagen rezitieren. Wechselnde Gruppen von drei, vier, fünf oder sechs Personen postieren sich in 2 bis 3 Meter Abstand vor das zu behandelnde Haus und lesen laut die Psalmen oder andere Bibelstellen, und zwar nicht synchron, sondern für sich, so dass ein schrilles Durcheinander von Stimmen zu hören ist.

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Der Job des Rezitators ist offenbar nicht sehr begehrt. Manche wollen sich drücken, machen sich davon, bevor sie ihren Text zu Ende gelesen haben. Einige der Aufpasser halten sie zurück, veranlassen sie, ihren Text zu Ende zu deklamieren oder, den Anweisungen entsprechend, oft genug zu wiederholen. Eine der Frauen in Weiß weigert sich, das Rezitieren zu übernehmen: "Bete doch selbst". Wer seinen Part fertig gelesen hat, verlässt das Haus ohne auf die anderen zu warten, und läuft der Prozession hinterher. Denn Ngozi hat sich längst anderen Gehöften zugewandt.

Wo immer die Gläubigen hinkommen, gibt es Jujus zu finden. Etwa ein halbes Dutzend Männer dringen entschlossen in die Häuser ein und durchsuchen alle verdächtigen Winkel. Mit routiniertem Blick werden die Eingangstüren untersucht, Türrahmen abgetastet und die Jujus heruntergerissen. Offenbar verlässt man sich nicht auf die Angaben der Bewohner.

Keiner der Hausschreine bleibt verschont. Einige gezielte Schläge mit der Axt, und die kleinen Wellblechdächer sind von den Wänden gelöst. Weitere Schläge, und das Blech löst sich von den Dachlatten. Die Mauern des Schreins werden umgeworfen und in Stücke geschlagen, das Fundament aus gepresster Erde oder Mörtel mit Hacken zerwühlt. Dabei achtet man darauf, die magischen Objekte nicht zu zerstören, sondern unbeschädigt auszugraben.

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Etwa 10 Meter neben einem Haus, außerhalb der Umzäunung, steht ein Gebüsch aus mehreren hohen Bäumen. Für mich sieht es völlig unverdächtig aus, ohne Anzeichen irgendwelcher Objekte, die in den Bäumen platziert wären. Doch Ngozi gibt Anweisung, einige der Bäume zu fällen. Eine langwierige Arbeit. Sie setzt sich währenddessen auf einen der gefällten Baumstämme, ruht sich aus. Ameisen krabbeln in großer Zahl über ihre Haube, dann übers Gesicht. Einer der Männer sieht das, tritt hinzu und wischt ihr die Ameisen mit einem Blätterbündel vom Kopf. Mir wird das Warten zu lang, so dass ich mich entferne und vor einem der Häuser Platz nehme, direkt neben einer 50-jährigen Frau. Sie versucht mir mit einigen Brocken Englisch zu erklären, dass man die Idole zerstört, weil sie gefährlich sind.

Ein junger Mann tritt an mich heran und teilt mir mit: "Sie möchte mit dir sprechen." – "Wer?" – "Unsere Schwester". Ich folge ihm, zurück zu dem Gebüsch, wo Ngozi sich auf den Boden gekauert hat. Sie entschuldigt sich, dass sie während der Arbeit zu beschäftigt gewesen sei, um mich zu begrüßen. Aber sie freue sich, dass ich ihnen helfe, indem ich mich an dem Umzug beteilige. Ein bisschen Verlegenheit auf ihrer Seite. Neben ihr sitzt ein Mann, der sich als Johnson vorstellt. Ich solle auch meinen Namen nennen. Ob ich zu Besuch sei und meinen Leuten erzählen wolle, was in Nigeria geschieht?

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Ich sage, dass ich in der Nähe wohne und auf dem Campus arbeite. Ngozi stellt sich mit ihrem Namen vor und erklärt, dass ihr Name 'die Gesegnete' bedeutet. Alle zusammen seien Brüder und Schwestern. Ich solle mich an ihrer Arbeit beteiligen und mithelfen, die gesammelten Objekte davonzutragen. Ich könne sie ruhig anfassen, sie seien nicht länger gefährlich. Ich nicke zögernd, ohne eine definitive Antwort zu geben. Wir bleiben noch einige Minuten nebeneinander sitzen, ohne zu sprechen. Dann springt sie auf und läuft auf eines der Nachbargrundstücke zu.

Ihre Anhänger hatten neugierig beobachtet, wie Ngozi sich mir gegenüber verhielt. Die Beziehung zu mir wird natürlich durch sie definiert. Doch unter den Augenzeugen befanden sich nur erwachsene Männer. Kinder und Frauen wurden davon gescheucht, als sie sich dem Gebüsch nähern wollten.

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Wenig später gelangen wir in ein Gehöft aus drei Häusern, die einen schmalen Hof bilden. Die Bewohner sind mit ihrem Haushalt beschäftigt. Feuer brennt; auf dem Boden sind Früchte ausgebreitet. Mit dem Besitzer kommt es zu einem erregten Wortwechsel. Er schreit auf Ngozi ein, folgt ihr drei, vier Schritte. Sie dreht sich um und schleudert ihm, nur einen halben Meter von ihm entfernt, Wasser ins Gesicht. Er ist versucht zurückzuschlagen, doch sind beide von den Sektenmitgliedern umringt. Deshalb besinnt er sich, hält sich mit Mühe zurück. Auch auf der Gegenseite zeigt sich Bereitschaft zur Gewalt. Wenigstens einer von Ngozis Anhängern hat nicht übel Lust, auf den Besitzer des Anwesens einzuschlagen. Andere hingegen drängen sich dazwischen und verhindern eine Eskalation.

Es wird allmählich dunkel, und ich frage einen der Umstehenden, ob es nicht zu spät sei, um noch Jujus zu entdecken. Er stimmt mir zu, meint aber, dass nur noch zwei Häuser zu säubern seien. Den Beteiligten scheint also klar zu sein, was auf dem Programm steht. Von den 31 Dörfern in Alor Uni seien 17 bereits gesäubert. Mit den restlichen 14 müsse man sich beeilen.

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Nach getaner Arbeit sammelt man sich wieder auf dem Platz, wo die Jujus zusammengestellt wurden. Ngozi belässt es bei einer kurzen Ansprache. Im Unterschied zu früheren Reden sind nun zwei, drei Sätze komplett auf Englisch zu hören, offenbar an mich adressiert: Am 28. April finde ein großes Fest statt, und wir sollen dazu unsere Freunde einladen.

Als es darum geht, die erbeuteten Objekte zum Marktplatz zu tragen, fordern mich einige der Umstehenden auf, mit Hand anzulegen. Doch ich rede mich heraus: Ich könne mich ihrem Zug nicht anschließen, da ich mit dem Auto zurückfahren müsse. Drei Männer steigen mit mir ins Auto. Auf dem kurzen Weg zum Markt erfahre ich, dass sie noch eine lange Nacht vor sich haben. Mittwochs und samstags gebe es um 9 Uhr Abendgebete, später Mitternachtsgebete, und auch am frühen Morgen versammele man sich zum Gebet.

6. Beverly Hills, 1. April 95

Gespräch mit Daniel.

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Der Schrein in Alor Uno gehört der Göttin Adoro, die in der ganzen Gegend gefürchtet ist. Aus Angst vor Adoro meiden die Menschen engeren Kontakt mit den Einwohnern von Alor Uno. Sie heiraten nicht deren Frauen, ja sie nehmen sich nicht einmal Freundinnen von dort. Wenn du eine Freundin aus Alor Uno hättest und du würdest ihr etwas Böses antun, würde der Schrein Rache nehmen. Oder wenn du sie schwängerst, könntest du keine Abtreibung arrangieren, denn du würdest damit jemanden töten, der Adoro gehört. Der Schrein würde dich irgendwann strafen. Etwa wenn du später eine andere Frau heiratest, würde er dein Kind umbringen, als Vergeltung für jenes Kind, das du Adoro geraubt hast.

Probleme gibt es auch, wenn du eine Frau aus Alor Uno heiratest und sie in irgendeine entlegene Stadt mitnimmst. Denn wenn sie dort stirbt, musst du den Leichnam zurück nach Alor Uno bringen, damit er dort bestattet wird. Würdest du deine Frau in London oder Lagos beisetzen, würde die Erde, in der sie ruht, Adoro gehören, und die Göttin könnte deine Angehörigen töten. Du müsstest dann die Leiche exhumieren und sie dort hinbringen, wo sie hingehört. Frauen aus Alor Uno versuchen deshalb zu verbergen, wo sie herkommen. Sie behaupten einfach, sie kämen aus Nsukka.

Über eine Stadt im Yorubaland wird erzählt: Wenn dort ein hoher Würdenträger stirbt und beerdigt wird, entführen die Bewohner einen Fremden und begraben ihn zusammen mit der Leiche. Einmal haben sie jemanden aus Alor Uno mit ins Grab gelegt, aber der Adoro-Schrein schlug zurück und tötete viele von diesen Yoruba. Seitdem fragen die Yoruba, wo ihr Opfer herkommt, und wenn sie Nsukka hören, rennen sie davon. Es ist eine wahre Geschichte.

Die Bewohner meiner Stadt haben früher einmal einen Eid geschworen, kein Land zu verkaufen, damit sich keine Fremden unter ihnen ausbreiten. Zu der Eidzeremonie wurde der Hauptpriester von Alor Uno gerufen, und ein prominenter Bürger legte im Namen unserer Stadt das Gelübde ab. Nach seinem Tod reklamierte Adoro den Leichnam, denn der Mann hatte seinen Eid gebrochen. Schon bevor Adoro ihn tötete, hatte sie Zeichen gesandt, dass sie ihn töten wird. Eines dieser Zeichen ist, dass der Körper der todgeweihten Person anschwillt und immer dicker wird.

Ein Mann aus Ovoko hat einmal einen Händler aus Alor Uno ausgeraubt. Später wurde er verrückt, und Adoro verlangte all sein Eigentum.

(Wie kann Adoro Anspuch auf das Eigentum erheben? Durch seine Priester?) – Ja. Die Familie des Opfers konsultiert einen Wahrsager, um den Grund für ihr Unglück zu erfahren, und dann wendet sie sich an einen Priester in Alor Uno, um Adoro zu beschwichtigen, denn sonst würde das Verhängnis weitergehen. Der Priester reklamiert dann diesen oder jenen Besitz, und das ist der Grund, warum du unter den Jujus auf dem Marktplatz von Alor Uno so viele andere Dinge siehst: Fahrräder, Motorräder, Kleider usw. Außerdem werden manche Frauen dem Schrein übereignet und werden zu Sklavinnen.

Ich habe gehört, dass ein Europäer von Ngozi die Jujus kaufen will, die sie eingesammelt hat, für eine Million Dollar. Vielleicht wurde dieses Gerücht nur in Umlauf gesetzt, um Ngozi zu diskreditieren.

7. Alor Uno, 15. April 95

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Karsamstag. Ich bin in der Erwartung hingefahren, dass es Vorbereitungen für das Osterfest geben könnte. Als ich abends, kurz vor 6, eintreffe, sehe ich auf dem Marktplatz wieder meinen Bekannten [Chuka]. Er informiert mich, dass Sister [Ngozi] nicht bei der Arbeit sei, sondern ganz in der Nähe bei den Oster-Vorbereitungen. Wir betreten ein Gehöft, gleich neben dem Markt, das von hohen Mauern umgeben ist. Auf dem geräumigen Gelände vor dem Haus sind Ngozis Anhänger versammelt: weniger als bei den Prozessionen, anfangs vielleicht 50.

Ngozi sitzt im Sand und erzählt oder predigt. Wie bei der ersten Begegnung trägt sie nur eine weite, weiße Haube, dazu BH und Unterrock. Beides ursprünglich weiß, aber reichlich staubig und beschmutzt. Als ich näher hinzutrete, bemerke ich, dass ihr Gesicht entstellt ist. Unter dem linken Auge und der Nase zeigen sich schwarz verschorfte Wunden. Mein Begleiter erklärt, dass Ngozi attackiert wurde, als sie in Alor Agu, einer Siedlung die zu Alor Uno gehört, aber in einem anderen Landkreis gelegen ist, einen Besuch abstattete. Sie war nur von wenigen Frauen begleitet. ‘Heiden’ attackierten sie, angeblich ohne Grund, schlugen mit Stöcken auf sie ein, bis sie das Bewusstsein verlor. In ihrer Predigt nimmt sie auf den Vorfall Bezug und erzählt, was geschehen ist (so erklärt mir mein Begleiter). Nachdem sie mich bemerkt hat, berichtet sie die Episode auch in gebrochenem Englisch. "We came to Alor Agu and they attacked without any reasons. I thought, I die. But I was rescued. It was not by my own power, but by the power of ..." Und die Anwesenden ergänzen im Chor: "God".

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Ngozi stürmt mit entschlossenen Schritten aus dem Hof, aber nur 50 Meter weit, bis auf den oberen Teil des Marktplatzes. Es ist ein offener Sandplatz, 100 bis 200 Meter lang, von einigen Lehmhäusern umstanden, mit hohen Palmen und Bäumen ringsherum. Während an der Straße, für jeden Vorbeiziehenden sichtbar, die Jujus aufgestellt sind, finden auf dem oberen Teil des Platzes Bauarbeiten statt. Eine Lage Hohlblocksteine, im Karree gemauert, zeigt den Grundriss eines Gebäudes. Hier soll ein Hospital entstehen – oder, wie sich mein Begleiter schnell korrigiert – ein Zentrum für Geistheilungen. Die Patienten sollen in dem neu entstehenden Gebäude wohnen.

Auf dem oberen Teil des Platzes versammeln sich nun in der Dämmerung die Menschen um Ngozi. Als ich mich hinzugesellen will, weist man mich zurecht: Dieser Platz sei die Mission. Ich solle mir, wie alle anderen, die Schuhe ausziehen.

[In Ngozis Auftreten] ist viel Erotisches im Spiel: eine junge, leicht bekleidete Frau, im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, der Magnet bewundernder Blicke. Viele junge Männer hängen mit ihren Augen gebannt an der strahlenden Erscheinung. Und Ngozi genießt es ganz offensichtlich. Mit viel Koketterie und strahlendem Lächeln sucht sie die Umgebenden zu unterhalten, wirbt um ihre Aufmerksamkeit. Sehr körperbetontes Sprechen, mit lebhaften Gesten, Spreizen der Beine, Wiegen des Körpers.

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Im Vergleich zu ihr sind alle anderen Frauen züchtig gekleidet. Dennoch lassen sich auch bei ihnen leicht erotische Spielerei beobachten. Da ich nicht gleich Lust hatte, meine Schuhe auszuziehen, sitze ich zunächst abseits, an eine Mauer gelehnt. Etwa 10 Meter vor mir wälzt sich eine Frauengestalt auf dem Boden, rollt ganz unvermutet von dem planierten Platz zu mir herab. Ein Mann springt dazwischen, um zu verhindern, dass sie gegen die Mauer rollt. Später kann ich erkennen, dass es sich um eine junge Frau handelt, mit langem, weißem Rock, roter Bluse mit weißem Kragen. Die Frau verhält sich exzentrischer als alle anderen. Sie rennt auf dem Platz herum, meist im Bogen um die Versammelten. Dabei brabbelt sie laut vor sich hin: eine Art Zungenreden, in stark rhythmisierten Silben, die sich mit leichten Modifikationen ständig wiederholen. Leider kann ich nicht sagen, ob es ein stark ritualisiertes Igbo ist. Eher eine Phantasiesprache. Später, in einer Art Trance, hört man von ihr eine Mischung aus Weinen und Stöhnen. Für mein Empfinden ziemlich anstößig, doch Ngozis Anhänger stören sich nicht daran. Niemand greift ein, obwohl ihr lärmiges Auftreten die Anwesenden hindert, den Worten Ngozis zu folgen.

Zwei Meter neben mir (ich sitze inzwischen barfuß auf einer Bank unter den Gläubigen) sitzt ein stämmiger Bursche, kahl rasiert. Die Frau nähert sich ihm, hält ihre rechte Hand flach über seinen Kopf, umfasst den Kopf und windet sich in kreisenden Bewegungen um den Mann. Der Mann stößt sie nicht zurück, sondern kniet auf den Boden nieder. Ihre Hand ruht immer noch auf seinem Kopf, während sie ihn umkreist, dabei seinen Körper streift. Dasselbe Schauspiel wiederholt sie gleich darauf mit einem anderen Mann, schließlich mit einem dritten. Jedes Mal knien die Beteiligten nieder, so als würden sie von ihr Inspiration oder den Segen Gottes empfangen. Bei einem der Männer hält sie im Lauf inne, umkreist ihn nicht mehr, sondern stellt sich hinter ihn, ihm den Rücken zugewandt. Und da er kniet und sie steht, berührt sie mit ihrem Hintern seine Schultern. Sie dehnt die Arme nach hinten, fasst seine Schultern und drückt sie fest an ihren Po und die Schenkel. Ich frage mich, ob sie sich unter normalen Umständen ebenso in aller Öffentlichkeit an ihm vergreifen dürfte. Ihre Ekstase gibt ihr offenbar die Lizenz, sich nach Belieben Männer herauszusuchen.

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Es ist erstaunlich, wie Ngozi so viele Menschen stundenlang an sich binden kann, und das offenbar Abend für Abend. Sie hat nichts als ihre Stimme und ihren Körper. Doch damit inszeniert sie ein abwechslungsreiches Programm: Tanzen, Singen, Niederknien, Zungenreden ... Irgendwann kommt die Order, uns alle umzudrehen, Richtung Vollmond. Dann wieder zurück in die alte Richtung. Kurz darauf stürmt Ngozi mit ihrem Gefolge Richtung Straße. Ich springe in die entgegengesetzte Richtung, um meine Schuhe zu holen. Doch als ich ihnen folgen will, kommen mir Ngozis Leute wieder entgegen. Auf dem Gebetsplatz angekommen, drehen sie wieder um, laufen im Joggingtempo zur Straße. Ich entdecke wieder meinen Begleiter vom Anfang und schaue ihn irritiert an: "Du siehst, wir arbeiten mit dem Heiligen Geist. Ngozi gab Anweisung, drei Mal hin und her zu laufen. Ich weiß nicht warum."

Ein Mann mittleren Alters, der sich als ein Cousin von Herrn Ugwu zu erkennen gibt, begrüßt mich mit übertriebener Höflichkeit: Er fühle sich durch mein Interesse geschmeichelt. Falls ich mit Ngozi sprechen wolle, könne er das arrangieren. Er sei ihr Public Relations Officer. Noch heute Abend werde er mit ihr reden, und dann ließe sich ein Termin vereinbaren. Ich höre etwas widerwillig zu, reagiere nicht sonderlich enthusiastisch auf sein Angebot, vor allem, weil mir sein affektiertes Verhalten auf den Wecker geht. Er spricht gutes Englisch, bemüht sich dabei um eine westliche Aussprache (britisch oder amerikanisch – ich weiß nicht genau, was ihm da vorschwebt). Bei mir stellt sich gleich das Gefühl ein, dass dem Burschen nicht zu trauen ist. Als ich nicht auf sein Angebot eingehe, drängt er darauf, dass ich mich am nächsten Tag wieder einfinde, um mit Ngozi zu sprechen. Offenbar geht es darum zu klären, was ich von ihnen wolle.

8. Alor Uno, 17. April 95

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Als ich gegen 16 Uhr am Marktplatz eintreffe, sehe ich wieder ein Dutzend Schaulustige. Neugierige reisen in Autos an, um die idols zu besichtigen. Mein Begleiter Chuka hat sich wieder eingestellt. Wir plaudern mit einigen der Besucher. Ein etwa 30-jähriger Mann mit rotem Fes versichert, dass er noch nie eine solche Anhäufung von idols gesehen habe. In ganz Enugu State [dem Bundesland, in dem Alor Uno gelegen ist] gebe es nichts Vergleichbares. Chuka versichert ihm: "Es ist ein Wunder."

Wir mustern zusammen einige der Objekte. Chuka weist mich auf ein Juju hin: ein Stück Holz, an dessen Mitte ein schwarzer Klumpen undefinierbaren Materials befestigt ist. Zauberer benutzten dieses Objekt, indem sie eine Kolanuss darauf legten, dann einen eisernen Gong zur Hand nahmen und drei Mal dagegen schlugen. Sie nannten daraufhin den Namen ihres Opfers, das in diesem Moment weit entfernt sein konnte, mit dem Effekt, dass das Opfer Schaden nahm, krank wurde oder sogar starb. Während Chuka den Zauber erklärt, greift er den Gong und hält ihn uns unter die Nase. Der Herr mit dem roten Fes macht keine Anstalten, das Objekt anzurühren. Chuka erklärt, dass der ganze Juju-Haufen seine Gefährlichkeit eingebüßt habe. Zwei, drei Umstehende bleiben skeptisch. Man könne es nur annehmen, aber nicht genau wissen. All das Zeug mag noch "giftig" sein. Chuka nickt und berichtet, dass bereits drei Hunde gestorben seien, die an den Substanzen geschnuppert hatten. Einer deutet mit der Hand auf ein offenes Gefäß mit einem schwärzlichen Pulver: Das könne leicht Gift sein. Die Besucher sind sich einig: Wenn die Regenzeit beginnt und die Substanzen sich in Wind und Wetter auflösen, wollten sie sich nicht mehr daneben stellen. Vielleicht sei es bereits gefährlich, die Dämpfe einzuatmen. (Es stinkt alles modrig, ein übler Verwesungsgeruch.) Der Mann mit dem Fes hält die Säuberungsaktion anscheinend für sinnvoll, bleibt allerdings skeptisch, was den langfristigen Erfolg betrifft. "Ich glaube nicht, dass die Sache damit zu Ende ist."

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Ein anderer Besucher stellt sich als Mitarbeiter der Universität heraus. Er arbeitet in der Bibliothek und hat mich dort schon gesehen. Nach Alor Uno zu den Jujus hat es ihn aus Neugierde getrieben. Er stammt aus einer Nachbargemeinde, in der es ebenfalls Probleme mit Zauberern gibt. Dort ist eine Prophetin ansässig, die aus Anambra stammt [einem benachbarten Bundesstaat, in dem ebenfalls Igbo leben]. Damit sie die Haushalte von den Jujus befreit, muss ihr der Auftraggeber 15.000 Naira zahlen [umgerechnet 150 Euro]. Vorher fängt sie nicht an zu beten. Ich frage, warum sie den Leuten nicht von sich aus hilft. – Sie wisse, wie sie sich selbst helfen könne. Ngozi dagegen mache es kostenlos.

("Warum hält man sich nicht an katholische Priester, statt so viel Geld zu zahlen?") – Mit katholischen Geistlichen gebe es zwei Probleme: Vielen fehle die Kraft, es mit den Zauberern aufzunehmen. Das richtige Vorgehen könne man nicht lernen, man brauche, so wie Ngozi, Inspiration. Außerdem seien die Priester oft zu arrogant, so dass sie sich nicht um die Sorgen der einfachen Leute kümmerten. Ngozi dagegen sei nicht an Geld interessiert. Sie suche keine reiche Kundschaft. Deshalb laufe sie in schmutzigen Kleidern herum. Ihre ‘Mission’ ist allerdings eine Art Pilgerstätte für diverse Kunden. Gerade neulich habe der Sohn eines Universitätsdozenten vorgesprochen. Sein Vater sei schwer krank, er brauche Ngozis Hilfe. (Bereits am 15. April hatte ich erfahren, dass fünf Studenten Ngozi besucht hatten. Chuka hatte dem Gespräch nicht beigewohnt, doch er vermutete, dass die Studenten wegen der bevorstehenden Examen Hilfe benötigten.)

Kurz vor meiner Abfahrt, in der Dämmerung, als Chuka zum Gebet in die Mission gegangen ist, erfahre ich noch einige weitere Details über die Besucher, und zwar von Chijioke Ogbu (einem Bruder Ngozis: derselbe Vater, dieselbe Mutter) und von einem ziemlich hellhäutigen Dorfbewohner [Frederic], mit graublauen Augen, der sich ebenfalls als ein Bruder Ngozis vorstellt: "Wir sind vom selben Clan". Sie berichten, dass Leute aus Onitsha, sogar aus Lagos anreisen. Gestern sei die First Lady aus Gongola State zu Besuch gekommen. Sie will am Mittwoch den 19. April wiederkommen.

Später fragt mich der Hellhäutige mit mühsam kaschierter Feindseligkeit nach meinen Interessen: Ob ich über die Mission forschen wolle? Als ich meine Position erwähne: ‘Senior Lecturer’, versetzt er, dass ich sicher bald Professor werde. Wenn ich die Mission besuche, werde ich schnell befördert werden. Es kämen viele Polizei- und Militärangehörige zu Ngozi, in der Hoffnung, rasch befördert zu werden. Etwas irritiert versichere ich, dass ich an diese Art Hilfe nicht gedacht habe. Mich interessierten vielmehr die vielen Jujus. Ich hätte so etwas nie öffentlich ausgestellt gesehen. In Deutschland gebe es keine Jujus, und auch keine Hexen. Meine beiden Gesprächspartner zeigen sich überrascht: Sie hatten angenommen, dass die Weißen besonders wirkungsvolle Unterstützung von Hexern bekommen: "Die Weißen haben einen besonderen Verstand. Sie sind weiter entwickelt als wir." Nur dank der vielen Hexer seien sie in der Lage, all ihre Wunderwerke zu vollbringen. Die Nigerbrücke in Onitsha sei von Weißen gebaut, denn sie wüssten, wie man in das Wasser hinabtaucht und die Stahlkonstruktion befestigt.

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Ich bin nicht ganz sicher, ob die Erklärung ernst gemeint ist. Vorgetragen wie ein Kompliment, in bewunderndem Tonfall, doch dahinter lauert viel Aggressivität, die mich verdrießlich macht. Ich erkläre, dass die Weißen einfach nur eine bessere Ausbildung besäßen. Aber der Hellhäutige insistiert: "They have a different brain. Haven’t you heard of Apartheid?" Und dann erklärt er mir, dass sich die Weißen von den Schwarzen abgrenzen, und zu dieser Strategie gehöre, dass sie sich durch ihre Hexer Überlegenheit verschaffen.

9. Alor Uno, 17. April 95

Gespräch mit Chuka.

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Ein Teil des Gesprächs findet vor der Juju-Ausstellung statt, in Gesellschaft von anderen Schaulustigen. Nach einer dreiviertel Stunde gehen wir zum Haus seiner Familie, und hier dreht sich das Gespräch mehr um seine privaten Erlebnisse. Ich erfahre erst jetzt seinen Namen. Ngozi ist seine Cousine. Beide haben väterlicherseits denselben Großvater, dieselbe Großmutter.

Chuka wiederholt zunächst seine Leidensgeschichte: Zauberer im Ort hatten dafür gesorgt, dass Geister in ihn eingedrungen waren. Diese Geister gaben sich in Träumen zu erkennen. Im Grunde gab es nur einen Namen für sie: Luzifer. Doch im Gespräch mit ihm hatten sie verschiedene Namen genannt. Einer zum Beispiel hieß ‘Red Moon’.

("Konnte er die Geister nur im Schlaf sehen?") – Nein. Visionen stellten sich auch ein, wenn er mit geschlossenen Augen dämmerte. Der Eingriff der Geister war eine Aggression. Neben den Bauchschmerzen (von denen ich schon bei unserer ersten Begegnung gehört hatte) litt er zum Beispiel unter Kreuzschmerzen. Ein heftiger Schmerz. Er fühlte sich wie ein alter Mann. Ärzte im Hospital versicherten ihm nach einer gründlichen Untersuchung mit Blut- und Stuhlproben, dass sich keine Krankheit finden lasse. Die Geister hatten ihn, sobald er das Krankenhaus betrat, verlassen. Doch sowie er sich auf den Rückweg machte, drangen die Geister wieder in seinen Körper ein. Noch bevor er das Haus erreichte, konnte er sie spüren, und er litt wieder unter den Schmerzen.

("Hätten die Ärzte im Hospital die Geister feststellen können?") – Einige der Ärzte kennen sich mit Geistern aus, zum Beispiel Ärzte, die in Indien studiert haben.

("Wussten die Geister, dass Ärzte im Hospital ihre Gegenwart entdecken konnten?") – Anscheinend ja. Die Geister sind von missgünstigen Menschen auf ihn gehetzt worden. Chuka gibt ein Beispiel: Von 1991 bis 1993 lebte er in Onitsha und verdiente sein Geld zunächst in einer Werkstatt. Seine Arbeit bestand darin, Reifen und Schläuche zu reparieren. Der Ärger begann, als er sich ein eigenes Schweißgerät kaufte. Damit erregte er die Missgunst seines Chefs. Der Chef sagte ihm, dass er es nicht schätze, ihn mit eigenem Schweißgerät zu sehen. Eines Tages werde Chuka viel Geld verdienen und eine eigene Werkstatt haben. Der Chef war ein reicher Mann, hatte sechzehn Leute für sich arbeiten. Sein Bruder, ebenfalls ein Gauner, machte in Deutschland Geschäfte. Aus Missgunst konsultierte der Chef einen Zauberer. Chuka litt unter Schmerzen, kannte aber die Ursache nicht. Er konsultierte Kräuterdoktoren, Krankenhäuser und christliche Missionen. Es gelang ihm, den Schaden abzuwenden. Sein Chef bekam den Eindruck, dass Chuka einen stärkeren Zauberer gefunden habe. Voller Sorge legte er schließlich ein Bekenntnis ab und entdeckte ihm, dass er Zauber gegen ihn benutzt hatte. Fast zwei Jahre brachte Chuka in einer Mission in Onitsha zu, um geheilt zu werden. Mit dem Job in Onitsha hatte er kein Glück, so dass er zur Familie zurückkehrte.

("Hat er jetzt eine Arbeit?") – Er sei ein kranker Mann. Er und andere Männer im Dorf müssten sich erst von der Bedrohung durch Geister befreien, bevor sie wieder an business denken können. Seine Geschäfte hätten stagniert, weil er unter den Zauberern zu leiden hatte. Alle im Dorf hofften, dass sie sich vom Heidentum lösen können, um dann erfolgreich im Geschäftsleben zu sein. Alor Uno sei rückständig, weil das Heidentum Fortschritt verhindere. Es gebe keinen einzigen reichen Mann im Ort. Er deutet auf einen etwas besser gekleideten jungen Mann auf einem roten Moped: ein Geschäftsmann. Aber sein Geschäft prosperiere nicht, weil ein Zauber gegen ihn verhängt worden sei. Einige Leute wollten nicht, dass er Erfolg habe.

Mir wird ein anderer Mann auf der Straße gezeigt, ebenfalls ein Opfer. Sein Onkel – der jüngere Bruder des verstorbenen Vaters – habe zu ihm gesagt: Es wäre besser für dich, wenn du nie geboren worden wärest. Auch dieser junge Mann finde keine Arbeit. (Ich entdecke ihn später unter den Anhängern der Prophetin.) Alor Uno habe im Prinzip Geld, aber es werde für andere Zwecke verschwendet. Und Chuka deutet auf die Jujus, die viel Geld kosten. Alor Uno habe nicht einmal Elektrizität, obwohl eine Stromleitung deutlich sichtbar mitten durch den Ort läuft. Die Gemeinde müsste sich nur zusammentun und einen Transformator kaufen. Aber dafür finden sich nicht die Mittel.

Chukas Vater besaß zum Beispiel besaß zwei Autos und fünf Mühlen [um Mais zu mahlen]. Davon ist ihnen nur eine geblieben, und selbst die funktioniert nicht mehr richtig. Die Schwester, die neben uns sitzt, lernt hart und würde gerne die Sekundarschule besuchen. Aber es klappt nicht. Dem ganzen Ort fehlt es an Erziehung. Einige Leute aus Alor Uno arbeiten zwar auf dem Campus, doch meist nur als Putzpersonal.

10. Alor Uno, 19. April 95

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Wie mit Ngozis Bruder abgesprochen, treffe ich abends am Marktplatz ein. Eine stockfinstere Nacht. Kein Mond. Im Ort keine Elektrizität. Im Scheinwerferlicht glaube ich jedoch zu erkennen, dass die Jujus von ihrem Ausstellungsplatz verschwunden sind. Später wird mir beiläufig erzählt, man habe den Haufen am Dienstag, den 18. April, und zum Teil noch am heutigen Mittwoch abgebrannt. Ich hatte gehofft, Ngozi würde sich mit dem Verbrennen bis zum 28. April Zeit lassen. Nun sind viele Objekte unwiderruflich zerstört, ohne dass ich Gelegenheit hatte, sie zu filmen.

Ngozis Bruder begrüßt mich und rät mir, den Wagen nicht auf der Dorfstraße stehen zu lassen. Ich solle ihn besser gleich neben der Mission parken. Während wir zusammen zum Wagen laufen, erkundige ich mich, warum die Objekte bereits jetzt zerstört wurden. Die Antwort ist überraschend prosaisch: wegen dem Fest am 28. April. Man brauche Platz für die Autos der Besucher, damit sie parken können.

Auf dem Gebetsplatz ist kaum jemand zu sehen. Ich gehe deshalb direkt auf das Gehöft zu, in dem Ngozi zu residieren scheint. Ich werde ins Haus hinein gewunken. Der Weg führt in einen sehr weitläufigen Hof, 500 bis 1000 Quadratmeter groß, von einstöckigen Gebäuden umgeben. Ganz offensichtlich gehört der Komplex einem vermögenden Mann. Man hört einen Stromgenerator dröhnen. Im Hof und in einigen Räumen leuchten Neonröhren; Ventilatoren kreisen und sorgen für ein nervös flackerndes Licht. Einige der Fenster sind mit Aluminiumrahmen und großflächigen Glasscheiben versehen: ein Zeichen von Reichtum.

Ngozi hat sich in eines der Zimmer zurückgezogen. Im Hof ist allerdings viel Leben; keine vornehme Ruhe, sondern lärmige Geschäftigkeit. Etwa 40 Personen, Kinder inklusive, kauern vor den Zimmern. Ein ständiges Kommen und Gehen. Man verschafft mir etwas Platz auf einer Holzbank, und es dauert keine fünf Minuten, bis mir zwei Teller mit Essen angeboten werden: Gari und eine rötliche Sauce, ohne Fleisch. Etwas glibbrig durch Okras und crayfish. Arme-Leute-Essen. Junge Frauen, mit ihren Hauben wie Krankenschwestern, eilen hin und her, um Essen zu bringen. Eine öffentliche Speisung aus der Gemeinschaftsküche. Mir wird außerdem Wasser angeboten. Aber ich lehne dankend ab. Kaum habe ich die Plastiktasse zurückgewiesen, kommt die nächste sister, um mir Wasser darzubieten. Ob es sich um geweihtes Wasser handelt? Es wird aus einem weißen Eimer geschöpft, der einsam und allein in der Mitte des Hofes steht.

Nach dem Essen zerstreuen sich die Menschen langsam. Außerdem ergreift einer die Initiative und verscheucht die Kinder aus dem Hof. Es wird merklich ruhiger. Angesichts des Lärms hatte ich mich schon gefragt, wie man in dieser Umgebung einen klaren Gedanken fassen will. Meditieren? Bibel lesen? Auf der anderen Seite scheinen die Menschen das Gemeinschaftsleben zu genießen. Wann sonst hatten sie die Gelegenheit, sich in so großer Zahl zu versammeln, abgesehen von den sonntäglichen Messen? Durch Ngozis Mission ist ihnen ein Zentrum gegeben, in dem ständig, Tag und Nacht, Brüder und Schwestern versammelt sind.

Nachdem es in Ngozis Residenz still geworden ist, trete ich wieder auf den Marktplatz hinaus. Im Schein einer Fackel erkenne ich schemenhafte Gestalten, die meisten von ihnen auf den Mauern sitzend, aus denen das Heilerzentrum entstehen soll. Keine Musik, keine lauten Gebete, nur Plauderei. Ich setze mich wieder etwas abseits, lehne mich an eine Mauer, starre auf den Sternenhimmel und die Palmen, hoffe auf den Mondaufgang. Mir ist unklar, ob ich noch zu Ngozi gerufen werde. Gegen 9.30 Uhr ist es soweit. Ihr Bruder teilt mir mit, dass Ngozi mich erwartet. Wir betreten wieder ihre Residenz. Diesmal ist das schwere Eisentor verriegelt. Eine Art Türsteher öffnet uns. Im Innenhof ist es ziemlich still. Der Bruder rückt mir eine Holzbank zurecht, und wir warten beide. Es erscheint ein junger Mann, der offenbar für Ngozi die Botengänge erledigt: Ich solle mich etwas gedulden. Nach ein paar Minuten kehrt er zurück, überreicht mir fünf Einladungskarten für das Fest am 28. April. Es ist 22.20 Uhr, als der Bote wieder erscheint und mir einen Zettel überreicht: Leider könne mich Sister nicht mehr empfangen.

11. Beverly Hills, 20. April 95

Gespräch mit Daniel.

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Er gab mir einige Hinweise, wie ich mich am 28. April bei dem ‘Thanksgiving Feast’ verhalten soll. Mir könne passieren, dass ich zu den Ehrengästen gezählt und an dem high table plaziert werde. Als Geschenk genüge ein Briefumschlag mit 200 Naira [etwa zwei Euro]. Als Autobesitzer werde von mir ein solider Betrag erwartet. Wahrscheinlich werde ich niederknien müssen und beten. Ngozi dürfte mir dann die Hand auflegen und mich segnen. Anschließend müsse ich von einem Wunder erzählen, das Gott an mir veranstaltet habe.

Neben den Attacken gegen das Heidentum ist Ngozi auch mit Wunderheilungen und anderen Dienstleistungen befasst. Als ich erzähle, dass einer der Gläubigen annahm, ich wolle durch meine Kontakte zu Ngozi befördert werden und schnell zum Professor aufsteigen, berichtet Daniel von einem Gerücht. Es handelt von einem Polizisten, den er persönlich kennt, mit dem er aber nicht direkt über die Geschichte gesprochen hat. Der Polizist tat seinen Dienst in Onitsha, wurde aber vom Dienst suspendiert, weil er etwas Übles angestellt hatte. Wegen dieser misslichen Lage schloss er sich der ‘Kirche’ in Alor Uno an. Im Gespräch mit Ngozi erbat er Hilfe, und sie gab ihm folgenden Rat: Er solle nach Onitsha gehen und mit seinen Vorgesetzten essen. Nach dem Essen solle er sich die Hände waschen, sie aber nicht mit einem Tuch abtrocknen, sondern warten, bis sie von allein getrocknet sind. Sodann solle er das Wasser, in dem sich die anderen die Hände gewaschen haben, nach Alor Uno bringen. Es ist nicht bekannt, was Ngozi mit dem Wasser anstellte. Der Polizist jedenfalls fand wieder Anstellung bei der Polizei und wurde sogar befördert.

12. Alor Uno, 28. April 95

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Das ‘Thanksgiving’-Fest sollte um 9 Uhr morgens beginnen. Als ich kurz nach 10 eintreffe, sind weniger Menschen versammelt, als ich dachte: vielleicht 200 Dorfbewohner. Von den auswärtigen Gästen ist niemand zu sehen. Jedenfalls ist nur eine einzige Limousine auf dem Marktplatz geparkt, kein repräsentativer Mercedes, nur ein kleiner Mitsubishi.

Die Szenerie ist ähnlich wie bei einer Hochzeit. Um den Sandplatz herum sind links einige Markisen aufgebaut, als Sonnenschutz. Darunter Plastikstühle. Auf der rechten Seite Plastikstühle unter freiem Himmel, dazu Holzbänke. In der Mitte eine Art Podest, mit weißem Stoff überzogen, altarartig. Erst später erkenne ich, dass es sich um mehrere Schichten Hohlblocksteine handelt, vielleicht eine Spende, um den Bau des health centres fortzuführen. An das Podest gelehnt eine Gitarre, eine Trompete, ein Heiligenbild, gerahmt, einen Engel mit Flügeln darstellend. Gleich davor zehn Säcke Zement übereinander geschichtet. Einige der Neonröhren an den Bambusmasken brennen. Aus einem Lautsprecher, ebenfalls an einem Bambuspfahl aufgehängt, plärrt die Stimme eines Sängers.

Unter einer der Markisen hocke ich fast zwei Stunden lang auf einem unbequemen Plastikstuhl, beobachte die Ereignisse mit mäßigem Interesse. Von Ngozi keine Spur. Die Musiker trommeln, ein Sänger mit Mikro stimmt Hymnen an, einige der Frauen um mich herum klatschen ein wenig mit den Händen. Um die Musiker herum tanzen zehn, später zwanzig oder dreißig Personen, meist Frauen in weißen Gewändern, alle mit Hauben oder Kopftüchern, die weit über die Schultern wallen, ähnlich Nonnen oder Ordensschwestern. Der Tanz wirkt wie eine Vorbereitung zur Trance, in die einige der Tänzerinnen später auch verfallen. Einzelne taumeln auf dem Platz hin und her, weit vorgebeugt im Laufschritt, scheinen sie zu stolpern und zu stürzen, fangen sich wieder, torkeln zu einer Seite, werden von Aufpassern zurückgeschubst, fallen oder werfen sich zu Boden, wälzen sich im Sand, später im Schlamm. Denn gegen 12 Uhr ist ein Gewitter aufgezogen: böiger Wind, ein bisschen Donnergrollen, dann setzt heftiger Regen ein. Unter den Markisen wird es mir zu nass, so dass ich in den Wagen flüchte und die Geschehnisse durch die Windschutzscheibe beobachte. Die Säcke mit Zement werden rasch weggenommen. Bänke und Stühle sind verlassen, die Zuschauer drängen sich unter die Dächer der umstehenden Häuser. Aber die Musiker trommeln weiter, und die engsten Anhänger der Mission lassen sich nicht vom Regen vertreiben. Mit durchnässten Kleidern stehen sie auf der Mitte des Marktplatzes. Der Enthusiasmus ist hin; kein Tanz, nur noch müde Bewegungen. Nur fünf, sechs Frauen taumeln noch in Trance, allein stehend, rudern mit weit ausholenden Armbewegungen durch die Luft. Die lilienweißen Gewänder zum Teil mit rotbraunem Schlamm beschmutzt. Ein kräftiger Mann tanzt mit einem schweren Ast auf der Schulter, den er offenbar aus einem Feuer gezogen hat. Denn der Ast glimmt und raucht an einer Seite. Er lässt den Ast zu Boden fallen, sinkt selber zu Boden, liegt dort regungslos, mit ausgestreckten Gliedmaßen, wie ein Käfer.

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Am Nachmittag treffen mehr Besucher ein, doch nur ein Peugeot ist auf dem Parkplatz zu sehen. Einige der Gäste werden namentlich angekündigt, durch einen Showmaster mit Mikrofon. Ich selber musste meinen Namen auf ein Blatt Papier schreiben, doch dann werde ich einfach als onyeocha [Weißer] aufgerufen und begebe mich zu den überdachten Plätzen für die Ehrengäste. Doch es ist wenig Prominenz versammelt, insgesamt fünf, sechs Personen. Ich komme neben einen Herrn Eze zu sitzen, der am Dept. of Electrical Engineering [der Universität] beschäftigt ist. Dem schlechten Englisch nach ist er kein Dozent.

Für den mehr offiziellen Teil hat Ngozi sich einen weißen Umhang übergeworfen, der ihr ein würdigeres Aussehen verleiht. Sie steht vor dem Podest, das Mikro in der Hand, und bietet das übliche Programm: Predigen, Lieder anstimmen etc. Nachdem mehr als 1000 Personen zusammengeströmt sind, beginnt der Hauptteil, eine Art Heerschau ihrer Getreuen. Sie selbst wirkt dabei sehr routiniert, hat sich gut unter Kontrolle, geht geschickt mit dem Mikrofon um. Ein einstudiertes Programm beginnt. Etwa zwanzig Kinder, alle in Weiß gekleidet, laufen im Gleichschritt, zur Musik tanzend, in die Arena. Alle im Gänsemarsch, nach Körpergröße gestaffelt. Eine Instruktorin stimmt Gesänge an, die Kinder antworten im Chor: "Do you obey the Lord?" – "We obey the Lord ..." Ein seltsamer Kontrast zu dem ungeordneten, ekstatischen Tanzen, dem Zungenreden. Nachdem die Kinder unter Applaus den Platz verlassen haben, tanzt die nächste Kindergruppe herein, die eine andere Region repräsentieren soll. Die gleichen Lieder, etwas andere Tanzschritte; eine unbeholfene Choreographie. Es klingt, als würden sie Preislieder für Ngozi singen. Ihr Name wird häufig wiederholt, und sie nickt gefällig. Nimmt ungerührt, wie ein General, die Truppenparade ab.

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Nach diesen etwas dürftigen Vorführungen beginnt der Einmarsch ihrer Anhänger, nach Dörfern oder Gruppen von Dörfern geordnet. Eine Art Loyalitätskundgebung. Gruppen von zehn bis fünfzig Männern und Frauen formen sich am unteren Ende des Marktplatzes und marschieren unter dem Applaus der Zuschauer zu Ngozi. Einige von Ngozis Feen, die weiß gekleideten Mädchen, mischen sich unter die Gruppe – vielleicht damit die Anzahl der Personen etwas stattlicher wirkt. Die Teilnehmer der Prozessionen bringen ihre Geschenke dar. Ärmlich gekleidete Frauen tragen Yamswurzeln, wieder andere zerren ein Schaf oder eine Ziege am Strick hinter sich her; andere führen einen Satz Küchenmesser mit, eine Frau trägt ein Päckchen mit sechs Haushaltskerzen. Den größten Applaus erntet jener big man, den ich schon zwei Tage vorher gesehen hatte. Er hält triumphalen Einzug, lässt eine Nähmaschine vor sich hertragen: original verpackt, so dass jedermann sieht, dass es sich nicht um ein gebrauchtes Modell handelt. Großer Applaus, und Ngozi nickt gnädig. Meist jedoch spenden die Anhänger Geld. Vor dem Podest, wo die Geschenke abgestellt werden, sind eine Emailleschüssel und ein Plastikeimer für die Kollekte aufgestellt. Man hört Münzen klimpern, sieht Geldscheine leuchten. Jede Gruppe, die einmarschiert, wird vorgestellt als ein Zweig der "Jehovah Messiah ... Mission".

Nach den öffentlichen Huldigungen steht das Essen auf dem Programm. Die Kästen mit Softdrinks werden einer nach dem anderen auf die Mitte des Platzes getragen und zu einem Stapel aufgetürmt: rund zwanzig Kästen, macht 4000 Naira. Mit der Zubereitung von Joloff-Reis waren ein halbes Dutzend Frauen seit Stunden beschäftigt. Nun werden die Schüsseln, die mit Reis überladen sind, alle auf dem Platz zusammengetragen. Dazu haufenweise Rindfleisch. In der oberen Ecke des Marktplatzes, wo das Fell und andere Überreste der geschlachteten Kuh herumliegen, machen sich Geier über das Essen her. Immer wieder sehe ich Geier im Tiefflug über die Versammlung der Gläubigen hinweg gleiten.

Bei der Essensausgabe gibt es Gerangel. Die schweren Schüsseln müssen von der Mitte des Platzes zu den Zuschauerrängen verteilt werden. Am high table werden wir schneller bedient als die anderen. Zum ersten Mal sehe ich Ngozi ihre Anhänger anschreien. Vor den Augen aller Versammelten brüllt sie herum, fuchtelt wütend mit den Armen.

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Es ist dunkel geworden, und die Zuschauer sind von ihren Sitzen aufgestanden und flanieren herum. Etwas Volksfestatmosphäre. Man hört noch die Trommeln, aber keine heiligen Gesänge. Mir begegnet der Public Relation Officer [Thompson], begrüßt mich mit übertriebener Freundlichkeit: Er habe das Video über die Zerstörung des Adoro-Schreins produziert.

(Hat er die Kamera geführt?) – Nein, das gerade nicht. Aber er habe die beiden Kameramänner engagiert, die auch heute alles aufgezeichnet haben. Dann berichtet er von den neuesten Ereignissen in Enugu [der Landeshauptstadt]: Der traditionelle Herrscher in Alor Uno soll der Polizei erklärt haben, dass ich die ‘Antiquitäten’ von Ngozis Mission aufgekauft habe. ‘Aber wir haben Sie entlastet und erklärt, dass Sie nichts gekauft haben.’

("Hat der traditionelle Herrscher mich persönlich gesehen?") – Vermutlich nicht. Aber er habe seine Informanten.

Mich interessiert außerdem, ob dieser chief über ganz Alor Uno herrscht. Der PR-Mann meint ja. Aber man werde ihm bald das Handwerk legen. Der chief sei auch mit dem Adoro-Schrein assoziiert. Wenn es Opfer für Adoro gebe, mache er sich anschließend über das Ziegenfleisch her.

Anscheinend geht es um die Macht in Alor Uno. Und deshalb muss Ngozi eine möglichst große Streitmacht um sich versammeln. Es wäre sicher besser, wenn sie mehr Prominenz am high table hätte begrüßen können. Einige Mercedes-Limousinen auf dem Parkplatz hätten dem chief zu denken geben müssen.

13. Beverly Hills, 30. April 95

Gespräch mit Daniel.

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Ngozi wurde auch von benachbarten Ortschaften eingeladen, Schreine zu zerstören und böse Personen zu identifizieren.

("Wie kann sie wissen, wer böse ist?")

"Ich glaube, sie ist selbst eine Hexe, die ihr Wissen nutzt, um andere Hexen bloßzustellen. Es gibt gute und böse Hexen. Um eine Hexe zu werden, muss man etwas essen, ich weiß nicht was. Manche nutzen die Hexenkraft nur dazu, sich und ihre Familie zu schützen. Sie erkennen Gefahren, die ihnen drohen, und verteidigen sich dagegen, ohne jedoch andere anzugreifen."

("Werden beide Typen von Hexen mit demselben Begriff bezeichnet?")

"Ja, Ama Osu. Eine Hexe kann nicht einfach jeden verhexen. Es muss eine Beziehung zum Opfer geben, sei es eine Blutsverwandtschaft oder ein geschäftlicher Kontakt."

("Dann kann mir keine Hexe etwas antun?")

"Nein, es sei denn, du hättest dich mit einer angelegt und dadurch eine Beziehung zu ihr geschaffen. Es gibt ein Sprichwort: ‘A river cannot swallow anybody who does not step into it.’"

Hexen treffen sich nachts und besprechen, was sie tun sollen. Wenn eine von ihnen ein Opfer präsentiert, wird es von allen verzehrt. Beim nächsten Mal schlägt dann eine andere Hexe ein Opfer vor. Jede muss, wenn sie an die Reihe kommt, ein Opfer benennen. Das ist der Grund, warum sie manchmal ihre eigenen Kinder töten.

("Warum opfern sie nicht lieber einen ihrer Nachbarn?") – Es gibt keine verbindende Kraft, die es ihnen erlaubt, einen Nachbarn zu töten. Wenn eine Hexe einen Nachbarn töten will, muss sie sich an eine Mithexe wenden, die mit der zu tötenden Person verwandt ist.

("Gehen Hexen leibhaftig zu dem Opfer, das sie angreifen?") – Nein, spirituell. Das Opfer ist häufig im Bett, wenn Hexen angreifen, und kann keine Ruhe finden. Manchmal sieht es das Gesicht der Hexe, die ihn quält. Oder es entdeckt am nächsten Morgen, dass es angegriffen wurde, weil es Kratzwunden an seinem Körper bemerkt. Hexen können sich in Tiere verwandeln. Wenn ein Hexendoktor eine Hexe töten will, benutzt er eine magische Falle, die er auf dem Grundstück des Opfers platziert. Hat sich am nächsten Morgen ein Vogel darin verfangen, tötet man ihn, und damit stirbt auch die Hexe.

Ich erzähle Daniel von dem Gespräch mit [Frederic], der nicht glauben mag, dass es in Europa keine Hexen gibt. – Daniel sieht es ähnlich wie er. Es ist unverstellbar, dass die Weißen Autos, Flugzeuge und Ozeandampfer bauen, ohne Hexerei zu benutzen.

("Dann glaubst du also auch, dass wir Hexen haben?") – Ja.

("Sind die Hexen bei uns ausgestorben, nachdem sie uns moderne Technologie gelehrt haben?") – Nein. Europa ist immer noch stark, also muss es Hexen geben. Wenn ein Wissenschaftler einen Traum hat und in sein Labor läuft, um es auszuprobieren: Wie willst du das nennen? Alles hat seinen Grund, es kann nicht aus dem Nichts kommen. Die Nigerianer können nichts Neues erfinden, weil sie nicht diese Hexen haben. An der Universität lernen sie nur, was bereits existiert. Es geht aber darum, etwas aus dem Nichts zu schaffen, so wie Gott es tat. Er sprach: Es werde Licht, und es ward Licht. Hat es früher Computer gegeben?

("Hat der traditionelle Herrscher von Alor Uno Spitzel in Ngozis Gruppe?") – Nicht unter ihren engsten Anhängern. Aber wenn Ngozi Schreine zerstört, wird es unter den Zuschauern Informanten geben.

Ngozis Bewegung ist eine Revolution gegen die überlieferte Ordnung. Die Mehrheit in Alor Uno unterstützt sie.

Jemand erzählte mir: "Ngozis Kraft ist aus Indien. Sie stammt von der Meergöttin Mami Wata." – Der Mann war dabei, Hilfe für seinen kranken Bruder zu suchen, und ich schlug ihm vor, den Bruder zu Ngozi zu bringen. Aber er lehnte das ab: "Ihre Kraft ist zu stark. Sie kommt nicht von Gott. Christliche Kraft entfaltet sich langsam, aber Ngozi hat sich ihre Kraft aus Indien geholt."

14. Alor Uno, 10. Mai 95

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Bei meiner Ankunft in Alor Uno, kurz vor 16 Uhr, ist der Marktplatz fast leer. Ein Dutzend Jujus markieren den Beginn einer neuen Kollekte. Die Objekte – ein paar zerbrochene Tongefäße etc. – wurden in der letzten Woche gesammelt.

Alfred Ugwu lädt mich zu einem Gespräch: Er benötige Geld, genauer gesagt, 7.000 Naira, um sich Ende der Woche an der Law School in Lagos zu immatrikulieren. Sein Jurastudium habe er schon 1994 abgeschlossen, nun fehle das Geld für die weitere Ausbildung zum Rechtsanwalt. Er bietet mir an, all die Dokumente zu präsentieren, einen Vertrag aufzusetzen, in dem er sich verpflichtet, mir das geliehene Geld nach Beginn der Ausbildung zurückzuzahlen. Ob ich wenigstens die Hälfte der Summe beisteuern könne? – "Nein".

Herr Ugwu bestätigt, dass Ngozi mit unbekanntem Ziel verreist ist. Doch die clean ups würden demnächst fortgesetzt. Der Ort sei noch nicht ganz gesäubert, und schon würden Einzelne beginnen, sich wieder Jujus zuzulegen. Ngozi habe ihren Anhängern gesagt, dass sie bei manchen Leuten Kontrollen durchführen sollen. Niemand wisse, woher sie erfahren habe, dass es in diesem oder jenem Haus wieder Zaubermittel gebe. Sie wisse es, und das könne nur spiritual power sein.

Herr Ugwu mag dieses Phänomen nicht dramatisieren. Viele legten sich charms zu, um sich vor Zauber zu schützen. Sie hätten nicht genug Vertrauen in den christlichen Gott, so dass sie rückfällig würden. Es sei also ein defensives Verhalten. Trotzdem bedauerlich, weil es rückschrittlich ist, in einer Zeit, in der die Menschen Raketen zum Mond schießen.

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Herr Ugwu entdeckt mir, dass der Hauptpriester des zerstörten Adoro-Schreins in der Nacht zuvor gestorben ist. Er lädt mich ein, ihn zur Beerdigung zu begleiten. Sein Cousin [Thompson] schließt sich an. Das Dorf, in dem der Tote gelebt hat, ist nur einen Kilometer entfernt. Wir parken den Wagen fünfzig Schritte vom Haus entfernt, begeben uns zu der Begräbnisgesellschaft. Herr Ugwu kümmert sich im Folgenden nicht weiter um mich. Ich bin in den Händen von [Thompson], dem Public Relation Officer. Alles, was ich an diesem Abend erfahre, stammt aus Gesprächen mit ihm. Er bemüht sich, mir den Ritus zu erklären, mir Hintergrundinformationen über die Dorfpolitik zu geben. Im Nachhinein behauptet er, dass Alfred Ugwu sich von mir abgesetzt hat, um unter den Anwesenden nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass er den Weißen zu der Beerdigung angeschleppt hat. Denn es gibt offenbar Proteste gegen meine Anwesenheit. Ohne die Gespräche zu verstehen, spüre ich die Unstimmigkeiten, Animositäten unter den Anwesenden.

Thompson ist einigen gegenüber betont freundlich, andere dagegen schaut er nur flüchtig an, und dazu gehört offenbar der älteste Sohn des Verstorbenen: ‘ein Heide’. Nach einer halben Stunde drängt er mich, meinen Wagen ein Stück zur Seite zu fahren. Es gebe Beschwerden, dass der Wagen im Weg stehe. Als wir dorthin laufen, werde ich Augenzeuge eines heftigen Wortwechsels. Ein alter Mann schnauzt Thompson an. Doch Thompson ist ein Kämpfertyp, mit rüpelhaften Manieren. Er lässt sich nichts bieten. Der alte Mann – so erklärt er mir den Vorfall – habe ihm vorgeworfen, er würde so voller Stolz dahergelaufen kommen.

Nachdem wir zur Beerdigungsgesellschaft zurückgekehrt sind, drängt er mich, etwas in den Hintergrund zu treten. Es gebe Klagen über meine Anwesenheit. Ich sei ein Anhänger der Prophetin und deshalb nicht wohlgelitten. Thompson ist immer noch verbittert über die Verbalinjurien des alten Mannes: Wenn man sich nicht zu einer Beerdigung versammelt hätte, würde er sich solche Beleidigungen nicht bieten lassen. Er würde einige boys rufen und diesen Mann zusammenschlagen lassen.

Zu der Beerdigung sind nicht viele Menschen erschienen: vielleicht zwanzig Männer, ebenso viele Frauen und eine Meute Kinder, die meisten im Gehöft des Verstorbenen ansässig. Lautes Wehklagen der Weiber; auch die Kinder lassen sich davon anstecken und schluchzen ein wenig. Die Leiche befindet sich in einem Lehmhaus, nur aus einem Raum bestehend, und von dort ertönt das lauteste Klagen. Die Männer wirken nicht sonderlich bewegt. Man begrüßt sich überschwänglich, plaudert.

Der chief priest hatte seinen letzten Willen rechtzeitig kundgetan: Er wolle so wie sein Vater beerdigt werden, nicht im Sarg, sondern nur in eine Matte aus Palmwedeln gehüllt. Das Grab ist nicht größer als nötig, vielleicht einen Meter tief. Und die Grablegung erscheint mir recht unzeremoniell. Thompson erzählt mir, dass man beim Ausheben des Grabes einen Schädelknochen entdeckt habe. Der könne nur vom Vater des Verstorbenen stammen, der allerdings schon 1963 dort beerdigt wurde. Da sich die Grabstätte gleich neben dem Wohnhaus befindet, frage ich überrascht, ob man die Früchte von jenen Bäumen esse, die darauf gedeihen. Es heißt, es seien keine essbaren Früchte. Aber gleich einen Meter neben dem frisch ausgeworfenen Grab sehe ich eine runde Grube, die dazu bestimmt ist, cocoyam-Wurzeln [Taro] aufzunehmen. In der Hitze des Tages würde cocoyam verderben, so dass man ihn unter der Erde aufbewahrt, unmittelbar neben einer Leiche.

Gegen 18 Uhr ist die Grablegung abgeschlossen. Es treffen nun aber mehr Gäste ein. Ein Dorfschullehrer wird mir vorgestellt, ein Würdenträger mit roter Eze-Kappe. Es handelt sich um einen katholischen Katechisten und – nach den Erklärungen von Thompson – um einen der angesehensten Alten von Alor Uno. Er soll zu jener Delegation von elders gehört haben, die am Donnerstag letzter Woche bei der Polizei in Enugu vorsprach und im Namen ihrer Community die Empfehlung aussprach, dass alle Verfahren gegen Ngozi eingestellt werden. Angeblich haben sich die Ältesten von Alor Uno unter dem Druck der Jugendlichen zu dieser Position durchgerungen, gegen den Widerstand des traditionellen Herrschers. Meine Person spielte bei den gegenseitigen Beschuldigungen ebenfalls eine Rolle. Der chief soll die Polizei informiert haben, dass ich fünf Millionen Naira gezahlt oder geboten habe, um mich in den Besitz der Jujus zu setzen. Der chief soll der Polizei mein Autokennzeichen genannt haben. Zuständig für den Fall sei das SIIB: State Investigation and ... Bureau.

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Die Rechtsstreitigkeiten waren Anfang des Jahres eskaliert. Im Februar fand der Angriff auf den Adoro-Schrein statt, im März sorgten die ‘Heiden’ dafür, dass Ngozi verhaftet wurde. Sie trugen 30.000 Naira zusammen, gaben sie der Polizei in Enugu, damit sie Ngozi festnehmen. Thompson habe jedoch gleich interveniert und gegen 26 Heiden Anzeige erstattet. Um die Vorwürfe gegen sie zu belegen, habe er die Polizei in die Nähe des zerstörten Schreins geladen. Er zeigt mir die verwunschene Stelle. Hier befänden sich die Gräber jener Opfer, die man auf Geheiß Adoros lebendig begraben habe. Verwildertes Gebüsch, mehrere Erdhaufen, etwa einen Meter hoch, darunter angeblich die Leichen. Die letzten Opfer sollen aus der Zeit um 1960 stammen. Thompson ist Jahrgang 1953; er kann sich nicht recht erinnern.

Die Polizei hat diesen Ort des Grauens freilich nicht besichtigt. Anscheinend kam es zu keiner Beweisaufnahme, weil der ‘Ältestenrat’ von Alor Uno die Polizei gedrängt habe, all die gegenseitigen Beschuldigungen auf sich beruhen zu lassen.

In den Streit zwischen Christen und Heiden spielen Familienkonflikte hinein. Doch es ist auch umgekehrt so, dass Ngozis Aktivitäten Feindschaft säen. Thompson erzählt, dass er mit dem chief priest, dem Bruder seines Vaters, ein gutes Verhältnis hatte. Der Priester war der erste gebildete Mann in der Familie, ja im Dorf. 1908 geboren, besuchte er die Schule und erreichte 1926 die sechste Klasse. (Später, im Haus seiner Mutter, wo Thompson ein Zimmer für sich eingerichtet hat, zeigt er mir stolz handschriftliche Aufzeichnungen seines Onkels: Listen über irgendwelche Geldsammlungen). Erst mit dem Auftreten von Ngozi sei es zu Spannungen gekommen. Die Bemerkungen über den Onkel sind freilich despektierlich: Er habe von den Opfern an Adoro gut gelebt. Kühe, Ziegen, Schafe, die dem Gott dargebracht wurden, fanden ihren Weg in den Kochtopf des Priesters. Der Priester hatte drei Frauen; eine von ihnen habe er bekommen, ohne Brautpreis zu bezahlen, denn sie sei in den Besitz Adoros gefallen.

Mit dem Amt des Priesters wird der älteste Mann im Dorf betreut. Bis 1963 hatte der Großvater das Amt inne. Er wurde 100 Jahre alt. Später Thompsons Vater, der 1986 starb; schließlich der verstorbene Onkel. Nun müsste ein alter Mann das Amt übernehmen. Thompson deutet auf den Mann. Doch der Schrein liege in Trümmern, die Last bleibe dem alten Mann erspart.

Entschieden feindselig ist das Verhältnis zum traditionellen Herrscher: "Er hat meine Frau verführt." Zu diesem Zweck habe der Häuptling Zaubermittel benutzt. Thompson war machtlos. Er hat seine Frau verstoßen, die Kinder sind beim Vater geblieben. Er stellt mir die zwei Söhne vor. Der Streit mit dem chief fing aber schon lange vorher an. Thompson (der sein Licht nie unter den Scheffel stellt) war daran beteiligt, eine Sekundarschule in Alor Uno aufzubauen. Damals habe er aufgedeckt, dass der chief Gelder für die Schule unterschlagen habe.

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Leider bekomme ich den Häuptling nicht zu Gesicht. Gäste kommen und gehen; die ganze Nacht hindurch müssen die Angehörigen Wache halten. Thompson rechnet damit, dass auch einige seiner Brüder aus Enugu eintreffen werden. Mir ist jedoch wenig daran gelegen, unter der Trauergemeinde zu sitzen. Thompson drängt mich außerdem, zum Auto zu gehen: Die Leute seien gegen mich eingenommen; er habe ihre Kommentare gehört. Es könne sein, dass sie sich an meinem Wagen zu schaffen machen. Ganz so dramatisch scheint es jedoch nicht zu sein, denn wir gehen zunächst zum Haus seiner Mutter, wo ich zu Kolanuss eingeladen werde. Danach geht’s in einem Bogen zum Auto, und von dort Richtung Schrein, doch nur ein Stück weit, bis wir zu den Gräbern kommen. Auf dem Weg deutet Thompson auf eine Art Schutthalde: Trümmer von Mobiliar, Fensterläden etc. Es handele sich um die Überreste von Besitztümern, die an die Gottheit gefallen waren. Da die Schreinpriester mit den Dingen nichts anzufangen wussten, haben sie’s hier vermodern lassen.

("Warum haben sich nicht andere Leute die Betten und Matratzen geholt?") – Weil sie Adoro gehörten. Wer sie stahl, musste mit der Rache des Orakels rechnen.

15. Alor Uno, 27. Mai 95

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Sister ist immer noch mit unbekanntem Ziel verreist. Niemand weiß, wann sie zurückkommt. Chuka erklärt mir, dass sie niemanden als ihren Stellvertreter eingesetzt habe. Alle zusammen seien für die Mission verantwortlich.

("Gibt es nicht wichtige Entscheidungen zu fällen?") – "Nein".

("Irgendwelche Kontroversen?") – "Nein".

Wir stehen zu dritt an Chukas Hütte. Ein Mann mittleren Alters, in zerrissenen Kleidern, tritt an uns heran, um zu betteln. Er stellt sich als 'Creator of the Universe' vor. Er habe alle Tiere und Menschen erschaffen. Zur Zeit benötige er allerdings Geld, das er mit Zinsen zurückzahlen werde. Meine beiden Begleiter bedeuten mir, dass es sich um einen Verrückten handelt. Früher war er Sergeant bei der Polizei. Doch dann wurde er Opfer der Hexerei. Die Leute stecken ihm gelegentlich Geld zu, und damit kauft er sich auf dem Markt Bohnen etc. Angehörige hat er fast keine. Ein Bruder, der im Dorf wohnt, ist verarmt. Weiter entfernte Verwandte sind wenig gesonnen, ihn zu unterstützen, denn der 'Creator' ist ein bösartiger Mensch und war es schon seit seiner Geburt. Als er noch in Polizeidiensten war, hat er die Bewohner von Alor Uno hemmungslos ausgeplündert. Mitten im Ort hat er Autofahrer angehalten und ihnen Geld abgenommen. Mit der Beute ist er dann trinken gegangen, und wenn das Geld zur Neige ging, hat er sich auf die nächsten Opfer gestürzt. Bei seinem letzten großen Auftritt hat er Polizisten aus Nsukka herangeschafft und sämtliche Familienoberhäupter in seinem Dorf verhaften lassen. Mehr als ein Dutzend Männer waren über Nacht in Polizeigewahrsam. Der Sergeant hatte sie beschuldigt, ihn ermorden zu wollen. Doch allmählich dämmerte den Polizisten, dass ihr Kollege durchgedreht war, und so kamen die Dorfbewohner wieder frei.

Eine Anhängerin Ngozis ist am Tag zuvor gestorben. Auf dem Rückweg [von der Trauerzeremonie] treffe ich wieder auf Chuka. Ich lade ihn zu einer Flasche Sprite ein. Später setzen wir uns unter einen Baum und plaudern bis in die Nacht hinein. Dabei klärt er mich über den Todesfall auf: Wer habe denn die Schlange geschickt, die den tödlichen Biss abgab? Die junge Frau sei von ihrem eigenen Vater umgebracht worden. Schon vor längerer Zeit habe er die Seele der Tochter geraubt. Sie sei nur noch Fleisch oder Körper gewesen.

Diese Hinweise illustrieren einen allgemeinen Befund: die mörderischen Attacken der Väter auf ihre Kinder. Chuka wurde vor zwei Jahren gewahr, dass sein Vater ihn töten wollte. Eine der beiden Frauen seines Vaters habe ihm das schreckliche Geheimnis verraten. Chukas Mutter lebt in Onitsha, zusammen mit einem anderen Mann. Dort kann er sich nicht zu Hause fühlen. Im Hause seines Vaters aber ist er auch nicht daheim. Von den beiden Frauen, die mit dem Vater zusammenleben, kann er nur der älteren trauen. Über die Einzelheiten des Mordkomplotts will ich ihn ein anderes Mal befragen. Heute betont er nur, dass der Vater in die Kreise der Hexen oder Zauberer verstrickt war. Führend in dem ‘Hexenclub’ war jedoch sein Onkel.

("Wie hat er von den geheimen Aktivitäten seines Onkels erfahren?") – Die Wahrheit wurde ihm schon vor Jahren enthüllt, als er noch keinen Führerschein besaß. Damals sah er sich im Traum von fünf Geistern verfolgt. Einer der Geister hielt vor seinem Haus Wache, ein anderer Geist war eine Frau, die sich die Ohren zuhielt. Die drei anderen wurden handgreiflich, und er wachte morgens mit Kratzwunden an den Armen auf. Er sprach mit seinem Vater darüber und bat um Hilfe. Unterstützung fand er bei der Schwester seiner Mutter. Sie gab ihm eine Bibel, die er vor dem Einschlafen las. Bevor er sich zur Ruhe begab, legte er die Bibel neben das Bett, und zwar die Seite aufgeschlagen, in der er zuletzt gelesen hatte. Auf diese Weise verschaffte er sich für zwei Wochen Ruhe vor den Geisterattacken. Doch er musste die Bibel zurückgeben, und die Angriffe begannen von neuem. Er eilte zur Tante, lieh sich wieder die Bibel aus, legte sie neben das Bett, aber ohne sie gelesen zu haben und ohne zu beten: Er war einfach zu müde. Noch in derselben Nacht griffen die Geister wieder an. In seiner Verzweiflung ging er am nächsten Tag auf den Markt und kaufte sich ein Klappmesser, das er unter dem Kopfkissen verbarg. Als die Geister wieder in sein Zimmer eindrangen, ihn am Nacken fassten und würgten, stach er mit dem Messer auf den Aggressor ein. Er wachte auf und sprang aus dem Haus. Es war 4 Uhr morgens, eine mondhelle Nacht. Er lief ins Gehöft seines Onkels, das Tor war nicht verschlossen, und erfuhr von einem der Söhne, dass der Onkel gerade mit einem Messer angegriffen worden sei.

Angeblich weiß der ganze Ort von den bösartigen Nachstellungen des Onkels. Er habe den eigenen Brüdern erklärt, dass er es nicht dulde, wenn sie reicher werden wollten als er. Als Ngozi im letzten Jahr auftrat, verkündete er öffentlich, dass er Christus nicht in seinem Haus haben wolle. Einige seiner Söhne sind freilich Christen. Chuka war mit einem von ihnen, der jetzt in Enugu lebt, eng befreundet. Ein anderer musste nach Nsukka ziehen, weil der eigene Vater ihm nach dem Leben trachtete. Der Sohn wollte ein eigenes Haus bauen, doch der Vater drohte ihm. Das Haus des verstorbenen Onkels befindet sich unmittelbar am Marktplatz [gleich neben dem Gehöft, in dem Ngozi residiert].

16. Alor Uno, 30. Mai 95

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Ich fand Chuka vor einer der Hütten beim ‘Dame’-Spielen, mit vier oder fünf Zuschauern um die beiden Kontrahenten. Belustigte Kommentare, Lachen. Trotzdem wirkte die Art des Spiels auf mich wie ein Kampf. Aggressive Handbewegungen. Die Figuren des Spiels wurden mit raschen, gewaltsamen Gesten über das Brett gepresst. Der Reiz des Spiels schien allein darin zu liegen, seinen Gegenspieler fertig zu machen.

Chuka und ich machten uns davon, gingen zu dem Rastplatz unter den hohen Bäumen. Bis vor kurzem diente der Platz noch als Opferplatz. Unter den Bäumen lag ein Stein, auf dem Hühner und andere Opfertiere geschlachtet wurden. Doch der Stein wurde weggeräumt und zu dem Haufen mit Jujus geschafft. Das Gespräch kam rasch auf Chukas persönliche Erfahrungen, darunter Kindheitserinnerungen. Er wuchs zusammen mit Ngozi auf, denn sein Vater hatte den Ort verlassen und war als Gastarbeiter in Spanien beschäftigt. Deshalb lebte Chuka bei seinem Onkel. Doch der Onkel wurde durch den eigenen Bruder ermordet, nämlich durch den Präsidenten des Hexenclubs. Ngozi und Chuka waren damals, um 1972, noch ganz klein, vielleicht drei, vier Jahre alt. Ngozi war gleich nach ihm geboren. Ihre Väter sind Brüder, das heißt sie hatten denselben Vater, dieselbe Mutter. Doch der Hexer war ein Halbbruder, von einer anderen Frau des Vaters. Der Konflikt zwischen den Halbbrüdern ist mit den Ereignissen des Biafra-Kriegs verwoben:

1966, als Tausende von Igbo den Pogromen zum Opfer fielen, wurden alle Igbo [in der Diaspora] aufgerufen, in die Heimat zurückzukehren. Zu den Heimkehrern gehörte auch der Halbbruder. Ihn zog es aber nicht direkt zurück nach Alor Uno, denn er hatte dort kein Haus. Außerdem war dort das Land zu knapp. Er siedelte daher in der Kolonie von Alor Uno [in Alor Agu]. Nach einer Weile konnte er Ngozis Vater davon überzeugen, dass es gut wäre, sich eine zweite Frau zuzulegen, und er hatte auch gleich eine passende Frau für diese Gelegenheit. Ngozis Vater hatte also den Brautpreis zu entrichten. Sein Halbbruder bedrängte ihn jedoch, ihm Geld zu leihen. Mit viel Widerwillen erklärte sich Ngozis Vater schließlich bereit, obwohl er im Grunde all seine Ersparnisse für den Brautpreis hätte nutzen sollen. Die eigentliche Tragödie aber begann erst Monate (oder Jahre?) später, als die zweite, eben angeheiratete Frau bereits schwanger war. Ngozis Vater wollte sein Geld zurückhaben. Doch der Halbbruder erklärte öffentlich, dass er nie Geld von ihm erhalten habe. Und er forderte den angeblichen Gläubiger heraus, vor Adoro einen Eid abzulegen. Damals war noch nicht bekannt, dass er ein ‘Hexer’ war. Man begab sich zu dem Schrein, der Eid wurde geschworen, und es hieß: Wenn der Eidleistende innerhalb von sieben mal vier Markttagen (also 28 Tagen) stirbt, war er schuldig.

Der Fall nahm eine unerwartete Wende, denn Ngozis Vater verletzte sich innerhalb jener 28 Tage, als er eine Ölpalme bestieg. Das Stück Stoff, mit dem man sich am Baumstamm festhält, zerriss. Er fiel herunter und brach sich Arm und Bein. In Alor Uno gab es bis vor kurzem einen Heiler, der auf Knochenbrüche spezialisiert war. Er nahm sich der Sache an, doch die Verletzungen mochten nicht recht heilen. Die besorgten Angehörigen befragten einen Wahrsager und erfuhren auf diese Weise, dass der Halbbruder verantwortlich sei für den heiklen Zustand des Patienten. Man appellierte an ihn, das Leben von Ngozis Vater zu schonen. Doch er blieb hart: Er sei beleidigt worden. Der Verletzte starb, sein Leichnam wurde ins Haus geschafft, und der Halbbruder erklärte vor allen Versammelten, dass Adoro den Schuldigen gerichtet habe. Niemand solle daher an den Trauerfeierlichkeiten teilnehmen. Die Versammelten zerstreuten sich, so dass der Tote im engsten Familienkreis beigelegt wurde.

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Ich erinnere Chuka daran, dass Ngozi den Spieß umgedreht hat, als der Mörder ihres Vaters starb: Sie rief alle Dorfbewohner auf, der Beerdigung fernzubleiben. – Chuka stimmt dem zu, fügt aber entschuldigend hinzu, dass Ngozi ihren Onkel aufgerufen hatte, zu bereuen und zum Christentum überzutreten. Er müsse wiedergeboren werden, und die Idole abliefern. Doch der Onkel fuhr sie vor allen Versammelten an, dass sie zu schweigen habe, wenn ein Älterer in ihrer Gegenwart spreche: Sie sei nicht mehr Wert als sein Urin. Der älteste Sohn jedoch schloss sich Ngozi an. Er suchte bei ihr Zuflucht, weil der eigene Vater ihn töten wollte.

Chuka erwähnt, dass ich ihn davon abgehalten habe, an dem 6-Uhr-Gebet teilzunehmen. Ich hatte ihn in der Tat, als er mich aufforderte, uns den Betenden anzuschließen, eingeladen, eine Flasche Sprite zu trinken. Er fragt nicht direkt, warum ich mich nicht an den Gebeten beteilige. Aber er will wissen, warum ich kein Kruzifix trage. Ich erkläre, dass Rosenkränze bei uns zu Hause von den Katholiken benutzt werden und knüpfe daran einige Bemerkungen über das Rosenkranzbeten, das ‘Ave Maria’ und die Beichtpraxis der Katholiken. All diese Details, die intime Sachkenntnisse andeuten, scheinen Chuka zu beruhigen. Vielleicht hatte er mich im Verdacht, kein wirklicher Christ zu sein. Im Übrigen entschuldige ich mich dafür, dass ich ihn von seinen Pflichten abhalte, aber er winkt ab: Er folge nicht den Auflagen, die Ngozi ihm gegeben habe. Ngozi hatte ihn mit der Aufgabe betreut, für die Kranken zu beten. Außerdem war es sein Amt, zu den Gebetsstunden die Glocke zu schlagen, um die Gläubigen zu den Gebeten zu rufen: jeden Tag um 5 Uhr morgens, um 12 Uhr mittags und um 15, 18, 21 Uhr. Doch seit Ngozi verreist ist, ignorierten viele das Glockengeläute. Manche erklärten sogar provozierend: Er – Chuka – habe kein Recht, ihnen ein Ultimatum zu stellen. Im Grunde würden sie nur Ngozi gehorchen; er jedenfalls besitze keine Autorität. Von einer Kirche sollte man mehr Disziplin erwarten als von einer Schule, denn es gibt mehr Grund, Gott zu gehorchen als den Lehrern. Und trotzdem hielten sich die Gläubigen nicht an die Regeln. In Ngozis Abwesenheit genieße ihr älterer Bruder noch am meisten Respekt.

Ngozi hatte Chuka eröffnet, dass er ein Jahr lang an den Übungen der Mission teilnehmen soll. Doch in Alor Uno zu bleiben, hält ihn von anderen Aktivitäten ab. Wie soll er Geld verdienen? Er ist erst seit Januar wieder im Ort. Zuvor war er, seit April 1994, in Minna und arbeitete dort sieben Monate lang für einen Geschäftsmann in einem Gasthaus. Chukas älterer Bruder, der ihn nach Minna geholt hatte, übernahm das Guest House später als Pächter und ließ ihn weiter dort arbeiten. Für 400 Naira im Monat musste Chuka an der Rezeption stehen, sämtliche Zimmer putzen und nachts noch als Barmann tätig sein. Im Dezember 1994 ereignete sich ein schlimmer Vorfall. Er saß in der Bar, trank mit Freunden Bier. Unter der Gesellschaft befand sich auch eine Frau aus Abakaliki. Ihr Freund war gerade verreist, und so ließ sie Chuka ihre Sympathie erkennen. Er spendierte ihr ein Bier, und man ging zusammen auf eines der Zimmer. Chuka hatte kein eigenes Zimmer für sich, sondern schlief in jenen Gästezimmern, die gerade frei waren. Er lag neben ihr auf dem Bett. Sie ganz nackt. Er schloss die Augen und hatte eine Vision: Ein Mann ohne Gesicht (das Gesicht ließ sich nicht erkennen, nur die Umrisse waren zu sehen) drang auf ihn ein, attackierte ihn. Er öffnete Chuka und nahm etwas aus ihm heraus.

("Öffnete der Geist den Körper, zerriss er die Haut?") – Chuka fühlte sich wie ein Stück Stoff, das man öffnen oder zur Seite schieben kann.

("Was nahm er heraus?") – "Ich weiß nicht." Aber er fühlte sich danach völlig geschwächt. Der Geist ließ sich nicht erkennen, aber die Stimme verriet ihn.

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Es war jener Geschäftsmann, von dem Chukas Bruder das Gasthaus gepachtet hatte. Die Stimme sprach zu Chuka: "Warum verprasst du das Geld der Firma?" Chuka wusste gleich, was gemeint war. Als Rezeptionist hatte er Geld für sich einbehalten, das er an seinen Bruder hätte weitergeben müssen. Als er sich nun von dem Geist bedrängt sah, flehte er Jesus um Hilfe an. Er rief: "Jesus! Jesus! Jesus!" Allerdings nur in Gedanken, damit die Frau neben ihm die Worte nicht hört. Denn sie hätte nicht verstanden, was mit ihm vorgeht. Und er versprach, dem Bruder gleich am nächsten Morgen Geld zu geben. Er fragte die Geister: "Geht es nur darum, dass ich das Geld erstatte?" Und sie sagten "Ja". Aber sie hatten ihm keine Summe genannt, und deshalb gelobte er Jesus, einfach 1.000 Naira von seinem Konto zu nehmen und sie dem Bruder zu überreichen. Insgesamt befanden sich 2.000 Naira auf dem Konto, die er von seinem kärglichen Gehalt gespart hatte. Mit der Hilfe Jesu wurde der Geist vertrieben. Er sah, wie ein helles Licht die Gestalt des Geschäftsmannes davon drängte und ihn gegen eine Wand schleuderte. "Ich weiß nicht, warum ich dir das nun erzähle. Und Gott möge mir verzeihen. Mein Herz fragte mich: Willst Du, dass der Geist weiter mit dem Kopf gegen die Wand geschleudert wird? Und ich wollte es." Die Gestalt verschwand schließlich in der Finsternis, was Chuka als Hinweis auf ihren satanischen Ursprung deutete. Chuka erhob sich vom Bett und verließ das Zimmer. Aber er taumelte, konnte kaum richtig gehen.

Mich interessiert, ob die Angstvision auftrat, bevor oder nachdem er Geschlechtsverkehr mit der Frau hatte. Und nun enthüllt mir Chuka ein Detail, das er unterschlagen hatte. "I had already climbed the woman." Er lag auf der Frau, als ihn die Vision überraschte. Er dachte, er würde den nächsten Morgen nicht mehr erleben. Nie zuvor war ihm das passiert. Er glaubte, der Geist wolle ihn auf der Stelle töten, damit er tot auf einer Frau liegend gefunden werde.

Der Geist hatte ihn angreifen können, weil er Unzucht trieb. Dadurch verließ ihn der Heilige Geist, und spirits konnten in ihn eindringen. Diese Erfahrung habe er oft gemacht. Gerade in der letzten Nacht habe er mit einer Frau Unzucht getrieben und nun tue ihm der Rücken weh. Beistand finde er immer nur durch Jesus. Um die ihn bedrängenden Geister zu vertreiben, rufe er "Jesus, Jesus!", und er mache Handbewegungen, als wolle er jemanden verscheuchen (demonstriert es: wie um ein Tier davonzujagen).

17. Alor Uno, 21. Juni 95

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Ein Blick auf den Marktplatz zeigt mir, dass in den drei Wochen, die ich verreist war, nicht viel passiert ist. Nahe der Straße ist immer noch dasselbe Häuflein Jujus zu sehen. Was in der Zwischenzeit passiert ist, erfahre ich von Thompson. Immerhin hat sich nun herausgestellt, dass Sister nach Kano gereist war. Sie kam für zwei, drei Tage von ihrer Reise zurück und verschwand gleich wieder.

("Wohin?") – Thompson erklärt zunächst, dass sie nie verrate, wohin sie entschwindet und für wie lange. Später meint er, sie sei nach Imo State gefahren. Ngozis Bruder dagegen erklärt, sie sei zurück in Kano. Präziser ist wenigstens die Auskunft, wie sie gereist ist. Mit triumphierender Stimme informiert mich Thompson, dass Sister in einem Mercedes 230 mit Chauffeur vorgefahren ist. Diesen Wagen, den ihr Anhänger in Kano zur Verfügung stellten, habe sie während ihres ganzen Aufenthaltes in Alor Uno genutzt. Auch in Kano muss sie auf großem Fuß gelebt haben, denn sie hat jeden Tag allein 1500 Naira für Essen ausgegeben.

("Für wie viele Personen?") – "Fünfzehn".

Ein Teil des Gesprächs dreht sich um die Vergangenheit. Auf diese Weise erfahre ich, dass der traditionelle Herrscher eine völlig miserable Existenz ist: nur ein einfacher Farmer, ohne weitere Einkünfte, mit einer bescheidenen Hütte. Erst sein Sohn hat ihm ein richtiges Haus gebaut. Aber selbst an diesem Haus sind die Mauern nicht verputzt. Thompson spricht verächtlich von dem Palast: ‘a shabby palace’.

("Warum wurde er dann zum chief ernannt?") – Weil niemand sonst es werden wollte. Doch unmittelbar danach holt Thompson zu einer anderen, umständlichen Erklärung aus: Der traditionelle Herrscher wurde nach dem Krieg ernannt, als die Position vakant war. Beim Einmarsch der Föderationstruppen hatte der Vorgänger den Tod gefunden, und die Regierung forderte die Bewohner auf, einen neuen Herrscher zu nominieren. Zwei Kandidaten standen zur Wahl, jeder als Repräsentant seines Clans. Es gibt nämlich zwei Clans in Alor Uno.

("Gehören nicht manche Bewohner anderen Clans an?") – Nein. Alle sind Mitglieder dieser beiden Clans. Der gegnerische Clan ist zahlenmäßig wohl stärker. Aber deren Mitglieder sind weniger gebildet. Deshalb machte kurz nach dem Krieg der Clan von Thompson das Rennen. Der jetzige chief gehört zwar dem eigenen Clan an, aber er hat sich als Versager herausgestellt: ein bösartiger, hinterhältiger Mann. Der Fehler war, dass man damals nur auf die Clanzugehörigkeit achtete und über die charakterlichen Defekte hinwegsah. Heute stellt sich die Lage völlig anders dar, so dass Thompson sich ohne Probleme mit den Leuten des anderen Clans verständigen kann. Beide Kandidaten waren Analphabeten, d.h. im Grunde nicht für den Job qualifiziert.

("Kann man den chief nicht abwählen?") – Traditionelle Herrscher sind auf Lebenszeit ernannt. Aber es gibt ein Verfahren, ihre Absetzung zu erreichen. Die community muss eine Versammlung einberufen, auf der ein Misstrauensvotum gegen den Häuptling abgegeben wird. Anschließend schickt man eine Petition an die Regierung und verlangt die Absetzung des Herrschers. Genau dieses Verfahren sei für kommenden Sonntag geplant. Thompson hat sich mit Mitgliedern des anderen Clans in Verbindung gesetzt; gemeinsam will man eine Mehrheitsentscheidung herbeiführen. Die Gegenseite weiß noch nichts von diesen Plänen. Dass eine öffentliche Versammlung angesetzt ist, hat sich natürlich herumgesprochen. Selbst aus anderen Orten werden Leute anreisen. Doch die Tagesordnung ist der Gegenpartei nicht bekannt.

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Merkwürdigerweise hat der Häuptling genau für diesen Sonntag einen Angriff auf Ngozis Anhänger geplant. Thompson wurde selbst Zeuge eines klandestinen Treffens. Der chief traf sich mit 13 Männern im Haus eines seiner Anhänger. Thompson erfuhr durch Zufall von der Versammlung. Er versteckte sich, und als die Teilnehmer aus dem Haus traten, kam er aus seinem Versteck hervor und begab sich mitten unter sie, grüßte sie, um sich die Personen zu merken. Zwölf von ihnen kannte er mit Namen. Er hat sie unmittelbar anschließend auf einen Zettel notiert. Die übrigen zwei sind ihm ebenfalls bekannt; er weiß, wo sie wohnen, denn alle stammen aus Alor Uno. Er zeigt mir den Zettel, auf dem die Namen aufgelistet sind.

("Woher weiß er, was während des Treffens beschlossen wurde?") – Von einem der Söhne des Gastgebers. Der ist nämlich nicht mit der Parteinahme des Vaters einverstanden. Um die relevanten Informationen zu erhalten, musste Thompson allerdings mit etwas Geld nachhelfen.

("Wie reagiert die Mission auf die Bedrohung?") – Für heute Abend ist ein geheimes Treffen angesetzt, damit man Gegenmaßnahmen besprechen kann.

Wie gefährlich die Lage ist, erläutert mir Thompson auf der Fahrt nach Hause: Er hat Angst, in der finsteren Nacht die Hauptstraße entlang zu laufen, weil ihm die Feinde auflauern könnten. Im eigenen Haus ist er dagegen sicher, denn dort halten Jugendliche nachts Wache, damit ihm nichts passiert.

Es ist schon dunkel, als ich Richtung Gebetsplatz laufe. Das übliche Bild der abendlichen Versammlung: Gut 100 Personen, Kinder eingeschlossen, vergnügen sich zu den Trommeln. Ich stehe zunächst etwas abseits, an die Mauer gelehnt, und schaue dem Treiben mit mäßigem Interesse zu. Die Musik ist nicht so mitreißend wie bei früheren Gelegenheiten. Trotzdem tanzt etwa die Hälfte der Versammelten. Junge Frauen überwiegen. Auch die Kinder haben schon gelernt, mit tranceartigen Bewegungen über die Tanzfläche zu taumeln. Die etwas älteren Frauen und Männer sitzen ein paar Meter von den Trommeln entfernt, alle auf einem Haufen. Die übliche Verzückung. Ein junges Mädchen tanzt auf mich zu, kreist um mich, entfernt sich, kommt wieder näher. Dazu brabbelt sie in schnellem Tempo, stakkatoartig irgendeine Geistersprache. Bei dem dritten Annäherungsversuch folgt ihr ein junger Mann in einem knöchellangen, weißen Gewand. Ihr Gebrabbel ist nun direkt an mich gerichtet, so als wolle sie mir etwas mitteilen, mich zu etwas auffordern. Da sie aber weiter im Geisteridiom spricht, hat es den Anschein, als befehle ihr der Heilige Geist, sich an mich zu wenden. Der Mann in ihrer Begleitung erklärt mir schlicht, dass ich ihnen auf den Gebetsplatz folgen soll. Nach ein paar Schritten heißt es, ich solle mich niedersetzen. Ich mache Anstalten, mich zu einer Gruppe von Frauen und Männern zu setzen, doch der Mann deutet mit der Hand auf einen Fleck, etwa fünf Meter von der Gruppe entfernt. Ein wenig irritiert nehme ich Platz und schaue den Tanzenden zu. Doch das junge Mädchen bleibt in meiner Nähe und tanzt um mich herum, weiterhin in einer Art (simulierter) Trance. Plötzlich steht sie unbeweglich vor mir, legt die flache Hand auf meinen Kopf, wie um mich zu segnen. Ihr Begleiter instruiert mich, nicht entspannt auf dem Boden zu sitzen, sondern zu knien. Dann bringt er eine Emailleschüssel herbei, die er mit Wasser aus einem der weißen Plastikkanister gefüllt hat. Das Mädchen kniet vor mir nieder, erfasst meine Hand und wäscht sie mit dem Wasser aus der Schüssel. Dann reibt sie mit ihren Fingern den Handteller meiner ausgestreckten Hand, etwa fünf Sekunden, bis sie – über den Handteller streichend – das Kreuzeszeichen formt. Es folgt die andere Hand. Dann wird die Stirn gewaschen, dazu die Wangen. Sie steht auf, tritt hinter mich und wäscht die Fußsohlen, die vom Sand reichlich schmutzig sind. Schließlich besprenkelt sie mich, wieder von vorn, mit Wasser.

Hinter mir hockend legt sie einen Arm um mich und reibt mir mit der Hand die Magengegend. Und dann passiert, was ich stets vermeiden wollte: Eine andere Frau eilt unversehens hinzu, einen weißen Plastikbecher in der Hand. Ich muss den Mund öffnen, und Wasser wird hineingeschüttet. Zum Glück bin ich geistesgegenwärtig genug, das Wasser wieder aus den Mundwinkeln herauslaufen zu lassen, wobei ich freilich so tue, als würde ich hastig schlucken. Mir geht die Angst vor Typhus und Amöbenruhr durch den Kopf, so dass ich den letzten Rest am liebsten ausspucken möchte. Aber das würde vielleicht nicht unbemerkt bleiben.

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Während der ganzen Prozedur hat das Mädchen nicht mit dem Zungenreden aufgehört. Ihr tranceartiges Verhalten steht in seltsamen Kontrast zu dem zielgerichteten Handeln. Warum hat sie mich für die Waschung ausgesucht? War es ihr eigener Einfall? Ich weiß nicht warum, aber ich habe nicht den Eindruck, dass die Zeremonie abgesprochen war. Die Beteiligten arbeiteten effektiv zusammen, aber das dürfte daran liegen, dass solche öffentlichen Waschungen häufig vorgenommen werden. Während des Vorgangs beobachtete ich an mir gemischte Gefühle. Die Wassersymbolik ließ mich gleich an eine Taufe denken, an die Initiation in eine Glaubensgemeinschaft. Da ich also den Eindruck hatte, Objekt einer Initiation zu werden, befürchtete ich, dass sich die Aufmerksamkeit der Gruppe auf ihr neues Mitglied richten würde. Doch soweit ich es in der Dunkelheit beurteilen konnte, nahm kaum jemand von dem Geschehen Notiz. Abgesehen von dieser Irritation, die mich davon abhielt, mich ganz auf das Ritual zu konzentrieren, gab es nichts, was mich an den Gesten gestört hatte. Dass der eigene Körper zum Objekt fremder Rituale wird, ist für Europäer eine seltene Erfahrung. Meine Eingebung sagte mir: Da jetzt etwas Außergewöhnliches passiert, sollte ich darauf achten, ob mich nicht ein sonderbares Gefühl ergreift: nicht eben der Heilige Geist, der von der Hand des Mädchens auf mich übergeht, aber wenigstens ein Hauch jener Erregung, der die anderen erfasst hat. Doch nichts dergleichen trat ein, kein hypnotischer Effekt, keine Inspiration, keine Exaltation, kein Gefühl der Verbundenheit mit der Gruppe. Da es mich nicht gepackt hatte, wusste ich nicht recht, worauf ich meine Gedanken richten sollte. Ich studierte die Bewegungen der Tänzer, blickte auf den sternenklaren Himmel, die Silhouetten der Palmen. Zum Glück war es eine finstere Nacht, ohne Mondlicht, dabei klar und windstill. Erleuchtet wurde der Platz nur von einer Handvoll Kerzen.

Nach der Zeremonie schickte mich der Mann zu den Tanzenden. Ich war etwas unschlüssig, ob ich mich bemühen sollte zu tanzen, um wenigstens etwas innere Erregung, Begeisterung oder Anteilnahme zu zeigen. Doch ich hatte keine Lust, Theater vorzuführen. Ich stand einfach unbeweglich in der Menge, ohne dass irgendjemand daran Anstoß nahm. Eine Frau neben mir, mit einem Kind auf den Rücken geschnallt, rührte sich genauso wenig wie ich. Eine andere, ganz in Weiß gekleidet, wälzte sich vor uns auf dem Boden. Banalität und religiöse Verzückung auf engstem Raum nebeneinander. Es scheint, als würde es die Anwesenden wenig interessieren, wie intensiv die Menschen bei der Sache sind.

Die Versammlung endete mit einem Gebet, nachdem die Trommeln plötzlich, ohne äußere Ursache, verstummt waren. Wir knieten nieder, ein Vorbeter ergriff das Wort, und der Chor antwortete in raschen Abständen. Als wir wieder aufstanden, sprach Ngozis Bruder noch kurz zu mir. Mit Blick auf die erloschenen Kerzen in seiner Hand erklärte er, ein wenig entschuldigend, dass es keinen Brennstoff für den Generator gebe.

18. Alor Uno, 25. Juni 95

<61>

Als ich gegen 18 Uhr eintreffe, habe ich das wichtigste Ereignis leider verpasst: eine Art Gemeindeversammlung. Einen kurzen Bericht erhalte ich von [Frederic] (der mit den blaugrünen Augen). Er erklärt mir, dass die Versammlung in den Gebäuden der Primarschule anberaumt war.

("Wie viele waren zusammengekommen?") – "Very many." Als Organisatoren waren gleich zwei Verbände aufgetreten: das Community Development Committee und FAPU: Federated Alor Uno Progressive Union, ein Zusammenschluss von Alor Uno-Gebürtigen, die im Exil leben, in anderen Bundesstaaten. Das Treffen war einberufen worden, um den Konflikt zwischen Christen und Traditionalisten zu schlichten. Deshalb war auch der chief mit seinen Anhängern da. Aber er zeigte sich uneinsichtig: Er werde nie zum Christentum übertreten. Außerdem pochte er auf sein Recht, den zerstörten Schrein wiederaufzubauen. Als Begründung führte er an, dass Adoro den Dorfbewohnern Schutz gewähre. In den Nachbarorten sei der Schrein gefürchtet, so dass niemand es wage, sich an den Kindern Adoros zu vergreifen. Das Treffen endete angeblich im Chaos. Doch dann heißt es genauer: Es wurde vorgeschlagen, ein Komitee zu gründen, das sich aus je zwei Vertretern aller relevanten Gruppen zusammensetzen soll. Gemeinsam soll man eine Verständigung über die Kultur und Tradition von Alor Uno erzielen.

Ein wenig später trifft Thompson ein. Ich frage ihn, ob man auf der Versammlung eine Petition vorgelegt habe, um den traditionellen Herrscher seines Amtes zu entheben. – Diesmal noch nicht. Das wäre taktisch unklug, denn fürs erste sind alle Interessengruppen geladen, um eine gütliche Regelung herbeizuführen. Würde man jetzt schon eine Konfrontation suchen, sähe es so aus, als wolle man aus persönlichen Gründen den chief loswerden. Besser ist es also, sich an dem Komitee zu beteiligen. Er selbst sei einer der beiden Delegierten der Mission; einer von Ngozis Brüdern werde wohl der andere Repräsentant sein. Man könne sich ohne Bedenken dem Komitee anschießen, weil die Traditionalisten dort in der Minderheit sein werden. Denn jede christliche Kirche im Ort soll zwei Repräsentanten schicken: neben der Mission also auch die Katholiken, Anglikaner, Presbyterianer, Zeugen Jehovas, Assemblies of God, Grace of God Church und Deeper Life Bible Church.

19. Alor Uno, 6. Sept. 95

<62>

Nach zwei Monaten zum ersten Mal wieder im Dorf, doch nur für eine halbe Stunde. Denn Ngozi ist nicht da, und auch Chuka, Thompson und andere sind verreist.

Überall Stagnation. An der Straße liegt weiterhin nur ein kleines Häufchen von idols. Die clean-ups hat man eingestellt, da Ngozi nun schon seit zwei Monaten verreist ist. Nach Auskunft ihres Bruders ist sie dabei, in Kano eine neue Mission zu errichten. Man will mir ihre dortige Adresse besorgen, so dass ich bei meiner Reise in den Norden Erkundigungen nach ihr anstellen kann. Im Oktober ist sie angeblich wieder zurück, und dann soll es mit den clean-ups weitergehen.

Immerhin heißt es, dass man im Kampf gegen die Traditionalisten kein Terrain verloren hat. Die Anhänger des Adoro-Kults versuchen zwar sich zu reorganisieren. Sie planen, den Schrein wieder aufzubauen. Aber bislang ist noch nichts Praktisches geschehen. Die Mission kommt freilich auch nicht voran. Der Bau des Heilerzentrums stockt, weil es an Geld fehlt, um Zement zu kaufen. Seit Juni kein Fortschritt. Vielleicht ist es schon ein Erfolg, dass sich zum abendlichen Gebet weiterhin an die 100 Gläubige versammeln, meist Frauen mit weißen Hauben.

Man freut sich, mich wieder zu sehen, denn es hat Gerüchte gegeben, ich sei bei der Ausreise am Flughafen Lagos verhaftet worden, mit Jujus im Gepäck, die ich außer Landes bringen wollte. Ich versichere, dass ich nie irgendwelche Jujus eingesteckt habe, das könne doch jedermann von ihnen bezeugen. Sie nicken und erklären abwiegelnd: Sie hätten den Gerüchten auch gar keinen Glauben geschenkt.

Beim Weggehen läuft mir Ngozis Bruder hinterher und erkundigt sich, ob ich den Walkman für Ngozi mitgebracht habe. Der Walkman liegt im Auto; aber ich habe keine Lust, ihn jetzt schon herauszurücken. Wer weiß, was mit ihm passiert.

20. Beverley Hills, 7. Sept. 95

Gespräch mit Daniel.

<63>

("Gibt es eine Möglichkeit zu sehen, wie Zauberei betrieben wird?") – Du musst zu einem dibia gehen. Dort kannst du zuschauen, wie Jujus zubereitet werden. Aber du würdest es nicht verstehen, es sei denn, dass du selbst Zauberei praktizierst. Um das zu lernen, müsstest du eine Absprache mit dem dibia treffen. Aber Ngozi würde es nicht mögen, dass du Zauberei lernst.

Viele Leute gehören geheimen Kulten an, Sie machen eine Menge Geld durch die Hilfe übernatürlicher Mächte, aber sie werden nicht glücklich dabei. All die Reichen und Mächtigen sind Mitglieder von Kulten. Um initiiert zu werden, begehen junge Männer Morde. Sie töten ihre Mutter, ihren Vater oder Bruder und benutzen die Leichenteile.

("Kennst du jemanden, der einen Ritualmord begangen hat?") – Es ist weit verbreitet. Aber selbst wenn ich jemanden wüsste, würde ich es nicht sagen. Es ist zu gefährlich. Ich frage mich nur, wie es im Westen ist? Gibt es andere Mittel, reich zu werden? Hier in Nigeria wird die Leiche des Getöteten mumifiziert, man ruft den Namen des Opfers, und schon fließt das Geld. Das geschieht in verschlossenen Räumen, zu denen niemand Zutritt hat.

("Hast du schon mal einen solchen Raum gesehen?") – Nein, aber es gibt Leute, die sich von solchen Kulten gelöst haben und darüber berichten. Ihre Bekenntnisse findest du auf Audio-Cassetten, die von christlichen Kirchen vertrieben werden.

Wenn ich reich werden wollte, würde ich mich initiieren lassen, und innerhalb von zwei Jahren wäre ich reich. Aber ich würde das nie tun. Ich will nicht mein Leben ruinieren.

21. Beverly Hills, 17. Sept. 95

Gespräch mit Daniel.

<64>

"Als Ngozi [am 18. März] die Hexe identifizierte, bestätigten alle, dass es eine Hexe ist. Ngozi ließ sie nicht verprügeln, weil du dabei warst. Normalerweise schlägt man die Hexen oder zwingt sie, niederzuknien und einen Holzblock über dem Kopf zu halten. Meist werden sie mit Ruten geschlagen".

"Willst du, wenn du so viel darüber wissen willst, selbst eine Hexe werden?"

("Würde mich jemand initiieren?") – "Ja, natürlich. Du müsstest Blut trinken und Menschenfleisch essen. Ngozi ist selbst eine Hexe. Sie weiß, wenn jemand etwas Schlechtes über sie sagt."

22. Alor Uno, 17. Sept. 95

<65>

Wie schon in der Woche zuvor traf ich mit großer Verspätung zum Gottesdienst ein, gegen halb 11. In die Arena waren wieder einzelne Gläubige gezogen worden, die von weiß gekleideten Frauen behandelt wurden: Hand auflegen, mit heiligem Wasser segnen etc. Eine der Weißgekleideten begeisterte die Zuschauer durch ihre zupackende Art. Stämmig gebaut, mit kräftigen Muskeln, griff sie sich einen der Männer, warf sich den massigen Körper über die Schulter und fing an, um den Platz zu rennen. Der Bursche hatte Angst, zu Boden geschleudert zu werden, bewahrte aber die Fassung. Als Madame ihn die Schultern herunterrutschen ließ, blieb er einfach flach ausgestreckt auf dem Boden liegen, und die Behandlung begann. Sie stellte sich mit breit gespreizten Beinen über ihn, klemmte ihm die Hüften ein, beugte sich über sein Gesicht, rieb ihm die Brust, zerrte den Kopf hin und her, richtete den Burschen wieder auf und machte sich weiter an ihm zu schaffen. Und das alles mit energischen, fast gewaltsamen Bewegungen. Schließlich schickte sie ihn wieder in die Reihen der Zuschauer. Ihre Kraft war aber noch nicht erschöpft, und so griff sie sich ihren nächsten Patienten. Diesmal eine Frau mittleren Alters, etwas leichter gebaut. Wieder ging es mit ihr auf dem Rücken im Laufschritt, manchmal im Galopp um den Dorfplatz herum. Die Zuschauer waren so entzückt, dass sie von den Bänken aufstanden und sich nach vorne drängten. Dazu heftiges Trommeln, Händeklatschen.

Ich selbst fand auch ein wenig Betreuung. Jene ältere Frau, die am letzten Sonntag sich ziemlich aufreizend an einen knienden Mann gedrängt hatte, war wieder in milder Trance, tänzelte auf mich zu, dann um mich herum. Ich versuchte etwas auszuweichen, der Tanzenden Platz zu machen. Aber mein Nachbar flüsterte mir zu: "Knie nieder". Die Frau schmiegte sich von hinten an mich, streichelte mir die Brust, rieb oder massierte sie mit rhythmischen Bewegungen, arbeitete sich dabei mit den Händen immer tiefer herunter, knapp an meinen Genitalien vorbei bis zu den Oberschenkeln, ergriff meine Hand, hielt die Schulter fest und dehnte meinen Arm, ähnlich wie bei einer Massagebehandlung. Danach der andere Arm. Auf die Handteller strich sie mit dem Zeigefinger einige Kreuzzeichen. Dazu rhythmisches Stammeln, in dem immer wieder das Wort "Jesus" herausklang.

Offenbar hat jeder die Möglichkeit, seine spirituellen Fähigkeiten anzuwenden. Eine Art Happening, mit vielen Geistheilern und Medien, die sich freien Lauf lassen. Allerlei bizarre Gestalten sind zu beobachten: An den Bänken vorbei schiebt sich, auf allen vieren krabbelnd, eine junge Frau. Mit langsamen Bewegungen, kriechend, zieht sie eine Schleifspur im Sand hinter sich her. Nach ein paar Minuten hat sie die Reihen der Zuschauer hinter sich gebracht und irrt am Rand des Geschehens, zwischen den Kindern, herum. Niemand nimmt Anstoß. Man rückt die Füße zur Seite, um sie passieren zu lassen.

Während der Kollekte, schon am Ende der Veranstaltung, eine weitere skurrile Gestalt: ein Mann, der sich nur mit trippelnden Schritten bewegen kann, weil er die Füße mit Eisenkette und Vorhängeschloss zusammengekettet hat. Er schleppt sich mühsam bis zum Opferstock, einem Emailletablett, auf dem das Geld gesammelt wird. Als ich frage, was mit ihm los sei, heißt es: "Er ist geisteskrank." Das schließt ihn freilich nicht aus dem Kreis der Gläubigen aus.

<66>

Zunächst hatte ich angenommen, dass die Kette an den Füßen eine Art der Selbstkasteiung sei, Teil einer religiösen Bußübung. Von den Philippinen wird berichtet, wie sich die Christen selbst martern, in aller Öffentlichkeit. Aber unter den Igbo, so scheint es, treiben solche Gelüste niemanden um. Keine Selbstzerknirschung, Reue. Immer nur der Versuch, sich Vorteile zu verschaffen: Geld, Gesundheit, viele Kinder, ... und alles Böse für die Nachbarn. Auffällig ist auch, dass andere Elemente des Christentums fehlen. Keine Kommunion, keine Mysterien um die Gegenwart Gottes. Der Gottesdienst hat für mich keinen erkennbaren Höhepunkt, kein Moment des Schweigens, der Besinnung, der Versenkung. Kein Glockengebimmel, kein Weihrauch, keine geheiligten Objekte wie Monstranz und Altar, kein Spiel von Verhüllung und Offenbarung. Nur das geweihte Wasser hat einen gesonderten Status. Doch wie wird es aufbewahrt? In alten Plastikflaschen und Kanistern, ohne jeden Zierrat, ohne Ornamente.

Der Prediger ist wieder der bärtige junge Mann im knöchellangen Kittel. Wie sich später herausstellt, stammt er nicht aus Alor Uno. Er wurde geschickt, wie er mir in gebrochenem Englisch erklärt. Worüber er gepredigt habe? – "About Love". – Es fällt gleich in die Augen, dass er seine Zuhörer nicht so in seinen Bann ziehen kann wie Ngozi. Wenn Ngozi für einen Moment einhält, hängt alles an ihren Lippen und wartet, was sie sagen wird. Ihr Lächeln, ihre Koketterie, die Selbstgefälligkeit, wenn sie ein paar Schritte läuft und alle Blicke auf ihrem Körper weiß. Der Ersatzprediger ist ebenfalls ein gewandter Redner. Aber er weiß seinen Körper nicht so geschickt einzusetzen, arbeitet nur mit der Stimme, und die ist laut und klar, aber etwas schneidend. Wenig Ausstrahlung, und wenn überhaupt, dann die Aura des Eiferers, mit asketisch-fanatischen Zügen. Nach dem Ende des Gottesdienstes wandert er etwas verloren herum. Mag sein, dass seine Nähe nicht gesucht wird.

Bei der Kollekte gab’s diesmal nicht zwei Durchgänge, wie am letzten Sonntag, sondern drei. Der letzte und wichtigste war dazu gedacht, Geld für den Bau des Heilerzentrums zu sammeln. Einer der Weißgekleideten gab den Zweck der Sammlung speziell für mich auf Englisch bekannt. Nicht alle Versammelten traten in einer Prozession zur Kollekte an. Manche traten allein vor, beugten oder knieten sich nieder, legten Geldscheine aufs Tablett. Sobald die Spendenlaune erschöpft war, begannen drei, vier Offizielle die Geldbündel zu sortieren: blau, grün, rot und violett, und dann zu zählen. Das Ergebnis wurde in einer Kladde notiert und öffentlich verkündet: 1760 Naira. Applaus. Fast die Hälfte des Betrages stammte aus meiner Tasche.

Nach dem Ende der Veranstaltung schwärmten die Menschen auf dem Platz umher. Vor allem Kinder sammelten sich vor den Wasserkanistern, wurden getränkt und gespeist, und zwar mit Keksen. Die Attraktion des Tages bekamen wir erst nach dem Gottesdienst zu sehen, ein dunkelblauer Mercedes E-Klasse. Mindestens zehn Jahre alt. Ein Anhänger Ngozis, der erst zwei Tage zuvor aus Kano eingetroffen war und die Grüße Ngozis übermittelte, hatte den Wagen frisch erworben. Er fuhr den Wagen gleich mitten auf den Gebetsplatz, den niemand mit Schuhen betreten darf, und sofort war der Mercedes von Schaulustigen umringt.

Zu den Neuigkeiten aus Kano gehört, dass Ngozi am 1. Oktober in Alor Uno eintreffen wird. Vom 21. Oktober an soll dann ein siebentägiges Fest stattfinden.

23. Kano, 24. Sept. 95

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Ich war nicht ganz sicher, ob ich Ngozis Mission in Kano finden würde. Aus Alor Uno hatte ich nur einen Zettel mitgebracht, mit einigen Namen und Adressen darauf gekritzelt. Ich fuhr einfach nach Sabon Gari, ins Christen-Viertel, und fragte nach 21 Weather Head, Emeka Ogbu. Auf diese Weise gelangte ich zu einer Apotheke. Emeka war zwar nicht da, dafür zwei andere Männer aus Alor Uno. Sie kannten Ngozi und brachten mich direkt zur Mission in der Burma Road, schräg gegenüber einer Aladura-Kirche.

Die Mission besteht einfach nur aus einem angemieteten Raum, oder genauer zwei Räumen, zwischen denen man die Trennwand zum Teil eingeschlagen hat. Zusammen etwas weniger als 100 Quadratmeter. Beide Räume sind fensterlos, nur mit großen Eisentoren zur Straße hin. Wahrscheinlich als Geschäftsräume gedacht. Obwohl sie nebeneinander liegen, ist der rechte Raum mehr als einen halben Meter höher gelegen, und da er etwas geräumiger ist, befindet sich das einzig auffällige Möbelstück, ein langgezogener Tisch, hier an der Stirnseite. Mit einem weißen Tuch bedeckt wirkt er vornehm-feierlich, wie ein Podium. Auf ihm liegen nur eine Bibel und eine große Schelle, wie bei einer Auktion. Ansonsten ist der (Halb)Saal schmucklos. Über dem Podest prangt nicht das Kruzifix, sondern eine Wanduhr. Nichts deutet auf ein Gotteshaus hin, es sei denn, die sieben oder acht hölzernen Bänke für die Gemeinde. Nicht einmal ein Schild an der Straße oder ein Kreuz über dem Eingang. Im unteren Raum stehen in der hinteren Ecke zwei riesige Metallbehälter, dazu Plastikkanister mit heiligem Wasser, einige Musikinstrumente: Bongos, Tamburin, Holzklötze und eine gut erhaltene Akustikgitarre. Die beiden Räume wurden erst vor einigen Wochen angemietet, und die Umbauarbeiten sind gerade erst fertig geworden. Der Schutt der heraus gebrochenen Zwischenmauer liegt noch vor den beiden Toren, die Wände sind (noch) nicht frisch gestrichen. Überhaupt sieht man nicht die geringsten Anstalten, das Gotteshaus zu verschönern: radikaler Spiritualismus, so als sei alles Äußerliche nichtig. Immerhin ist der höhergelegene Raum in etwas verblichenem Königsblau gestrichen, was einen geheimnisvoll spirituellen Eindruck macht.

Bei meiner Ankunft sind etwa zehn Personen anwesend, darunter Fidelis, der Prediger, der zusammen mit Sister nach Kano gezogen ist und in ihrer Abwesenheit die Gemeinde leitet. Ngozi ist leider am Dienstag, den 19., nach Kaduna gereist, wieder zu Missionszwecken. Statt Ngozi treffe ich einen anderen Bekannten aus Alor Uno, Brother Festus Nkpozi. Er ist auch gerade erst in Kano eingetroffen und hat Ngozi knapp verpasst. In Nsukka hatte er einen Traum, in dem er die Aufforderung erhielt, zu Ngozi nach Kano zu reisen. Also packte er seine Sachen und brach auf, ohne der Familie Bescheid zu geben.

Die Mitglieder der Gemeinde sind längst unterrichtet, dass ein weißer Lektor aus Nsukka eintreffen soll, und so werde ich herzlich begrüßt. Fidelis erkundigt sich, ob ich zur Mission gehöre, und Festus bedeutet ihm: "Er ist ein Mitglied, er betet mit uns." Ich lasse ein Dutzend Cola-Flaschen kommen, damit wir ungezwungener plaudern können. Nicht alle der Anwesenden stammen aus Alor Uno. Ein junger Mann, der seit 13 Jahren in Kano lebt, aber in Anambra geboren ist, fragt sogar nach, was oder wo Alor Uno ist. Es heißt, dass einige Anhänger Yoruba und Bendelites seien. Deshalb würde bei den Versammlungen mehr Englisch gesprochen oder aus dem Igbo ins Englische übersetzt. Hausa jedoch gebe es in der Mission keine.

Festus drängt mich aufzustehen: Man wolle für mich beten. Wir begeben uns aus dem unteren Halbsaal ins Hochparterre. Ich soll niederknien, und zwar in Richtung auf das Podium. Die Gemeindemitglieder versammeln sich im Kreis um mich. Fidelis leitet sie an im Gebet. Mehr als in Alor Uno wird auf Englisch gesprochen, und so erfahre ich, dass es ein großes Repertoire von genormter Rede und Gegenrede gibt.

‘Lord protect our brother on all his journeys.’

‘Protect him.’

‘Lord, reject all the evil spirits that attack him.’

Reject them.’

‘Protect him against Wizards.’

‘Protect him.’

‘Reject Mama Wata spirits’

‘Reject them.’

"I want to hear your voices." – Um mich herum lautes Zungenreden. Zum Schluss wird mir ein Plastikbecher mit heiligem Wasser gereicht. Ich akzeptiere, erkläre aber, dass ich nur einen kleinen Schluck trinken werde.

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Während wir auf den Holzbänken kauern, kommen immer wieder Menschen vorbei, die mehr oder weniger eng mit der Gemeinde verknüpft sind. Festus ist freilich der einzige, der die Missionsuniform trägt. Die meisten Männer sind nach westlichem Vorbild gekleidet, Hose mit Büelfalten und bunte Hemden. Sie sehen aus wie gewöhnliche Geschäftsleute, nichts gemahnt an religiöse Eiferer. Die Tore sind zur Straße hin geöffnet, jeder kann nach Belieben hineinschauen und eintreten. Es ersetzt die Straßencafés oder Gasthäuser. Ein Versammlungslokal ohne die Laster kommerzieller Vergnügungen: keine Biersaalatmosphäre, keine Prostituierten, kein Zwang, Geld auszugeben. Keine Gefahr, sich als Frau einen üblen Ruf zuzuziehen.

So wie ich werden sicher auch andere Kirchenmitglieder empfangen. Nach einer Reise von mehr als 1000 Kilometern gelangt man in einen Kreis, der einen sogleich bewirtet und rituell aufnimmt. Vielleicht ist es auch deshalb für Ngozi und Ihre Anhänger verlockend, ein Netzwerk von Gemeinden in ganz Nigeria aufzubauen. Man lässt sich dann als Besucher oder Geschäftsreisender von Gemeinde zu Gemeinde herumreichen. Ngozis Tour durch 14 Bundesstaaten, von einer Igbo-Community zur nächsten, mag ihre Kirche konsolidieren.

Ich hatte versprochen, zum Abendgebet um 18 Uhr zurück zu sein. Ich komme auch pünktlich, und als ich den Jeep vor der Mission parke und auf den Eingang zulaufe, fällt mir plötzlich Ngozi ins Auge. Sie hat von meiner Ankunft gehört, kommt mir vor der Kirche entgegen. So wie ich ist auch sie gerade erst in Kano eingetroffen, früher als erwartet, direkt von Kaduna kommend. Ich werde in die Mission geleitet und mische mich unter die Gläubigen. In ihren Ansprachen und Predigten verwendet Ngozi deutlich mehr Englisch als in Alor Uno. Ihr Englisch ist seit ihrer Ankunft in Kano auch deutlich besser geworden. Eine längere Passage ist ausschließlich mir gewidmet. Der Gemeinde wird erklärt, dass ich mich auf den langen Weg nach Kano gemacht habe, um Ngozi zu sehen. Dass ich mich an der Mission in Alor Uno beteiligt habe, obwohl ich ein Weißer sei. Aber seine Hautfarbe könne niemand ablegen. Gott habe mich weiß geschaffen, also bleibe ich weiß. Gott habe andere schwarz geschaffen, und so bleiben sie schwarz. Dazu noch eine Bekräftigung, dass ich unter ihrem Schutz stehe: "Where there is a river, I will follow him into the river. Where there is fire, I will follow him into the fire."

Der Gottesdienst dauert nicht allzu lange, vielleicht weil nur ein Teil ihrer Anhänger von ihrer Ankunft gehört hat. Vielleicht auch, weil sie an diesem Abend anderes vorhat. Sie trifft einige Arrangements mit Fidelis; es geht – glaube ich – um Gebete oder Bußübungen, die ihre Anhänger nun absolvieren sollen, und zwar unter Fidelis’ Aufsicht. Denn sie selbst wendet sich zum Gehen und ruft mir zu: "Let’s go." Wir steigen in meinen Jeep. Ich frage, in welche Richtung ich steuern soll. Sie gibt Anweisung, zu wenden und links abzubiegen. Doch dann heißt es "Stop". Ngozi kehrt noch mal in die Mission zurück und holt ihre Vertraute [Ijioma], eine vielleicht 30-jährige Frau, wenig attraktiv. Mager, etwas vertrocknet, erinnert sie mich an eine Kammerzofe. Offenbar begleitet sie uns als Anstandsdame, denn ich erfahre bald, dass die Gläubigen mich im Verdacht haben, Ngozi nachzustellen. Zwischen Ngozi und der Zofe herrscht eine enge Vertrautheit. Beide sind seit Monaten zusammen, teilen die Entbehrungen der Pilgerfahrt. Trotzdem bleibt die Zofe stets unterwürfig, hält sich im Hintergrund. Unsere Fahrt führt uns nur 200 Meter weiter, über die nächste kleinere Kreuzung. Ngozi möchte mir zeigen, wo sie wohnt. Wir treten in einen düsteren Hauseingang, gleich neben einem Friseurladen. Es ist längst dunkel, zwischen 19 und 20 Uhr, so dass ich in dem unbeleuchteten Flur vorsichtig vorantappe. Wir betreten einen Raum von circa zehn Quadratmetern, blau gestrichen, mit grünlichem Plastikboden. Spärliches Mobiliar: ein Sitzelement für mich, eins für Ngozi. Wir sitzen uns gegenüber, zwischen uns zwei Kerzen, denn der Strom ist ausgefallen. Die Zofe auf dem nackten Boden. Auch einige der jungen Männer, die später hinzukommen, setzen sich auf den Boden.

Ngozi hatte mich unterwegs gefragt, ob ich Gari mag. Ich nicke, erkläre aber, dass mir Yams besser schmeckt. Außerdem esse ich kein Fleisch. Sie nickt eifrig und versichert mir, dass sie ebenfalls kein Fleisch zu sich nehme. Sie werde ein Essen für mich zubereiten lassen. Zuvor aber sollten wir uns ‘das Video’ anschauen. Bei ihr gibt es natürlich keinen Videorecorder. Wir sitzen uns einfach gegenüber, und ich überlasse es Ngozi, ein Gesprächsthema zu finden. Sie spricht von den Gerüchten, die über mich kursierten: dass ich die Jujus aufgekauft hätte, um sie nach Deutschland zu bringen. Neu ist allerdings eine andere Version: Die Leute erzählten, ich sei nach Alor Uno gekommen, um Ngozi zu heiraten. Niemand hätte gewusst, warum sonst ich immer wieder auftauchte, ohne mich direkt an den gemeinsamen Riten zu beteiligen. Als Ngozi nach Kano verschwand, hätten die Leute angenommen, sie sei mit mir fort gegangen. – Ist das Ngozis Erfindung? Oder wurde das tatsächlich gemunkelt? Immerhin bin ich weiter im Dorf aufgetaucht und habe mich nach Ngozi erkundigt.

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Ngozi äußert sich unwillig, fast verächtlich über derartige Gerüchte: ‘Das kommt nur daher, weil unsere Leute ignorant sind.’ Ich versuche zu bekräftigen, wie haltlos solche Unterstellungen sind, indem ich darauf verweise, dass sie doch verheiratet sei. Aber das bestreitet sie heftig. Und nun höre ich the story of her life. Vater und Mutter sind sehr früh gestorben, beide als Opfer Adoros, und sie wurde zu jenem Mann in Anambra gegeben, den sie später heiratete.

("Warum hat niemand ihrer Angehörigen sie aufgenommen?")

"Weil Adoro ihre Familie zerstört hat. Die Leute hatten Angst."

("Lag ein Fluch auf den Kindern der Familie?")

"Ja, ein Fluch. Niemand im Dorf hat sie und ihre Brüder aufgenommen. Kein einziger von allen."

("Auch nicht ihr Onkel, Chukas Vater?")

"Nein. Er ist der jüngere Bruder ihres Vaters, aber er hat sie davon geschickt. Auch ihre Brüder wurden nicht länger in Alor Uno geduldet. Sie kamen weg in den ‘Busch’."

Es bricht eine ungeheuere Verbitterung aus ihr heraus: "Aber Gott hat die Bosheit all dieser Menschen offenbart." Chukas Vater, der sie damals mit verbannt hat, kommt heute unterwürfig zu ihr und bekundet seine Loyalität. All diese Leute bitten sie nun um Hilfe.

In das Verhältnis zu den Mitbrüdern und -schwestern mischt sich offenbar viel Hass und Verachtung. Fühlt sie sich zumindest den jungen Männern und Frauen ihrer Generation verbunden? Ihre Zofe sowie zwei, drei Männer, die sich zu uns gesellt haben, hören ungerührt zu. All die Geschichten sind ihnen vertraut. Jeder scheint zu wissen, dass es um Verrat und Opportunismus geht. Auch Ngozis Onkel dürfte wissen, dass seine Nichte ihn nicht mag. Vielleicht bin ich der einzige, der nicht in dieses Netz von Bosheiten verstrickt ist.

Auch in Anambra ist es ihr nicht gut ergangen. Alle im Dorf haben sie mit Verachtung behandelt, weil sie nicht auf respektable Weise eine Ehefrau wurde. Denn ihr Mann hat nie einen Brautpreis für sie gezahlt. Ihr Vater und ihre Mutter lebten ja nicht mehr, und die Brüder waren zu klein. Ihre Onkel haben sie einfach weggegeben, ohne Geld für sie zu verlangen, wie etwas Wertloses. Sie wurde verstoßen, man wollte sie nur loswerden, wie etwas Böses. Die Leute in Anambra haben daher gesagt: "She was dashed away." "She was for free."

Ich erzähle, dass man in Europa und Asien nichts für die Bräute zahlt. Sie sind alle for free. Ja man bekomme sogar noch Geschenke, wenn man eine Braut nehme. Nur in Afrika sei es anders. – Sie hört fasziniert zu, lacht dann: "Wenn ich ein Mann wäre, würde ich nach Deutschland gehen und dort heiraten, um reich zu werden."

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Auch ihr Ehemann hat sie nicht in Schutz genommen. Ganz im Gegenteil. Er hat sie schlecht behandelt. Sie hatte nicht einmal Essen. Deshalb musste sie in den Busch laufen und Mangos pflücken, um sie auf dem Markt zu verkaufen. Erst Gott hat sie aus diesen Verhältnissen erlöst. Er hat sie zur Prophetin gemacht, ihr Kräfte gegeben, so dass jetzt alles in Alor Uno zu ihr läuft und Hilfe erfleht. Selbst ihr Mann hat plötzlich um sie geworben. Als er hörte, dass sie nun eine Prophetin sei, schickte er eine Delegation von fünf Männern, um sie zu bitten zurückzukommen. Drei Mal ist die Delegation gekommen, und Ngozi hat sie jedesmal abgewiesen. Wie kann der Mann erwarten, dass sie zurückkehrt? Er hat ja eine andere Frau geheiratet. Noch dazu eine, die schwanger war, und nicht einmal von ihm. Er drohte Ngozi sogar, das Gericht einzuschalten, um sie zu zwingen, zu ihm zurückzukehren. Dabei hatte er nicht einmal Brautpreis für sie bezahlt.

(Als ich am folgenden Tag von ihrem ex-husband spreche, reagiert sie heftig: "Nenn ihn nicht meinen Mann. Ich habe keinen Mann. Als ich nach Abuja fuhr, um meine Kirche registrieren zu lassen, habe ich mit ‘Fräulein’, nicht mit ‘Frau’ unterschrieben."

Zu dem Unrecht, das sie erlitten hat, gehört auch, dass das Land der Familie an Adoro gefallen ist, d.h. es wurde Busch, verwilderte. Doch jetzt sind ihre Brüder erwachsen, und sie können das Land wieder für sich reklamieren.

("Um Yams darauf zu pflanzen?")

"Ja. Und wenn sie wieder heiratet, können die Brüder das Brautgeld für sie fordern."

("Wie alt war sie, als die Eltern ermordet wurden?")

"Noch sehr klein. Nicht alt genug für die Primarschule. Leider weiß sie nicht, wie alt sie ist."

("War es wirklich Adoro, der die Eltern getötet hat?")

"Ja, es war Adoro."

Das steht allerdings im Widerspruch zu einer Episode, die sie kurz darauf erzählt: Einer ihrer Onkel erklärte öffentlich vor allen Leuten, dass er Ngozis Vater getötet habe. Es ist der Mann, der gleich neben dem Missionszentrum lebte. Ngozi ist mit ihren Anhängern in sein Haus eingedrungen und hat ihm die idols geraubt. Doch er lachte und sagte: "Ich habe so viel Geld, ich kann mir neue kaufen."

("Wo?") – "In Enugu Ezike. Ngozi hat ihm gedroht: Wenn er sich wieder idols besorge, werde er sterben. Und wenig später war er tot. Am 1. Januar 1995 fiel er auf dem Weg zu seinen Feldern einfach tot um. Danach attackierte sie den Adoro-Schrein. Sie war allerdings nicht die erste, die versucht hat, den Schrein zu zerschlagen. Vier oder fünf ihrer Vorgänger sind bei dem Unternehmen gestorben, darunter ein Mann, der begonnen hatte, einen Baum in der Nähe des Schreins zu fällen. Aus dem Baumstamm floss Blut. Drei Tage später war er tot."

("War es tatsächlich Blut?") – "Ja. Aber als ich den Baum gefällt habe, floss kein Blut."

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Ngozi entschwindet ins Nebenzimmer. Nach einer Weile wird mir ein Plastikteller mit Reis vorgesetzt. Niemand der anderen Anwesenden isst etwas. Ich erfahre, dass Ngozi Thompson zu mir geschickt hat, um mich über die Gründe für meine Alor-Uno-Besuche auszuforschen.

Sie erteilt das Kommando zum Aufbruch. Drei junge Männer steigen in einen weißen VW-Käfer ein. Ich soll ihnen mit meinem Wagen folgen. Ngozi zieht es vor, mit mir zu fahren. Die Zofe auf der hinteren Sitzbank. Der VW jagt in der Dunkelheit so schnell durch die Straßen von Sabon Gari, dass ich Schwierigkeiten habe zu folgen. Ein Menschengewimmel auf den Straßen. Riskante Ausweichmanöver. Wir halten vor einer Häuserzeile, die ähnlich ärmlich wirkt wie Ngozis Nachbarschaft. Es geht durch einen finsteren Hinterhof. Eine Tür öffnet sich, und wir betreten zu sechst oder siebt ein 8-Quadratmeter-Zimmerchen, vollgestopft mit Möbeln, Stereoanlage, Fernseher und Videorecorder. Alles abgenutzte Geräte, der TV nur mit Schwarz/Weiß-Bild. Unsere Gastgeberin erklärt, wie der Videorecorder funktioniert. Doch er scheint defekt zu sein. Bei Ngozi stellt sich üble Laune ein. Ihre Jungs versuchen ihr Bestes, um ihre Wünsche zu erfüllen, aber nichts will klappen. Wir gehen zurück auf die Straße, die Videokassette in der Hand. Aber wohin nun? Der VW-Fahrer hat offenbar eine Idee, und Ngozi schlägt vor, dass er zunächst ohne uns losfährt, um unter Bekannten einen intakten Videorecorder zu finden. Ngozi, ich und die Zofe bleiben bei meinem Auto zurück. Auf der spärlich erleuchteten Straße fühle ich mich nicht gerade sicher. Ich frage Ngozi, ob sie Musik hören will, und sie nickt. Allerdings hat sie keine Ahnung, wie man meinen Walkman bedient. Ich drücke die play-Taste, stelle die Lautstärke leiser. Ngozi hört "Shiny Happy People" von REM, danach Bee Gees und noch mehr easy listening. Als die Kassette zu Ende ist, bin ich unschlüssig, ob ich ihr die Rückseite präsentieren soll: Pink Floyd, gefolgt von The Art of Noise, psychedelische Musik, die sich leicht als satanisch missverstehen ließe. Welchen Eindruck bekommt sie von mir? Doch sie hört sich die Musik völlig kommentarlos an, führt mit dem Kopfhörer über den Ohren weiter Konversationen, so als ließe sie die Musik unberührt. Den Kopfhörer mag sie freilich nicht abnehmen, auch nachdem die Kassette längst abgelaufen ist.

Ich warte auf dem Beifahrersitz, bei geöffneter Tür. Sie steht vor mir, an den Kotflügel gelehnt. Ohne sie zu fragen, hole ich eine Flasche Wasser hervor und reiche sie kommentarlos zu ihr herüber. Sie fragt mit verwundertem Blick: "Woher weißt du, dass ich durstig bin?" Und nach kurzem Bedenken: "Hast du auch Visionen?" Ich lächle und schüttele verneinend den Kopf.

Der VW kehrt zurück. Zusammen geht es weiter durch die Wildnis von Sabon Gari. Bei unserem nächsten Gastgeber werden wir bereits erwartet. Wieder ein bescheidenes Zimmerchen mit Heiligenbildern und Hightech (Stereo, TV, Video, Kühlschrank). Beim Eintreten wird mir bedeutet, dass ich die Schuhe anbehalten kann. Doch ich ziehe sie, so wie alle anderen es tun, aus. Ngozi ist ohnehin barfuß. Statt mich auf das geräumige Bett zu legen, wo mir ein Platz angewiesen wurde, kauere ich mich auf den Boden. Ngozi direkt neben mich. Während das Video anläuft, werden wir mit Coca Cola und Maltina [Malzbier] bewirtet.

Von 21 bis kurz vor 23 Uhr schauen wir uns den Film über die Mission an. Ngozi selbst ist erst gegen Ende des Films zu sehen. Ihr Auftreten zeigt wenig Irritation vor der Kamera. Ich finde sie recht telegen, und allem Anschein nach ist sie mit ihrem eigenen Erscheinungsbild ganz zufrieden. Nicht ein einziges Mal macht sie als Zuschauerin den Eindruck, als sei ihr eine ihrer Gesten im Film peinlich.

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Lebhafte Kommentare gibt es nur, als ein paar Soldaten ins Bild kommen: "Sie schickten diese Soldaten, um mich zu erschießen. Aber ich war nicht da." Es sei zu einem Kampf mit den Soldaten gekommen. Doch davon ist im Film nicht viel zu sehen. Ein kurzer black out der Kamera wird damit erklärt, dass der Kameramann in Panik die Flucht ergriffen habe. Wenige Szenen später sieht man einen Mann und zwei Frauen auf dem Boden sitzen, eine der Frauen in Handschellen: "Es sind Diebe. Sie versuchten uns zu bestehlen."

("Sind es Leute aus Alor Uno?") – "Ja."

Es ist außerdem noch ein junger Mann mit einem blau verquollenen Auge zu sehen. Es heißt, dass Gegner der Mission ihn angegriffen haben.

Von der Videovorführung geht es noch einmal zurück zu Ngozis Wohnung. Mir werden zwei Plastikteller mit Essen gereicht. Gebratene Yamsscheiben, dazu Soße mit Trockenfisch. Als ich ankündige, ins Hotel aufbrechen zu müssen, kommt leichter Unwille auf. Ich solle doch bei ihnen bleiben, als ihr Gast. Ich beharre darauf, dass ich gehen muss, verspreche aber, am nächsten Nachmittag zurückzukehren. Ngozi will mir nämlich Bompai Rock zeigen, wo sie monatelang gebetet und gepredigt hat.

24. Kano, 25. Sept. 95

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Wie verabredet komme ich nachmittags zur Mission, kurz vor 16 Uhr. Die Gläubigen sind zum Gebet versammelt, so dass es noch fast eine Stunde dauert, bis wir zum Bompai Rock aufbrechen können. Mich machen die nicht-enden-wollenden Gottesdienste ungeduldig. Ein Segen, dass ich nicht immer einem langweiligen Prediger zuhören muss wie Fidelis, sondern einer Frau mit Charisma. Mit den Worten "Let’s go" ruft sie mich von meiner Bank. Im Auto ist wieder die Zofe dabei, aber Ngozi wirkt ganz gelöst, nimmt auf ihre Begleiterin kaum Rücksicht. Für mein Gefühl spielt viel Erotisches in die Unterhaltung hinein. Ob die Zofe es ebenso wahrnimmt und an ihre Brüder und Schwestern weitererzählt?

Es wird eine Nacht voll absurder Begegnungen. Im Auto neben mir sitzend wirkt Ngozi nicht mehr wie eine Prophetin, und sie tritt auch nicht so auf. Eine abwegige Vorstellung, vor ihr niederzuknien und mich segnen zu lassen. Es ist eher umgekehrt so, dass sie sich von meiner Welt hat verführen lassen. Der Jeep gefällt ihr sehr gut. Hoch über den anderen Autofahrern thronend kommt man souverän durch alle Schlaglöcher. Außerdem hat sie wieder den Kopfhörer aufgesetzt. Die Kassette mit Fleetwood Mac und Roxy Music ist eingelegt. Nicht lange, und die Batterien sind leer. Aber Ngozi setzt die Kopfhörer nicht mehr ab. Im Gespräch mit einem anderen Propheten, auf Bompai Rock, hält sie stets den Walkman in der Hand.

Über ihre Abenteuer auf Bompai Rock hatte sie mich schon am Tag zuvor unterrichtet. Fünf Monate habe sie auf dem Berg zugebracht: "Rain has beaten me, sun has beaten me. But I did not leave." – Die Zeitangabe ist etwas übertrieben, denn seit ihrem Verschwinden aus Alor Uno sind noch keine fünf Monate vergangen. In ihrer Erzählung entsteht das Bild eines alttestamentlichen Propheten: Gott habe ihr im Traum erklärt, dass sie sich in ein Ziegenfell hüllen soll. Also habe sie sich ein Ziegenfell gekauft und sei 21 Tage lang damit herumgelaufen. Sieben Tage davon habe sie allerdings im Polizeigewahrsam verbracht.

("Wie ist sie wieder freigekommen") – Ngozi lacht. Die Geschichte amüsiert sie. In der Zelle habe sie beständig weiter gebetet und prophezeit, bis die Polizisten sie schließlich davon schickten. Bei ihrer Entlassung habe die Polizei noch auf sie eingeredet, Ngozi möge für sie beten.

("Aber die Polizisten waren Moslems.") – "Ja."

(Auf dem Rückweg zeigt sie mir die Polizeiwache. Um mir das Gebäude zu zeigen, hat sie extra einen anderen Weg gewählt. Als ich mich nicht gleich beeindruckt zeige, meint sie, wir könnten anhalten und die Polizisten besuchen: "Die erinnern sich noch gut an mich." Es war ihr ernst. Hätte ich angehalten, wären wir in der Wache gelandet, und ich weiß nicht, was sie alles angerichtet hätte. Gefahr scheint sie gar nicht zu bekümmern. Ganz im Gegenteil. Sie kann der Gefahr kaum widerstehen. Sie begibt sich bewusst an den Rand des Abgrunds, fordert die ganze Welt heraus. Um mir zu imponieren, hätte sie sich womöglich mit der Polizei angelegt und irgendeinen Zwischenfall provoziert.)

Bompai Rock ist ein Refugium für prekäre Existenzen, Prediger ohne Anhang, Priester ohne Kirche, Einzelgänger, Eremiten, Verrückte. Der Fels erhebt sich zehn bis fünfzehn Meter über die umliegende Ebene, ein langgezogener, rund geschliffener Steinblock, der unversehens neben der Straße auftaucht. Ngozi weist mich an, mit dem Wagen bis hinauf auf den Buckel zu fahren, und sie deutet genau auf die Route, die ich nehmen muss. Oben angekommen, sehen wir noch zwei, drei andere Wagen stehen. Wer mit dem Auto kommt, geht also möglichst keinen Schritt zu Fuß. Der Felsen ist freilich kein idyllisches Stück Natur. An drei Seiten ist er von Häusern umgeben; an der vierten Seite führt die Hauptstraße vorbei. Außerdem sieht man eine Reihe kleiner Hütten, provisorisch aus Gras oder Lehm errichtet. Einige etwas aufwendigere Bauten sind mit Wellblech gedeckt. Ngozi erklärt mir, dass sich darin verschiedene Missionen treffen. An einer Ecke finden sich die Hütten von drei, vier Yoruba-Gemeinden, daneben Igbo-Kirchen. Einige Kreuze, mit weißer Ölfarbe gemalt, zieren eine der Hütten.

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Auf dem Felsen selbst sind einzelne Bezirke ebenfalls mit weißer Farbe abgegrenzt, Linien und Quadrate wie auf einem Tennisplatz oder in einer Turnhalle. Ihr Zweck ist mir zunächst nicht klar, doch Ngozi klärt mich auf. Die einzelnen Areale gehören einzelnen Missionen; ihre Führer haben sich die 20 oder 30 Quadratmeter einfach angeeignet. Fremde oder rivalisierende Gruppen werden schonungslos aus dem eigenen Areal vertrieben. Ngozi lacht wieder: ‘Sie haben alle versucht, mich davon zu jagen. Alle haben gegen mich gekämpft.’

("Warum?") – Weil sie neidisch waren. Einige predigen hier seit 15 Jahren und haben immer noch keine Kirche gegründet. Sie deutet auf einen weißgekleideten Mann, etwa 100 Meter entfernt: Er sei der einzige, der freundlich zu ihr war. Es ist ein Bendelite. Als wir zu ihm gehen und ihn begrüßen, führen die beiden ihr Gespräch auf Englisch. Witzig zu hören, wie sich zwei Propheten über ihr Handwerk unterhalten. Der Mann aus Bendel ist offenbar nicht mit Erfolg gesegnet. Fünf Meter hinter ihm sitzt ein jüngerer Mann, der auf irgendeine Art zu ihm gehört. Um 18 Uhr will er sich mit anderen zum Gebet treffen. Er schaut auf die Uhr: Es bleibt noch etwas Zeit zum Plaudern. Ein eigenes Missionsgebäude besitzt der Mann aus Bendel anscheinend nicht. Doch er hört gelassen zu, wie Ngozi von ihrer eigenen, neu errichteten Station erzählt. Am Mittwoch, den 27. September, soll es ein Festival geben. Ob er nicht kommen möchte? Der Mann will sich nicht festlegen. "Um wieviel Uhr?" – "Um 6." – "Morgens?" – Ngozi lacht: "Nein. Abends." Es klingt durch, dass es abends doch bequemer ist.

Das Gespräch wendet sich dann den Kollegen zu. Einer der Ältesten einer Igbo-Kirche ist überraschend gestorben. Ngozi zeigt sich überrascht, ja fast entsetzt. Wie konnte so etwas passieren? Hat man ihm nicht prophezeit, was ihm droht? (Offenbar wurde ihm der Tod durch feindselige Wesen geschickt.) Die Episode gibt Anlass zu einigen religiösen Sentenzen: Es sei eine Gnade Gottes, dass wir überhaupt leben. Der Mann aus Bendel seufzt, stimmt dem zu. "Ja, wir müssen glücklich sein, dass wir ..." Doch gleich nimmt das Gespräch wieder eine heitere Wendung. Ngozi deutet auf einen einsamen Prediger, der soeben den Hügel erklommen hat und mit wehendem weißem Gewand wild in der Luft fuchtelt: "Er hat immer gegen mich gekämpft. Immer wenn ich an seinem Platz vorbeikam, versuchte er die bösen Geister zu vertreiben. Er kam mit einer roten Kerze, nur um gegen mich zu kämpfen." Ngozi kichert vor Vergnügen: "Schau ihn dir an. Er hat gesehen, dass ich vorbeikam, und deshalb fing er an zu beten." Sie lässt keinen Zweifel daran, dass sie ihn für einen Verrückten hält. Von weitem sieht er wirklich wie eine Art Don Quixote aus. Mit exaltierten Bewegungen scheint er angreifende Dämonen vertreiben zu wollen. Später im Auto erfahre ich noch: "Dieser Mann hat prophezeit, dass ich nie eine Station in Sabon Gari eröffnen werde. Eher würde er sterben", und dabei schaut sie mich triumphierend an.

Die Fachsimpelei zwischen Ngozi und ihrem Kollegen wendet sich schließlich einem anderen Thema zu, der eigenen Kundschaft, die immer wieder Anlass zur Sorge gibt. Beiden ist wohl bewusst, dass sich viele Verrückte darunter mischen. Ngozi berichtet von einem ziemlich krassen Fall. Ein Igbo-Mann, der sich nur deshalb unter ihre Gefolgschaft gemischt habe, weil er es auf sie abgesehen hat. Neulich, im Einzelgespräch, machte er keinen Hehl aus seinen Absichten. "Er erzählte mir die Geschichte von diesem Julius Caesar, der die Frau, die er liebte, umgebracht hat." Dazu erzählt er noch eine andere Geschichte, die offenbar unter Igbo spielte. Ein Mann sah sich in seiner Liebe verschmäht. Die Frau wählte einen anderen. Er ging zu ihr, zog sie beiseite und fragte, was mit ihrer Liebe sei. Dann zog er eine Pistole aus der Tasche und schoss sie tot. Und er selbst? Machte er Selbstmord? Nein. Er lief davon. (allgemeines Gelächter)

Ngozi empfindet es als eine Zumutung, dass sie sich von ihren Anhängern solche Geschichten anhören muss. Der Bursche habe sogar erklärt, ihm sei alles egal. Er sei bereit zu sterben (offenbar eine Drohung an Ngozi). Sie präsentiert uns diesen Fall allerdings als eine Humoreske. Je länger sie erzählt, desto mehr steigt die Heiterkeit. Ngozi ist sogar der Meinung, dass der Bursche Glück habe. "Wenn wir in Alor Uno gewesen wären, hätten meine Leute im Dorf ihn totgeschlagen." Dem Kollegen gegenüber betont sie den Ernst ihrer Mission: "Gott sandte mich nicht nach Kano, um Liebesaffären einzugehen oder zu heiraten."

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Wir sind bei unserer Plauderei übrigens nicht ganz unter uns. Zwei Igbo-Frauen hören angestrengt zu. Sie hatten sich, als wir über den Felsen liefen, einfach zu uns gesellt, blieben stehen, wenn wir stehen blieben, und zogen mit uns weiter. Etwas entgeistert hatte ich eine der beiden, die ganz zutraulich war, gefragt: "Kennen Sie mich?" "Nein, aber ich mag Sie." Und dann zogen die beiden wirklich unbekümmert hinter uns her. Bis jetzt rätsele ich, ob sie einen Dachschaden hatten. Dabei sahen sie ganz normal aus, ordentlich gekleidet, wie zwei Besucher, die es aus Zufall unter all die religiösen Irren verschlagen hat. Ngozi fand an der Verfolgungsjagd ausgesprochenes Vergnügen. Als ich sie später frage, was die beiden von uns wollten, versichert sie: "Sie hat es dir doch gesagt. Sie liebt dich. Du hast in Kano eine Ehefrau gefunden. Ich habe für dich eine Ehefrau gefunden. Lass uns zu ihr gehen." So viel Frivolität kommt für mich ganz überraschend. "Sie hat dir gesagt, dass sie morgen Abend auf dich wartet. Wir werden morgen hierher zurückkommen."

Ngozi ist übermütiger Laune, und ihr Spott bezieht sich auch auf religiöse Dinge. Beim Spaziergang über den Felsen deutet sie auf die Scherben von Tonkrügen. Einige der Propheten ‘arbeiten’ mit solchen Krügen. Sie füllen das Gefäß mit Wasser und setzen es dem Patienten auf den Kopf. Das Böse, unter dem der Patient leidet, gerät auf diese Weise in den Krug. Der Krug wird zerschlagen, und der Patient ist geheilt. Auf ähnliche Weise werden auch die Schalen von Kokosnüssen benutzt – und Ngozi deutet belustigt auf einige Überreste solcher Zeremonien. Später sehen wir eine Gruppe schrill gekleideter Personen, die sich heftig gestikulierend und zungenredend auf ihrem angestammten Platz versammelt haben. Es ist die einzig größere Gruppe an diesem Abend, immerhin ein halbes Dutzend Personen. Es sind Yoruba, und Ngozi fügt hinzu, dass die Yoruba-Kirchen mit eben diesen Tontöpfen und Kokosnüssen arbeiten. (Ob sie diese Yoruba-Riten tatsächlich für Humbug hält? Und aus welchem Grund? Machen sich die Prediger auf Bompai Rock nicht gegenseitig lächerlich? Eigentlich müssten sie in der Manie der anderen ihr eigenes Spiegelbild erkennen. Mag sein, dass Ngozi sich mir gegenüber aufgeklärt zeigen will. Vielleicht ist sie mit sich auch uneins, was sie von solchen magischen Praktiken halten soll. Von wem könnte sie verlässliche Kriterien bekommen, um die Grenze zwischen Christentum und Aberglauben zu ziehen?)

Zuletzt zeigt sie mir am Fuße des Felsens ein Gebüsch, in dem sie Zuflucht gesucht hatte, nicht vor den Unbillen des Wetters, sondern vor den Nachstellungen der übrigen Propheten. Die Bosheit der Propheten ging soweit, dass sie die Polizei zu dem Gebüsch führten, um Ngozi verhaften zu lassen. Doch genau an diesem Tag hatte sie die Stelle verlassen. Wieder Triumph in ihrem Blick, und wieder das bekannte Muster: Alle Welt versucht sie zu vernichten, doch es gelingt keinem. Es wird nicht explizit gesagt, doch die Logik der Geschichte macht es deutlich: In der wundersamen Errettung zeigt sich das Wirken Gottes. Wie sonst ließe sich erklären, dass sie genau zu dem Zeitpunkt das Gebüsch verlassen hatte, als ihre Feinde zuschlagen wollten?

Ngozi wird nicht müde zu betonen, wie aggressiv sich die Sekten gegeneinander verhalten. Wenn es heftig regnete, suchten Ngozis Anhänger Zuflucht zu finden. Doch in den Hütten anderer Gruppen fanden sie kein Obdach, nicht einmal bei anderen Igbo. Einlass findet nur, wer sich einer Gruppe anschließt. Viele dieser Propheten benutzen die Mitglieder, um Geld aus ihnen herauszuschlagen. Ngozi freilich war auf niemanden von ihnen angewiesen, denn sie hat eisern auf dem Felsen ausgeharrt, hat der Sonne und dem Regen getrotzt. (Wie sonst sollte sie in Kano ihre Stärke beweisen? Gibt es irgendeinen Schrein, den sie hätte niederbrennen können? Oder waren andere Mutproben zu bestehen?)

Selbst ihre Gefährtin, die Zofe, hat nicht immer bei Ngozi ausgeharrt. Voller Stolz zeigt mir Ngozi den Fleck, auf dem sie geschlafen hat: Auf der höchsten Stelle des Felsens findet sich eine künstliche Erhebung, zusammengetragen aus Steinen, mit Zement verputzt, wie ein Podest oder Altar, mit einer Fläche von etwa 5 Quadratmetern. Nacht für Nacht also auf blankem Stein.

Mich interessiert, warum sie so lange ‘auf dem Berg’ ausgeharrt hat. In Alor Uno hätten sie viele vermisst. – Ngozi führt keine profanen Gründe an, sondern beruft sich auf eine höhere Notwendigkeit: Gott habe es ihr befohlen.

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Kano und Kaduna sollen auch nicht die einzigen Stationen auf ihrer Missionstour bleiben. Demnächst will sie nach Lokoja reisen. Insgesamt stehen 14 Bundesstaaten auf dem Programm. Doch verspricht sie mir, nach ihrer Rückkehr im Oktober die Reinigungskampagne in Alor Uno fortzuführen. Außerdem habe sie schon seit langem angekündigt, ihre Arbeit im Ausland fortzusetzen. Vielleicht sollte sie nach Deutschland gehen? – Ich gebe zu Bedenken, dass es in Deutschland Verständigungsschwierigkeiten geben würde. Ngozi und ihre Begleiterin reagieren überrascht. In Deutschland wird Deutsch gesprochen? Um sie zu überzeugen, rede ich auf Deutsch auf sie ein. Beide schauen mich fassungslos an. Die Zofe will wissen, ob ich French rede. Sie hatten wohl angenommen, dass Englisch meine Muttersprache ist. Wie kommt es dann, dass so viele Nigerianer nach Deutschland ziehen? Können die denn mit den Leuten reden? – Wer von ihnen in Deutschland studieren wolle – so doziere ich – müsse erst mühsam die Sprache lernen. Ngozi macht gleich den Vorschlag, dass ich ihr Deutsch beibringe. – Das würde aber ein, zwei Jahre dauern. – Aber mit der Kraft des Heiligen Geistes?

Das Prophetenleben bietet offenbar ausreichend Gelegenheit, die Welt kennenzulernen. Und Ngozi zeigt Interesse an meiner Kultur. Schon auf dem Hinweg hat sie im Wagen eine Stange Baguette entdeckt. Ich erkläre, dass es sich um Brot handele. – Ob ich das Brot für sie mitgebracht habe? – Der Ehrlichkeit halber sage ich: Nein. Es ist für mich. Sie könne aber etwas davon abhaben. Ich breche ein Stück für sie ab, das sie mit sich herumträgt, aber ansonsten nicht anrührt. Ein Stück davon steckt sie einem bettelnden Kind zu, den Rest lässt sie – glaube ich – irgendwie verschwinden.

Auf der Rückfahrt bittet sie mich, an einem Kiosk anzuhalten. Sie will eine Flasche Sprite [Limonade]. Doch ausgerechnet Sprite ist nicht zu haben, und alles andere verschmäht sie. Ich führe die beiden Damen zu einem Supermarkt auf der anderen Straßenseite, wo wir das Gewünschte doch noch finden. Dazu kaufe ich eine Tüte Wick-Zitronenbonbons. Die Zofe lehnt es ab, die Bonbons zu probieren, mit einer Geste, als wolle ich eine anständige Christin zum Alkoholismus verführen. Ngozi dagegen greift ohne Bedenken zu. Ihr macht es sichtlich Spaß, sich von mir chauffieren zu lassen. Deshalb wählt sie auch nicht den direkten Weg zurück zur Kirche. Vielmehr schlägt sie vor, einfach überall hinzufahren, durch ganz Kano. Ich gebe zu bedenken, dass die Gemeinde auf sie wartet. Aber sie winkt nur ab: All die Leute säßen nur in der Mission herum, weil sie nach dem Gottesdienst einzeln mit ihr sprechen wollten, um Hilfe zu bekommen. "Zu viele Menschen." Beim Gedanken an die Gemeinde wirkt Ngozi eher genervt, sie würde sich lieber absentieren. Mich dagegen beunruhigt der Gedanke, die Gläubigen stundenlang warten zu lassen. Es ist längst dunkel, und jedermann weiß, dass Ngozi sich mit mir davongemacht hat oder dass ich ihnen Ngozi entführt habe. Es gibt ohnehin genügend Rivalität um die Gunst der Prophetin. Als Außenseiter, der Ngozi durch sein Geld und das große Auto besticht, kann ich mir der Eifersucht sicher sein. Deshalb insistiere ich, möglichst rasch zur Mission zurückzukehren, und dabei lege ich Wert darauf, dass die Zofe meine Worte klar versteht (und an ihre Bekannten weitergibt).

Ngozi dirigiert mich nun allerdings so durch das Labyrinth von Sabon Gari, dass wir bei diversen Bekannten vorbeikommen. Ich werde gedrängt, mit auszusteigen und mich den Bekannten vorstellen zu lassen. Bei der dritten Station bleibe ich auf der Straße stehen und warte zusammen mit der Zofe. Ngozi zeigt sich enttäuscht, dass ich ihr nicht in den Friseurladen gefolgt bin. Ganz offensichtlich genießt sie es, mit einem teuren Wagen vorzufahren. Mit großer Genugtuung erzählt sie, dass jene Igbo in Kano, die Ngozi noch aus ihrer früheren Existenz in Alor Uno oder als Ehefrau in Anambra kennen, ganz erstaunt seien, sie als Prophetin zu sehen. Ihre Kirche sei schon fast offiziell registriert. Im Gespräch mit dem Propheten aus Bendel hatte sie erwähnt, dass sie für ihr Zertifikat bereits nach Abuja gefahren sei (offenbar eine wichtige Station in der Karriere eines Propheten). Der Kollege aus Bendel, ein ruhiger, verständiger Mann, hatte anerkennend genickt. Die Registrierung bringt allerdings finanzielle Lasten mit sich, denn der Name der neuen Kirche muss in mindestens drei überregionalen Tageszeitungen annonciert werden, damit die Öffentlichkeit Gelegenheit hat, eventuell dagegen Einspruch einzulegen. Das zuständige Amt in Abuja verlangt daher eine Zahlung von 25.000 Naira.

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Als wir im Kirchengebäude eintreffen, ist es bereits nach 19 Uhr und die Gläubigen haben lange auf ihre Prophetin gewartet. Ich zähle 16 Frauen und ein wenig mehr Männer. Dazu ein halbes Dutzend Kleinkinder, die sich aber still verhalten. Obwohl Ngozi eher missmutig ins Gotteshaus einzog, lässt sie sich nichts von ihrer Laune anmerken, stattdessen ein strahlendes Lächeln, souveränes Auftreten. Die Gemeinde scheint ihre Rückkehr zu feiern. Nicht-enden-wollender Gesang, Trommeln. Die Musik schallt durch die geöffneten Türen auf die Straße hinaus und zieht einige Neugierige an. Währenddessen läuft Ngozi auf und ab und mustert den Kirchenraum. Es scheint ihr nicht zu gefallen, dass im tiefer gelegenen Teil kein Licht brennt. Sie bedeutet einem ihrer Adjutanten, eine Glühbirne zu kaufen. Die soll gleich dort, wo ich sitze in eine Lampenfassung geschraubt werden.

Während der Gesang weitergeht, läuft Ngozi vors Gebäude und mustert den Schutthaufen, vollführt dazu abgezirkelte Bewegungen, als sei sie in ein Ritual involviert. Dann springt sie zu den beiden Eingangstoren und räumt unsere Schuhe und Sandalen zur Seite. Auf ein Zeichen von ihr verstummt der Gesang. Sie fängt an, von Sünde und Reue zu reden: Wir sollten alle vor die Türen treten und uns flach auf den Boden legen, zunächst bäuchlings, dann auf den Rücken. Alles stürmt hinaus, und ich muss notgedrungen folgen. Draußen legt man sich dicht gedrängt nebeneinander. Der Vorplatz ist zwar von allem Müll gereinigt, doch der Sandboden ist vom letzten Regenschauer aufgeweicht und schlammig. Die Gläubigen brabbeln laut irgendwelche Gebete. Wir sind von Zuschauern umgeben, die der Vorführung amüsiert folgen. Ich schaue nicht nach vorn oder zur Seite, kann also nicht erkennen, wie die Zuschauer reagieren. Doch bin ich sicher, dass sie besonders die Anwesenheit des onyeocha fasziniert: mit weißem Hemd und Hugo Boss-Hose im Schlamm, auf den Wink einer schmächtigen, kleinen Igbo-Frau.

Wir stehen auf, Ngozi stimmt ein Lied an, und die kleine Gemeinde singt und trommelt aus Leibeskräften. Rücksicht auf die Nachbarn zu nehmen, kommt niemandem in den Sinn. Die Geschäftsfrau, die die Apotheke gleich nebenan betreibt, ist sichtlich vergrätzt. Die Menschenansammlung vor ihrem Geschäft vertreibt mögliche Kunden. Es sind fast so viele Zuschauer versammelt wie Gemeindemitglieder, und sie bekommen einen exzentrischen Auftritt geboten. Festus verfällt langsam in Trance, beginnt auf und ab zu laufen, tanzt mit seinem massigen Körper wie ein Bär, gerät ins Torkeln, rempelt die Umstehenden an, droht umzufallen. Die Brüder und Schwestern sind alarmiert, umringen ihn, suchen ihn zu stützen. Denn hier kann ein unbedachter Schritt weit gefährlicher sein als auf dem weichen Sand in Alor Uno. Unter den Zuschauern viel Heiterkeit über Festus’ täppisches Auftreten. Vielleicht ist man auch gespannt zu sehen, ob er mit seinem wuchtigen Körper zu Boden fällt. Später liegt er, erschöpft von der Trance, völlig platt der Länge nach auf dem Betonboden und rührt sich nicht mehr.

Während wir noch draußen singen und klatschen, macht sich Ngozi, in einem Anfall hektischer Betriebsamkeit, im Innern der Kirche zu schaffen, räumt irgendwelches Gerümpel heraus, greift zu einem Besen. Als wir wieder ins Innere gerufen werden, riecht es intensiv nach Räucherstäbchen oder exotischen Ölen. Dazu brennen einige Kerzen auf dem Boden, so dass etwas sakrale Atmosphäre aufkommt.

Von Ngozis langer Predigt verstehe ich nur Bruchstücke. Sie erzählt von sich selbst, von jener Epoche ihres Lebens, die allen Versammelten vertraut ist: "My time on the mountain, when rain was beating me and sun was beating me." Die Predigt widmet sich auch praktischen Fragen, besonders dem Festival, das für Mittwoch Abend geplant ist. Jeder solle dazu beitragen, auch durch Spenden, denn die Kirche müsse schöner werden. Es folgen Belehrungen über die Pflicht Gott zu geben. Gott sieht alles. Er weiß, wenn ein reicher Mann 100 Naira spendet, dass dieser Mann noch sehr viel mehr Geld besitzt. Wenn aber eine Frau nur 50 Kobo besitzt, und sie gibt ihre 50 Kobo der Kirche, so sieht das Gott mit Wohlgefallen. Ngozi ist übrigens selber recht gut über ihre Schafe informiert. Als sie mich tags zuvor begrüßte, dankte sie mir für meine Hilfe beim Aufbau des health centre. Sie hatte bereits erfahren, dass ich bei der Kollekte kräftig gespendet hatte.

Nach dem Gottesdienst tritt ein, was Ngozi im Auto vorhergesagt hatte. Die Gläubigen drängeln sich, um einzeln mit Ngozi über persönliche Probleme zu reden. Die Konsultationen sind jedoch überraschend kurz. Nach wenigen Sätzen, die Ngozi sich stumm anhört, gibt sie kurze Kommentare, vielleicht auch nur Worte des Trostes. Dann entlässt sie die betreffende Person und winkt die nächste heran.

25. Kano, 26. Sept. 95

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Ein Interview mit dem Vizepräsidenten der Igbo Community Association hat mich aufgehalten. Deshalb treffe ich erst gegen 19 Uhr in der Mission ein. Ngozi hat sich seit den Morgenstunden nicht blicken lassen. Selbst ihre Vertraute weiß nicht, wohin sie gegangen ist.

26. Kano, 27. Sept. 95

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Bei meiner Ankunft in der Mission heißt es, Ngozi sei nicht zurück. Es ist gegen 15 Uhr. Aus Zaria sind 10 bis 20 Gläubige angereist, die Ngozi erwarten. Die Vorbereitungen zum ‘Festival’ gehen unterdessen weiter.

Es ist erstaunlich, mit welcher Inbrunst sich einige der Frauen der Raserei überlassen: Herumkriechen, Röcheln, orgiastisch Schreien. Eine besonders Fette ist kaum zu bändigen. Sie wälzt sich unmittelbar vor mir auf dem Beton. Eine der Weißgekleideten ist nur damit beschäftigt, ihr den Rock über die Schenkel zu ziehen. Wenig später, als niemand sich um den Rock kümmert, greift das Geistermedium aber reflexartig selbst an den Rocksaum, um ihn herunterzuziehen. Selbstkontrolle ist offenbar noch vorhanden. Trotzdem treibt sie’s so wild, dass ein Mann hinzutritt, sich über sie stellt und mit beiden Beinen ihre Füße fest einklemmt, so dass sie sich nur noch mit Mühe wälzen und um sich schlagen kann. Nach 20 Minuten bleibt sie erschöpft auf dem Boden liegen.

Ein anderes Geistermedium drängt sich energisch in den Vordergrund, wiederum eine junge Frau, mager, nicht unschön, aber mit biestigem Gesichtsausdruck. Ihr Auftreten missfällt mir von Anfang an: aggressiv, herrisch, anmaßend. Sie drängt Frauen und Kinder zur Seite, stößt sie hierhin, dorthin, springt herunter in den Männertrakt, zieht mit der Hand imaginäre Linien und drängelt alles beiseite, was jenseits ihrer Linien sitzt oder steht, ständig damit beschäftigt, ihre eingebildete, willkürliche Ordnung durchzusetzen. Sie ergreift drei Männer, lässt sie vor sich niederknien und paradiert mit verschränkten Armen um sie herum, beugt sich zu einem herunter und schreit ihn an, und zwar aus Leibeskräften. Plötzlich – ich kann es kaum glauben – schlägt sie einem anderen der Knienden mit der flachen Hand auf die Brust. Weitere Schläge, Anschreien. Die Männer antworten, mit Büßermiene, etwas verstört. Dem ersten greift sie ans Ohr, verdreht ihm die Ohrmuschel, um ihm Schmerz zuzufügen. Der Dritte muss wie zur Strafe, kniend, die Arme über den Kopf heben. Irgendwann darf er, erschöpft, die Arme wieder senken. Madame tritt auf wie ein Gestapo-Offizier beim Verhör. Völlig gesammelt, ohne einen Hauch von Entrücktheit.

Ich frage meinen Nachbarn, warum sie zuschlägt. Er weiß es nicht genau, denn er ist erst seit zwei Monaten bei der Sekte. Er vermutet allerdings, dass der Geschlagene böse Geister in seinem Körper habe. Wahrscheinlich gehe es darum, ihn zu heilen.

Kaum gezügelten Sadismus hatte ich auch beobachtet, als die Fette sich vor mir wälzte. Nachdem ihr Furor schon ein wenig nachgelassen hatte, näherte sich ihr eine andere Besessene und schlug mit voller Wucht auf sie ein, doch so, dass immer nur ihre Fingerspitzen den Körper unter ihr berührten. Viele Szenen haben pantomimischen Charakter. Hass, Aggression werden ausagiert, soziale Rollen vertauscht, Tabus gebrochen. Fast ein Wunder, dass es nicht zum offenen Schlagabtausch kommt. Mir kommt es vor wie ein Psycho-Marathon, Urschrei-Therapie kombiniert mit Rollenspiel. Warum finden die Igbo Gefallen daran, sich stundenlang zu stressen?

Aggressiv ist auch die Art, wie sich die Mädels in Weiß Säuglinge greifen und durch die Luft wirbeln. Die Kinder schreien, weil sie an nur einer Hand oder einem Bein hochgerissen werden, im Takt der Musik geschüttelt und wieder zu Boden geworfen werden. Als Mutter würde ich mein Kind schleunigst in Sicherheit bringen.

Kurz vor 23 Uhr macht sich Erschöpfung breit, vielleicht auch ein wenig Ratlosigkeit. Die Tänze sind ausgetanzt, die Geistermedien hatten ihre Anfälle, die Babys wurden gesegnet. Was bleibt zu tun? Doch da tritt Ngozi mit entschlossenen Schritten herein. Alles erhebt sich: Jubel, "Allelujah". Strahlende Gesichter, ausgelassene Freude. Ngozi erklärt ihr verspätetes Erscheinen. Sie sei gestern früh auf die Order Gottes hin aufgebrochen und habe die Nacht über in einem Kassava-Feld geschlafen. Dann kommt sie auf die Gemeinde zu sprechen. Sie spricht in Igbo, aber ein Dolmetscher übersetzt jeden ihrer Sätze. Sie sei froh zu sehen, was die Gemeinde alles in ihrer Abwesenheit geleistet habe. Gott betrachte die Verbesserungen mit Wohlgefallen, und auch die Engel würden gerne an diesen Platz herabsteigen. Trotzdem müsse noch viel geschehen: "Ich möchte, dass hier vier Ventilatoren aufgestellt werde", und dabei deutet sie auf die vier Ecken des Raumes. Außerdem müsse der Boden mit Teppichen ausgelegt werden. Wer unternimmt es, sich darum zu kümmern? Es folgen Anspielungen auf Streitereien in der Kano-Gemeinde. "Aber heute, bei unserem Festival, haben wir allen Streit vertrieben."

27. Alor Uno, 11. Okt. 95

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So wie schon am Montag, den 9. Oktober, ist Ngozi nicht anzutreffen. Unsere Verabredung, gemeinsam nach Maiduguri zu reisen, lässt sich nicht einhalten. Jeder versichert mir, sie sei nur kurz verreist. Am Samstag sei sie aufgebrochen, und sie könne jederzeit zurückkehren. Auch ihr Bruder weiß nicht, wohin sie gefahren ist.

Die Gläubigen haben sich noch nicht zum Abendgebet versammelt. Nur etwa zwanzig Frauen sitzen auf dem roten Sandboden und schauen einer Séance zu: Vier Personen, zwei Männer, zwei Frauen, knien auf dem Boden, in einer Reihe nebeneinander, regungslos. Vor ihnen exerziert eine fette Frau [Gloria] auf und ab. Lautes, monomanisches Reden. Ich kann nur einige Worte auf Englisch heraushören. Es klingt deutlicher artikuliert als das übliche Zungenreden. Neben den Knienden steht Albert, der Bruder von Fidelis, in der linken Hand einen Schreibblock, in der rechten einen Kugelschreiber, und notiert in fieberhafter Eile, was das Geistermedium herausschreit. Zwei der Knienden können sich endlich erheben. Albert drückt ihnen je einen Zettel in die Hand. Nach ein paar Minuten sind auch die übrigen zwei erlöst, und das Geistermedium wendet sich anderen Aufgaben zu. Nur zehn Schritte vor mir kann ich beobachten, wie die Gruppe über die Botschaft auf den Zetteln diskutiert. Albert gibt offenbar Erklärungen zu seinen Aufzeichnungen. Später erklärt er mir, dass die Klienten aus Uzo Uani angereist sind, um zu erfahren, wer für den Tod eines Bruders verantwortlich ist. Das Medium habe ihnen erklärt, wer der Mörder ist. (Die Mission würde demnach die Funktion des Adoro-Orakels einfach übernehmen. Seltsam, dass irgendeines der weiblichen Medien autorisiert ist, in einem so folgenschweren Fall wahrzusagen.)

28. Alor Uno, 21. Okt. 95

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Ngozi ist in Onitsha, um das Fest vorzubereiten. Es geht unter anderem darum, für 300.000 Naira Musikinstrumente zu kaufen. Die neuen Musikinstrumente werden benötigt, weil es mal wieder Ärger mit der Polizei gab. Am Montag, den 16. Oktober, trafen vier Busladungen mit Polizisten ein, als sich die Gläubigen gerade zum Morgengebet versammelt hatten. Etwa 30 Polizisten stürmten den Dorfplatz, versuchten einige der Missions-Leute festzunehmen. Angeblich hatten sie eine Liste mit 31 Namen, zusammengestellt in Kooperation mit dem chief von Alor Uno, denn die Initiative zu dem Angriff ging wieder von ihm aus. Er hat gegen Ngozis Gruppe Anzeige erstattet, weil sie aus seinem Haus ‘Medizin’ gestohlen hat und weil sie den Adoro-Schrein mitsamt den Opfergaben auf dem Schreingelände zerstört hat.

Vor zwei, drei Wochen war es um den Schrein wieder zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung gekommen. Ngozis Cousin spricht von einer ‘großen Schlacht’. Da die Traditionalisten begonnen hatten, den Schrein wieder aufzubauen, führte Ngozi eine Prozession zu dem Gelände und zerstörte, was frisch errichtet war. Bei der Polizei-Razzia ging es unter anderem darum, Ngozi zu verhaften. Aber sie war nicht in Alor Uno. Auch ihr Bruder ließ sich nicht einfangen. Er lief wie die anderen Gläubigen einfach in den Busch. Die Polizisten durchsuchten einige Gebäude und konfiszierten diverse Gegenstände, angeblich auch Musikinstrumente und Audiokassetten. Zudem wurden zwanzig Personen festgenommen, doch nur die Alten und Kranken, die sich nicht in Sicherheit bringen konnten.

29. Alor Uno, 24. Okt. 95

Erster Tag des Festivals.

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Ngozi wirkte übermüdet. Sie hatte die Nacht über durchgewacht und gebetet. Freude über den Walkman, den ich ihr zum Geschenk mache. In ihrem Raum stapeln sich die Musikinstrumente aus Onitsha. Alles wirkt nagelneu: Boxen und Verstärker, ein Yamaha Schlagzeug, Gitarren, drei Trompeten etc. (Thompson: Es war so teuer, dass die Gemeindekollekte den Betrag nicht aufbringen konnte. Stattdessen ein Sponsor.) Ngozi deutet an, dass die Familie jenes Verwandten, der in Hamburg Geschäfte macht, Geld beigetragen hat. Ich sah den Kerl mit seinem Brikett-Haarschnitt heute in einem braunen Mazda 939 Sportmodell vorbeifahren. Das Geld aus Deutschland ermöglicht ihm hier seinen großen Auftritt.

Ngozi bittet mich, die Anlage aufzubauen. Die Leute, die die Aufgabe übernehmen sollten, seien nicht da. Leichte Überraschung, als ich sage, dass ich nicht weiß, wie man mit den Geräten umgeht. Als Europäer wird einem offenbar alles zugetraut. Dann soll ich ihr auf einer Inspektionstour folgen. Ich halte einige Meter abstand, um nicht zu sehr als ihr Vertrauter zu erscheinen. Die Gläubigen, die Ngozi ehrfürchtig behandeln, zuweilen sogar vor ihr niederknien, müssen bemerkt haben, dass ich es an der üblichen Unterwürfigkeit habe fehlen lassen. Vielleicht erscheine ich ihnen etwas zu selbstsicher oder arrogant. Später werde ich mit einem Dutzend anderer von Ngozi erkoren, bei der öffentlichen Speisung mitzuwirken. Ich werde jener Gruppe zugeteilt, die die Teller mit Reis verteilt. Anweisung eines Kollegen: Nicht an kleine Kinder verteilen, nur an Erwachsene, und auch denen nicht zwei Mal.

30. Alor Uno, 25. Okt. 95

Zweiter Tag des Festivals.

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Mein Auftritt als Kellner gestern scheint den Leuten gefallen zu haben. Ich bekomme viel Lob zu hören. Durch Ngozis Autorität hatten die Dorffrauen das Privileg, sich von einem Weißen bedienen zu lassen. Kurz vor 16 Uhr, als ich in Alor Uno eintraf, ruhte das Fest. Ngozi war auf den Markt gefahren, um eine Kuh zu kaufen. Dabei ließ sie sich in einem schwarzen Mercedes chauffieren. Der Besitzer ist ihr Cousin, ein ‘businessman’ in Lagos.

31. Alor Uno, 4. Nov. 95

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Albert berichtet, dass er wegen allen möglichen Problemen aus dem Haus gerufen wird. Erst vor kurzem musste er sich mit einer Patientin beschäftigen. Ein schwieriger Fall. Sie mag kein Essen zu sich nehmen, obwohl sie hungrig ist. Man muss sie schlagen, damit sie isst. Sie spricht auch nicht, es sei denn, man schlägt sie.

("Warum kümmert sich ihr Mann nicht um sie?") – Der Ehemann hat es versucht, doch schließlich hat er seine Frau aus dem Haus geworfen. Nun ist sie hier, obwohl sie nicht aus Alor Uno stammt. Insgesamt leben etwa 40 Patienten unter ihnen. Sie sind in privaten Quartieren untergebracht. Die meisten stammen aus Orten in der Nachbarschaft. Es sind aber auch Personen aus anderen Bundesländern darunter. Albert schlägt mir vor, einige der Patienten anzuschauen. Die Frau, die nicht essen mag, ist tatsächlich ein trostloser Fall. Völlig apathisch. Albert meint, es gehe ihr schon besser. Aber sie reagiert nicht auf uns, schaut uns nicht an, spricht nicht, gibt mir nicht die Hand. Neben ihr sitzt eine Frau um die 50, ebenfalls Patientin. Von ihr heißt es, sie habe Probleme mit den Augen, könne nicht klar sehen. Sie reagiert völlig normal, schaut mich an, grüßt, spricht nur leider kein Englisch.

("Ob sie es schon mal mit einer Brille versucht hat?") – Albert: Ja, sie war schon im Hospital, aber niemand konnte ihr helfen. So sei es mit vielen der Patienten. Sie kommen zur Mission, weil andere Mittel nicht geholfen haben. In der Mission wird für sie gebetet – und Albert betont, dass nur Gebete heilen können, dazu nichts weiter als heiliges Wasser, Olivenöl und jene Kerzen, die man zuweilen um die Patienten aufstellt. In das geweihte Wasser tue man einen Tropfen Olivenöl. Das Wasser wird innerlich und äußerlich angewandt. Patienten trinken davon, sie werden aber auch von Angehörigen der Mission damit gewaschen.

Die Frau mit dem Augenleiden hat den Kopf kahl rasiert. Albert wendet sich zu der Apathischen, rückt ihr das Kopftuch zur Seite und weist auf den kahl rasierten Schädel: "Wir waschen den Kopf." Es heißt auch, dass die Patienten mit Olivenöl gesalbt werden.

Eine andere Patientin steht 50 Meter entfernt, eine ehemalige Schulleiterin. Sie sei ebenfalls mental. Wir laufen hinüber, aufs nächste Grundstück, wo eine alte Frau auf dem Boden sitzt und Kassava stampft. Es ist die Mutter von Philomina, der Patientin. Die Tochter spricht gut Englisch, und sie hat auch keine Bedenken, mit mir zu kommunizieren. Doch es kommt keine rechte Verständigung auf. Sie deutet auf eine Gans in der Ferne. Ob ich von ihr begleitet werde? Meine Augen seien nicht braun. – Ich ergänze, dass die Augen blau seien. – "Es hat dich verraten." – "Was hat mich verraten?" – "Das Blau." Sie deutet auf den Albino, der sich in der Nähe zeigt und zu mir herübergrüßt. "Dein Bruder." – Ich nicke.

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Im nächsten Gehöft finden wir gleich ein Dutzend Patienten. Zwei von ihnen spielen Karten. Gleich neben ihnen hockt eine Patientin, die debil aussieht. Mein Blick fällt auf ihre Fußgelenke, um die eine Kette geschlungen ist, mit einem Vorhängeschloss. Albert erläutert später, dass man die Frau gefesselt halten müsse, weil sie sich sonst davon machen würde. Sie sei außerdem gefährlich, könnte jemanden umbringen. Ihre Schwester sitzt ebenfalls dabei. Albert: Wir sorgen immer dafür, dass jemand von den Angehörigen den Patienten begleitet und hier mit ihm lebt, um Essen zu kochen und Wasser zu holen. Vor dem Haus sitzt eine Frau, attraktiv gekleidet, strahlt mich an. Albert übersetzt ihr, dass ich gerne wissen möchte, was ihr fehlt. Ihre Antwort ist, dass sie unter Kopfschmerzen leide. Und dabei strahlt sie weiter, mit heiterem Gesicht, so als fühle sie sich völlig wohl. Etwas abseits kauert ein junger Mann, den Kopf geschoren, schwarze Flecken im Gesicht. Keine Ahnung, was ihm fehlt. Es heißt nur, er sei ein Igala aus Kogi.

Einer der beiden Kartenspieler sitzt nicht auf der Bastmatte, sondern kniet. Sein Problem: Vor drei Jahren hat er eine Spritze ins Gesäß bekommen, "and the injection was bad". Teile seines Körpers siechen dahin. Um mir den Schaden zu demonstrieren, läuft er humpelnd ein paar Schritte. Schwer zu verstehen, warum er als Patient angenommen wurde. Vielleicht hätte ein guter Chirurg vor drei Jahren etwas bewirken können. Beten allein wird nicht verhindern können, dass sein Körper weiter verfault.

Andere Patienten – so versichert mir Albert – haben Probleme mit der Brust oder dem Bauch. Wir kommen am Haus seiner Mutter vorbei. Auch hier ist ein Patient untergebracht, ein Greis, der im Innern der dunklen Höhle liegt. Er winkt, ich soll zu ihm treten und von seinem Essen nehmen. Wir kommen noch an ein, zwei Irren vorbei – ein Mann, alleingelassen, mit einem Fuß an eine Baumwurzel gekettet, die aus der Erde herausragt, und eine Frau mittleren Alters, die mir an den Tagen zuvor wegen ihrer Zudringlichkeit aufgefallen war. Nicht, dass sie gebettelt hätte. Ihre distanzlose Freundlichkeit hatte etwas Anzügliches. Vor ihr sitzt ein Baby, das sie mir als ‘Gabriel’ vorstellt.

Auf dem Rückweg deutet Albert auf eine kleine schwarze Ziege, die gleich neben dem künftigen Heilerzentrum festgebunden ist. Sie sollte für Adoro geopfert werden. Leute aus Enugu Ezike brachten sie an den Ort des zerstörten Schreins. Doch zum Glück wurden sie von Anhängern der Mission beobachtet, und man nahm ihnen die Ziege ab: "There is no Adoro in this town any more."

32. Alor Uno, 6. Nov. 95

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Das Gespräch mit Albert wird unterbrochen, als Jugendliche ins Zimmer stürmen: Man habe Leute festgenommen, die für Adoro opfern wollten. Ich laufe mit hinaus, obwohl man mich warnt, dass es gewalttätig werden könnte. Der Weg führt nicht zum verlassenen Schrein, sondern einfach nur zur Hauptstraße, wo sich eine Menschentraube gebildet hat. Die Menschen umringen eine Frau, reden auf sie ein, zerren ihr einen Plastikbeutel aus der Hand. Darin befindet sich ein grob gewebter Stoffstreifen, indigoblau, dazu ein Bündel in Bananenblätter gewickelt. Neben der Straße ist ein Anhänger der Mission damit beschäftigt, ein paar Yamswurzeln in Stücke zu schlagen. Sie waren ebenfalls als Opfer gedacht und wurden konfisziert. George Benson [ein Cousin von Ngozi] deutet auf ein schwarzes, einfarbiges Schaf und drei sehr junge Welpen, die ebenfalls für Adoro bestimmt waren.

Benson ist ein resoluter Bursche. Ich erlebe gleich eine Kostprobe, als er einige Kinder und Patienten zum Mittagsgebet treibt. Vielleicht hat ihn der Vorfall mit der Opfergängerin übellaunig gemacht. Jedenfalls schreit er im Kommandoton herum: "Go! Go to mission!" Die Angesprochenen reagieren nicht schnell genug, deshalb bricht er einen Zweig ab, entfernt die Blätter und benutzt ihn als Rute. Vor allem jene Geistesgestörte, die mich in den Tagen zuvor so distanzlos angesprochen hatte, erregt seinen Zorn. Er treibt sie vor sich her, nur um zwei Minuten später festzustellen, dass sie sich wieder in der Nähe ihres Hauses herumtreibt. Sie murrt, zeigt sich widerspenstig und weicht schließlich aus Angst vor Schlägen.

Auch einige der völlig abgedrehten Irren werden zum Gebet geführt. Ein junger Mann, der mir bisher nie aufgefallen war, trägt richtige Fußschellen, nicht die üblichen Ketten mit Vorhängeschloss. Mit trippelnden Schritten setzt er sich Richtung Gebetsplatz in Bewegung. Seine Beine wirken arg abgemagert, vielleicht weil er sie schon lange nicht mehr frei bewegen konnte. Die Debile ist diesmal an eine Baumwurzel gekettet. Eine Frau bringt den Schlüssel; ein Junge, zehn bis zwölf Jahre alt, führt die Patientin zum Beten. Ein anderer Patient ist ebenfalls an einer Baumwurzel angekettet. Doch das Vorhängeschloss will nicht aufgehen. Der junge Mann ist unruhig, beginnt an einer Baumwurzel zu nagen und erhält ein paar Rutenschläge auf den Kopf.

33. Alor Uno, 16. Nov. 95

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Alles leidet unter der Hitze. Ngozi in ihrem Sessel fächelt sich frische Luft zu. Kein Strom, weil der Generator nicht angeschaltet ist, und deshalb stehen die Ventilatoren still. Doch ansonsten scheint es an Geld nicht zu fehlen. Neben der Musikanlage, die in Ngozis Residenz aufbewahrt wird, stapeln sich die Kästen mit Coca Cola und Fanta. Sie sind für das nächste Festival bestimmt, Ende Dezember. Aber einige Flaschen sind bereits leer. Man bedient sich. Und dann greift Ngozi persönlich zu, stellt einen Kasten mit Soft Drinks zusammen für unseren Besuch in Itchi. Die Gläubigen dort mögen besonders Coca Cola, sagt sie, und deshalb wird der Kasten entsprechend mit Cola-Flaschen bestückt. Ich bin eingeladen, Ngozi zu begleiten. Doch wider Erwarten besteigt sie nicht meinen Wagen, sondern den blauen Mercedes von Brother Johnson, der erst vor kurzem glücklicher Autobesitzer wurde. Bruder John-son fährt wie ein Schwein, mit 80 km die Hauptstraße entlang durch Alor Uno, so dass ich kaum folgen kann. X, der bei mir im Auto sitzt, meint entschuldigend: Brother Joe ist noch Anfänger, er fährt erst seit 2 Monaten. Ngozi, so scheint’s, hat freilich nichts gegen diesen Fahrstil einzuwenden. Unser Aufbruch von Alor Uno gerät zum feierlichen Ritual, wie die Ausfahrt von Queen Elisabeth aus dem Buckingham-Palast. Eine Menschentraube von etwa 50 Personen umgibt den Mercedes. Ngozi sehr gravitätisch. Unterrock, weißer BH, weißes Tuch wie eine Schärpe über die Schulter geworfen, weiße Haube und darüber den schwarzen Kopfhörer, Walkman in der Hand. Brother Joe schaltet die Warnblinkanlage an, während sein Mercedes die Hauptstraße entlang rauscht. Ein Konvoi von zwei Fahrzeugen, ähnlich wie die Fahrzeugkolonnen der Politiker, die sich mit Blaulicht, Sirene und überhöhter Geschwindigkeit ihren Weg bahnen.

Unterwegs in Ibagwa lässt Ngozi anhalten, um auf dem Markt ein Huhn zu kaufen, dazu Erdnussöl. Ihr Mercedes wird von einer Menschentraube umringt. X: "These people fear Ngozi very much." Die Dorfbewohner drängeln sich um den Wagen, begrabschen die Fahrzeugscheiben, mögen den Weg kaum freigeben.

In Ibagwa soll es keine Hexen geben: "Es sind gute Menschen." Deshalb floriere auch ihr Markt. In Itchi dagegen regiere Hexerei, Gift, Mord. Unsere Brüder und Schwestern von der Itchi-Mission könnten das bestätigen. Wie sich herausstellt, besteht die Mission dort nur aus einem Dutzend Personen, im Wesentlichen aus der Familie von Ngozis älterer Schwester und ihrem Mann. Alle knien vor Ngozi nieder, sie leitet uns im Gebet: das "Vater Unser", sieben Mal "Alleluja", sieben Mal "Hosanna", dazu ein wenig Singen. Doch damit ist der religiöse Teil beendet. Der Rest des Abends ähnelt mehr einem Familienbesuch oder einem Picknick im Grünen.

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Von dem Gebetsplatz, wo ich die Schuhe hatte ausziehen müssen, begeben wir uns 50 Meter weiter zu einem bescheidenen Gehöft. Während das Essen zubereitet wird, döse ich vor mich hin, müde und geschwächt von tagelangem Durchfall. Einige der Brüder legen sich auf eine Plastikplane schlafen. Erst als das Essen bereitet ist, weckt Ngozi uns auf. Ich soll direkt neben ihr Platz nehmen. Auf der Plane sitzend essen wir zu zweit aus einer kleinen Emailleschüssel mit bloßen Händen Reis. Alle anderen bedienen sich von einem riesigen Reishaufen auf einem Emaille-Tablett. Ich erzähle von meinen kulinarischen Abenteuern in China, Korea und Europa: roher Fisch, rohes Fleisch, Froschschenkel ... Die Anwesenden schütteln sich vor Ekel.

Nach dem Essen ein kurzes Abschiedsgebet und wir brechen auf. Ngozi wieder im Mercedes uns voran. Sie mag aber nicht gleich in den Wagen einsteigen, vielmehr läuft sie zehn Minuten die Piste entlang; wir folgen im Schritttempo. X hat keine Ahnung, warum. Aber jeder scheint gesonnen, die Launen der Prophetin klaglos hinzunehmen. Witzigerweise machte sich Ngozi beim Abendessen selbst über die Willkür der Propheten lustig. Zur Erheiterung aller erzählte sie von einem Propheten, der seinen Anhängern erklärte: "Gott will nicht, dass ich Fisch esse. Er will, dass ich Hühnchen esse."

Während das Hühnchen geröstet wurde, waren wir zum Gebetsplatz zurückgelaufen. Ngozi setzte sich auf eine Holzbank und forderte mich auf, gleich neben ihr Platz zu nehmen. Wir saßen eng nebeneinander, berührten uns zuweilen mit Armen und Schultern. Doch Ngozi war nicht sonderlich gesprächig, sondern mehr mit ihrem Walkman beschäftigt. Ich bot ihr an, Musik aus meiner Heimat aus dem Auto zu holen, eine Kassette mit ‘Hildegard von Bingen’, in einer verpoppten Version der Gruppe ‘Vision’. Ich erklärte ihr, dass es sich um christliche Musik handele, und war gespannt auf ihre Reaktion. Aber sie wollte nur wissen, ob die Musiker "in Germany language" singen. Ich antwortete, es sei nicht meine Muttersprache, aber eine Sprache, die ich auf der Schule gelernt habe. Und zur näheren Erläuterung fügte ich hinzu, es sei die Sprache, die vor 2000 Jahren Pontius Pilatus gesprochen habe, jener Pilatus, der Jesus ans Kreuz nageln ließ. Ngozi reagierte empört: Wie kommt es, dass diese Leute (die Jesus ermordeten) heute noch Musik machen können?

34. Alor Uno, 19. Nov. 95

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Ngozi ist schon wieder abgereist, nach Kano. Vorgestern versuchte sie noch, mich zu sehen. Aber niemand wusste zu sagen, wo ich wohne. Albert und Brother Joe sind die einzigen, mit denen ich mich unterhalte. Sie wissen nicht, warum Ngozi mich treffen wollte. Es scheint aber um ihre Kano-Reise zu gehen. Denn die 40 Pilger, die mit ihr nach Kano gingen, stecken immer noch dort: gestrandet. Mit meinem Wagen könnte ich acht von ihnen zurückbringen.

Nach Auskunft von Brother Joe sorgt das System der Kultsklaven [die den Göttern geweiht werden] dafür, dass Alor Uno noch heute gespalten ist. Die Traditionalisten profitieren von den Sklaven, die Adoro aus den Nachbargemeinden fordert. Adoro tötet Familien in Enugu Ezike und anderswo, so dass die Angegriffenen ihre Töchter oder Söhne nach Alor Uno schicken müssen. Unter den Anhängern der Mission sind viele, die unter Zwang nach Alor Uno geschafft wurden.

("Frauen und Männer?")

Ja, auch Männer werden von ihren Angehörigen hierher geschickt. Sie siedeln sich in einem der Dörfer an und müssen als Osu [Kultsklaven] jeden Tag die Göttin verehren.

("Warum sind sie nach der Zerstörung des Schreins nicht zurückgekehrt?")

Sie würden von ihren Verwandten nicht zu Hause akzeptiert.

Viele Frauen in den Dörfern wurden als Sklavinnen hierher geschafft. Die Schreinpriester gaben sie an irgendwelche Männer. Manche der Frauen sind aber noch unverheiratet. Joe will mir eine zeigen, die erst kürzlich nach Alor Uno gebracht wurde. Sie ist, wie viele andere, eine Anhängerin der Mission. Ngozi predigt, dass es keine Sklaven geben dürfe. In drei Jahren, so sagt sie voraus, wird es keine Osu mehr geben. Osu und Freigeborene sollen untereinander heiraten.

("Gibt es bereits Heiraten zwischen ihnen?") – Bislang noch nicht. Die Osu leben weiterhin in getrennten Siedlungen, ganze Dörfer sind ausschließlich von Osu bewohnt. Er nennt einige Namen und deutet in diverse Richtungen: insgesamt sieben oder acht Osu-Dörfer. Allerdings könne man rein äußerlich die Osu nicht erkennen. Sie tragen keine Narben im Gesicht.

Als ich ihn frage, ob er eine Osu-Frau heiraten würde, lacht er: Er sei bereits verlobt, werde im nächsten Jahr heiraten, und zwar eine Freigeborene.

35. Alor Uno, 23. Dez. 95

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Der chief von Alor Uno hat acht Missionsmitglieder angeklagt. Albert zeigt mir seine Vorladung: Es geht immer noch um die Zerstörung des Schreins. Der chief ist bettelarm, daher die Insistenz, Adoro wieder zu beleben. Wenn Gläubige eine Ziege oder eine Kuh für Adoro opferten, gab’s Fleisch zu essen. Jetzt hat der chief gar nichts. Er besitzt kein Auto, nicht einmal ein Motorrad. Für die Dorfbewohner eine Schande, dass er mit dem Fahrrad fahren musste. Und selbst das Rad wurde ihm geklaut, so dass er nun immer zu Fuß daherkommt. Da er Analphabet ist, kümmert sich sein Sohn um amtliche Schreiben, etwa um die Anzeige gegen die Mission.

36. Alor Uno, 28. Dez. 95

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Thompson erklärt, dass jene Osu, die zum Teil seit Generationen im Ort siedeln ursprünglich als Opfer für Adoro nach Alor Uno kamen. Mit der Beseitigung des Schreins sei daher auch der Osu-Status abgeschafft. Für Thompson ein längst überfälliger Schritt, denn die Osu seien Menschen wie alle anderen auch. Ihre Sitten variieren freilich ein wenig. Die Höhe des Brautpreises etwa sei anders geregelt. Unter Freigeborenen sei es üblich, ungefähr 2000 Naira für eine Braut zu zahlen, und damit könne man schon eine junge Frau mit Sekundarschulausbildung erwerben. Was die Angelegenheit wirklich kostspielig mache, sei die Bewirtung der Hochzeitsgäste. Dafür müsse der Bräutigam oder seine Familie 10.000 oder 15.000 Naira berappen. In den Osu-Dörfern folge man dagegen einer sehr viel besseren Sitte. Jeder junge Mann müsse zur Bewirtung der Hochzeitsgäste beitragen. Die Last werde also auf alle im Dorf verteilt.

Bislang hätten sich Osu und Freigeborene noch nicht gemischt. In der Mission sei jedoch zu beobachten, dass es "zwischen uns und denen" zu Affären komme. Traditionell hätten Eltern stets versucht, solche Mesalliancen zu verhindern. Wenn es schon zur Schwangerschaft gekommen war, drängten die Eltern auf Abtreibung. Oder sie verlangten von dem Mann und seiner Familie hohe Entschädigungssummen. Thompson trägt sich übrigens selbst mit Plänen, eine Osu-Frau zu ehelichen. Er hat bereits ein hübsches Wesen im Auge. Er will also den Anfang machen und das Tabu brechen. Gleich darauf überrascht er mich mit dem Geständnis, dass er sich bemüht habe, Sister zu heiraten. Natürlich ohne Erfolg. Ich versuche, ihn über dieses Missgeschick zu trösten, indem ich daran erinnere, dass Sister auf einer Mission sei und deshalb niemanden heiraten könne. Doch er widerspricht: Jede Frau habe die Absicht zu heiraten. Ngozi selbst habe offen erklärt, dass sie nach drei Jahren, wenn ihre Mission erfüllt sei, wieder heiraten wolle. Die Affäre mit dem Ehemann in Awkuzu ist also gänzlich ausgestanden. Ngozi ist förmlich geschieden. Thompson war selbst als Delegierter bei den Verhandlungen in Awkuzu beteiligt. Strittig war vor allem ein Stück Land, das Ngozi für 150.000 Naira erworben hatte. Ihr Ex-Mann hat es in Beschlag genommen, doch Ngozi reklamiert es für sich. Thompson hat ihr geraten, die Sache nicht weiter zu verfolgen, denn nach Igbo-Erbrecht gehören alle Besitztümer, die eine Frau während der Ehe angesammelt hat, ihrem Mann. Bei einer Scheidung kann sie nur ihre Kleider mitnehmen.

Ngozis Ehemaliger war ein womanizer. Er hat es bedenkenlos mit anderen Frauen im Dorf getrieben. Als die Delegation aus Alor Uno eintraf, hatte er bereits eine neue Frau zur Gemahlin genommen, und diese Frau war schon schwanger. Es sei besser, nicht auf die Rückgabe des Landes zu drängen, weil der Bursche mit Gewalt reagieren könnte. Womöglich schickt er irgendwelche Schlägerbanden nach Alor Uno. Schon in Awkuzu hatte Ngozi eine Gemeinde gegründet. So wie in Alor Uno hatte man den Schrein zerstört. Die Gemeinde löste sich jedoch auf, weil Ngozi nicht länger in Awkuzu tätig war. Einige ihrer Vertrauten sind deshalb nach Alor Uno gezogen.

Ein anderer Teil des Gesprächs kreist um die jüngsten Dorfintrigen. Thompson würde am liebsten dem Treiben des chiefs ein für alle Mal ein Ende bereiten. Ein Mitglied der Mission hat bereits vorgeschlagen, den chief samt seiner Gang zu kidnappen. 50 Mann würden für eine solche Aktion ausreichen. Der Polizei gegenüber würde man schlicht erklären, der Häuptling sei spurlos verschwunden, habe sich nach all den Streitereien einfach aus dem Staub gemacht. Thompson findet sichtlich Gefallen an diesem Plan und kichert vor Freude. Doch als Christ – so meint er mit Bedauern – müsse man eine andere Lösung suchen.

Er bestätigt, dass der chief tatsächlich völlig arm und elend ist. Sein Verbündeter, der Chef der Hexer, war dagegen wohlhabend. Keiner seiner Söhne, so erklärte er öffentlich, dürfe reicher werden als er selbst. Den ältesten Sohn, der jetzt in Nsukka lebt, hat er nicht nur verstoßen, sondern sogar mit dem Tod bedroht. Um sich vor den Nachstellungen des Vaters zu schützen, musste er bei Ngozi, der Cousine, Hilfe suchen. Er war ein Mitglied der Mission, und Ngozi verschaffte ihm Schutz, indem sie ihm ihre Kopfhaube gab, als ein Mittel, den Zauber des Vaters abzuwehren.

Den Tod ihres Onkels hat Ngozi verursacht. Auf diesen Umstand hat sogar der chief in einem seiner Schreiben hingewiesen. Doch nicht alle Kinder haben sich von dem unheilvollen Treiben des Vaters abgewandt. Jene Söhne, die noch im väterlichen Haus leben, folgen eher den Fußstapfen des Vaters.

37. Alor Uno, 30. Dez. 95

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Thompson hat keine Zeit für die Beterei, weil er noch damit beschäftigt ist, Ränke zu schmieden. Für die Nacht hat er ein heimliches Treffen mit Jugendlichen angesetzt. Er will sie instruieren, in die Häuser diverser Dorfbewohner einzudringen und die 1.000 Naira Gebühren für Stadtentwicklung einzutreiben. Dabei will man sich gerade auf die Anhänger des chiefs stürzen, denn viele von ihnen haben ihren Beitrag nicht gezahlt, weil sie die Autorität des Community Development Committeenicht anerkennen. Falls sie sich weigern zu zahlen, sollen die Geldeintreiber mit Gewalt vorgehen, wertvolle Gegenstände konfiszieren und sie als eine Art Pfand an unbekanntem Ort verstecken.

Thompson legt Wert auf die Feststellung, dass er sich überall in Alor Uno frei bewegen könne: Er sei respektiert, die Jugendlichen mögen ihn. Bei unserem Gang durch die Dörfer treffen wir auch laufend auf Bekannte. Thompson muss ständig Hände schütteln, ich ebenfalls. Doch die überschwänglichen Begrüßungsriten sind nicht Ausdruck von Freundschaft und Verbundenheit; sie sind eher aus Misstrauen geboren, aus dem Bestreben, sich ständig wechselseitig seine guten Absichten zu versichern. Von überall droht Unheil.

38. Beverly Hills, 28. Jan. 96

Gespräch mit Daniel.

<93>

Ein Schreinsklave hat ein übleres Schicksal als ein gewöhnlicher Sklave. Wenn es Streit gibt, ist es besser mit einem Menschen zu streiten als mit einem Gott. Ngozi müsste eigentlich eine Osu sein, weil ihre Eltern von Adoro getötet wurden.

("Thompson hat mir die Sache anders dargestellt.") – Mag sein. Aber für uns waren alle Personen, die Adoro übereignet wurden, automatisch Osu. Osu bedeutet, dass du keine Rechte hast. Früher hat man einfach Reisende mit Gewalt verschleppt und als Osu versklavt.

Osu-Frauen würden gerne Freigeborene heiraten. Sie tun alles, um das Herz eines Freigeborenen zu erobern. Aber sie werden stets enttäuscht. Eltern raten ihren Kindern, sich nie auf Osu-Männer oder -Frauen einzulassen. Osu-Frauen sind in der Regel hübscher und geselliger, oft auch wohlhabender. In der Kolonialzeit waren sie besser ausgebildet, weil sie schon früh Missionsschulen besuchten.

39. Alor Uno, 18. Feb. 96

<94>

Albert hofft, dass Ngozi Ende des Monats da ist, wenn es Termine beim Gericht und bei der Polizei gibt. Am 23. Februar sind Albert und andere Mitglieder der Mission bei der Kriminalpolizei in Enugu einbestellt. Sie wurden von einem Bruder des Häuptlings beschuldigt, ihn ausgeraubt zu haben. Als er beim Adoro-Schrein opfern wollte, wurde er angeblich schon auf der Hauptstraße angegriffen. Man nahm ihm ein Schaf weg, drei Yamswurzeln und 2000 Naira – so die Anzeige.

("Wollte der Mann Geld für Adoro opfern?") – Nein. Das mit den 2000 Naira hat er einfach erfunden, um uns Ärger zu machen. Der chief und seine Leute haben sich an die Polizei in Enugu gewandt, mit der Klage, dass die Polizei in Nsukka nicht gegen die Mission vorgeht. Deshalb wurden die acht Beschuldigten nach Enugu geschafft und dort eingesperrt. Die Polizei verlangte 40.000 Naira, um sie wieder freizulassen. Doch Albert und die anderen Insassen informierten ihre Helfer in Enugu, das geforderte Geld nicht zu zahlen, denn Ngozi hatte vorausgesagt, dass sie verhaftet werden würden. Sie hatte es in einer Vision erblickt. Nur hatte sie nicht vorausgesagt, wann es passieren würde. Die Inhaftierung war also der Wille Gottes.

Immerhin haben die Helfer in Enugu den Wärtern Geld zukommen lassen, damit Albert und die anderen nicht verprügelt wurden. Schlimm war nur die Hitze in der Zelle. Sie waren in einem kleinen Raum eingepfercht, mit insgesamt 35 Insassen.

40. Alor Uno, 19. Feb. 96

<95>

Als ich mit Albert Richtung Itchi aufbrechen will, werden wir von zwei Journalisten auf der Hauptstraße angesprochen, ob sie uns zu Ngozi begleiten können. Der Ältere schreibt für den Daily Star, der Jüngere für ein Magazin, das erst seit acht Monaten auf dem Markt ist. Beide leben in Nsukka und sind als Reporter für die Region zuständig. Kurz vor Itchi geht mir das Benzin aus. Da ich keinen Reservekanister mitführe, müssen wir improvisieren. Der ältere Journalist nimmt einen leeren Wasserkanister, dazu drücke ich ihm 400 Naira in die Hand, und er versucht auf dem Schwarzmarkt in Ibagwa Benzin aufzutreiben. Wir warten fast zwei Stunden, es ist beinahe 18 Uhr, als er zurückkehrt, mit etwa 10 Litern Benzin aus Enugu Eziki.

Während der langen Warterei fragt mich der jüngere Journalist aus: Was ich bei Ngozi zu suchen habe. Er hatte gehört, dass Ngozi mit einem Europäer kooperieren soll, um die Jujus nach Europa zu verkaufen. Ich erkläre ihm, dass ich eben jener Europäer sei, und nun ist er nicht mehr zu bremsen. Nachdem ich ihm auseinandergesetzt habe, dass der chief diese Geschichte erfunden hat, ist er keineswegs beruhigt, sondern versucht auf penetrante Art, mich doch zu überführen. Er habe gehört, dass Kultobjekte aus Nigeria in amerikanische Museen gelangen. Ich versuche ihm zu erklären, dass man die Fetische aus Alor Uno nicht ins Museum bringen kann, dass es keine sakrale Kunst mehr gibt, die sich auszustellen lohnt, und dass nigerianische Künstler keine Götterbilder produzieren. Aber es scheint, ich rede wie gegen eine Wand. Als ich erkläre, dass es in Deutschland seit langem keine Hexen mehr gibt, stoße ich auf das gleiche Misstrauen. Er nickt, glaubt mir aber kein Wort.

Immerhin erfahre ich ein wenig Neues. Albert erzählt in voller Länge das Gerücht vom letzten Sommer, ich sei in Lagos wegen des Juju-Schmuggels verhaftet worden. In Ketten gelegt, habe ich angefangen zu weinen. Die Polizei brachte mich nach Kano, wo ich gezwungen war, Ngozi zu identifizieren. Sie wurde ebenfalls an Händen und Füßen angekettet. Beide kamen wir dann zurück nach Lagos, in Polizeihaft.

Zwei Kilometer hinter Itchi liegt der Ort Unadu, in dem Ngozi eine neue Mission errichten will. Mehr als 100 Dorfbewohner sind versammelt. Unter ihnen viele Bekannte aus Alor Uno. Das weiße Gewand von Festus ist mit Erde beschmutzt; auch andere wirken derangiert, abgekämpft. Einige Dorfbewohner knien nieder, lassen sich behandeln. Zwei, drei wälzen sich auf dem Boden. Ngozi selbst hat sich zurückgezogen. Man führt mich zu ihr, 200 Meter durchs Gebüsch. Sie kauert auf dem Boden, neben ihr nur ihr Bruder Amobi. Ihr Kopf ist fast kahl geschoren. Abstehende Ohren. Sie erinnert an einen buddhistischen Mönch. Nicht mehr in weiß gekleidet, sondern in ein Sackgewand aus jenem faserigen Plastikstoff, aus dem die Säcke für Reis oder Mais gefertigt sind. Wie immer barfuß. Sie freut sich, mich zu sehen. Ich bin etwas unsicher, ob ich vor ihr niederknien soll, unterlasse es aber fast instinktiv. "Was hast du mir mitgebracht?" – Leider nichts. Sie überreicht mir eine Kolanuss. Da sie schon gehört habe, dass ich komme, habe sie die Nuß für mich aufbewahrt. Ich lade sie im Gegenzug ein, in mein Haus zu kommen. Sie versichert mir, dass sie schon lange sehen wolle, wo ich wohne. Zum Glück wohne ich nicht auf dem Campus, denn sie sei besorgt, weil man ihr auf dem Campus nach dem Leben trachtet. Sie erinnert an jenen Angriff der Studenten im Frühjahr 95. In drei Tagen soll ich sie abholen.

Wir gehen vor zu dem Platz, wo die Gläubigen versammelt sind. Aber Ngozi mag sich nicht unter ihre Anhänger mischen. Die Leute seien ihr zu viel. Sie lässt die Journalisten rufen, konversiert mit ihnen in Igbo. Besonders der Jüngere zeigt sich ziemlich unterwürfig. Ngozi jedoch ist nicht sehr gnädig gestimmt. Nach langem Palaver erhalten sie schließlich doch einen Interviewtermin. Vom Journalisten erfahre ich noch, dass Ngozi, wie sie in einem früheren Interview erklärte, mit 17 heiratete und ein Kind bekam, das sie bald verlor. Nun müsse sie warten, bis sie wieder ein Kind gebiert, weil sie drei Jahre lang für Gott zu arbeiten habe.

Der Journalist gibt sich überrascht, dass der chief so eng mit Adoro liiert sei. Albert setzt ihm auseinander, dass der chief zwei seiner drei Frauen als Präsent durch Adoro erhalten habe. Viele Junge im Ort warteten nur darauf, ebenfalls eine Frau geschenkt zu bekommen. Aber Ngozi predige, dass man sich anstrengen müsse und für jede Frau zu zahlen habe.

41. Alor Uno, 20. Feb. 96

<96>

Frederic, der mir zunächst mit so viel Misstrauen begegnet war, gibt mir mittlerweile viele Auskünfte. Er bestätigt, dass die Osu in gesonderten Dörfern leben, nach eigenen Sitten und Traditionen. Das Dorf, dem Ngozi und er selbst entstammen, gehört den Freigeborenen. Aber man muss nicht einmal eine Meile laufen, um in jeder Richtung auf Osu-Siedlungen zu treffen. Die Siedlungen der Osu umgaben die Dörfer der free-born einst wie ein Zaun, zum Schutz gegen wilde Tiere. Noch immer leben die Osu am Rande. Aber nachdem es keine willden Tiere mehr gibt, liegt darin eher ein Vorteil, denn die Osu-Familien finden dort mehr Land, das sie kultivieren können.

("Sind die Osu besonders reich?") – Es gibt Reiche und Arme.

Während wir über Osu sprechen, senkt Frederic die Stimme, flüstert beinahe. Gleichzeitig ist er äußerst erregt, schaut sich verschiedentlich um, ob Leute vorbeikommen und unsere Konversation belauschen können.

Kurz nach dem Krieg hätten die Osu versucht, den chief zu stellen. Aber die Freigeborenen duldeten das nicht. Der Konflikt schlug Wellen, Petitionen gingen bis nach Lagos. Traditionell ist es das Privileg von Thompsons Dorf, den Häuptling zu stellen. Und dieses Dorf gehört den Freigeborenen.

Frederic will wissen, ob man nach Deutschland reisen und sich dort eine Frau nehmen könne. – Im Prinzip ja. Man kann sie auch nach Nigeria bringen. – Ob die Frauen "loyal" seien? – Nicht sonderlich. – Diese Auskunft ernüchtert ihn beträchtlich, und er berichtet, was mit Ehebrechern passierte, als Adoro noch die Kontrolle hatte. In einem Fall, als ein Mann aus Ibagwa und eine Frau aus Alor Uno (oder umgekehrt) eine Affäre hatten, schritt Adoro ein, um die Interessen der Menschen in Alor Uno zu schützen. Der Ehebrecher erhielt Order, sich nackt auf dem Markt von Ibagwa zu zeigen und dort vor aller Augen zu tanzen. Viele Schaulustige fanden sich für das Spektakel ein. Hätte sich der Schuldige geweigert, der Anordnung Adoros zu folgen, hätte ihn die Göttin getötet.

Aus den Worten von Frederic klingt heraus, dass Adoro selbst töten konnte. Es waren also nicht finstere Hexen im Hintergrund, wie mir Chuka erzählte.

42. Unadu, 22. Feb. 96

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Mittags von 12 bis 14 Uhr Literaturkurs: Goethes 'Prometheus'. Danach direkt nach Unadu, etwa zwei, drei Kilometer hinter Itchi. Ngozi hatte vorgeschlagen, sie in Unadu abzuholen, damit wir zusammen zu meiner Wohnung fahren. Aber daraus wird nichts, denn die Arbeit in Unadu zieht sich lange hin, bis nach Mitternacht. Nachmittags sind bereits 200 bis 300 Menschen versammelt, auf jenem Sandplatz gleich rechts an der Straße. Ein paar Jujus liegen mitten auf einem Weg. Ich erfahre, dass man mit dem cleansing begonnen hat. Aber nur ein Haus wurde gesäubert.

Auf dem Sandplatz herrscht Volksfestatmosphäre: Trommeln, Tanzen, handclapping und shouting. Nach meiner Ankunft führt man mich gleich zu Ngozi. Sie kauert unter einem Strohdach, neben den Häusern. Ich bin wieder unschlüssig, ob ich vor ihr niederknien oder mich setzen soll. Da sie von so vielen Dorfbewohnern umgeben ist, wäre es vielleicht provokativ, nicht den gebührenden Respekt zu zeigen. Meine Rolle besteht ja darin, den Bauern zu zeigen, dass sich auch Weiße mit einem großen Wagen der Autorität Ngozis beugen. Ich sinke also auf die Knie, bleibe aber nicht aufrecht vor ihr knien, sondern mache es mir bequem. Nach einigen Minuten bricht Ngozi auf und zieht sich in ein Gebüsch zurück. Für die Dorfbewohner ist dieses Areal offenbar out of bounds. Nur einzelne von ihnen, die eine Konsultation suchen, werden von Ngozis Gefolgsleuten hierher geführt. Die Weißgekleideten schirmen Ngozi also ab. Etwa 15 bis 20 von ihnen sind aus Alor Uno gekommen. Ihre Gewänder sind arg beschmutzt, verschwitzt. Biblische Szenen: wie Jesus, der von den Aposteln in seiner Einsamkeit gestört wird. Es scheint üblich geworden zu sein, vor Ngozi niederzuknien, sich ihr demütig zu nähern.

Eine junge Frau, noch im Teeny-Alter, kommt zu Ngozi mit einem blauen Plastikteller voll Wasser. Sie entfernt ihr Kopftuch und das Haarnetz darunter, beugt den Kopf. Ngozi schüttet Wasser über das Haar. Die Kleine kniet nieder. Ngozi steht neben ihr, wickelt eine Rasierklinge aus und beginnt, dem Mädchen die Haare abzurasieren. Eine Weißgekleidete aus Alor Uno packt ebenfalls eine Rasierklinge aus und lässt sich von einer Kollegin, ebenfalls in Weiß, das ohnehin kurze Haar wegscheren. Während sie alle noch beschäftigt sind, kommt ein junger Mann hinzu, um sich von Ngozis Bruder Amobi den Kopf kahl scheren zu lassen. Mir wird unwohl, weil ich der Einzige bin, der nicht kahl geschoren herumläuft. Ob Ngozi mich auffordert, ihrem Beispiel zu folgen? Ihr eigener Schädel ist glattrasiert. Rote Erde schimmert von der Schädeldecke.

Ngozi springt auf, läuft davon. Alle folgen ihr. Wir rennen barfuß durch die Pflanzungen, kommen zum Ausgangspunkt zurück, bleiben stehen und verschnaufen. Mir ist unklar, zu welchem Zweck uns Ngozi durch die Büsche gescheucht hat. Es wirkt wie ein Spiel unter Kindern. Vielleicht erregt es auch die Neugier der Dorfbewohner.

Gegen 21 Uhr sage ich Ngozi, dass ich zurückfahren will. Ob sie mitkommen möchte? – "Wait small!" Aber dann dauert es noch mehr als drei Stunden, bis wir aufbrechen. Die ganze Zeit über verharren die Dorfbewohner auf dem Sandplatz. So viel Trubel wie durch Ngozi erleben sie selten.

43. Unadu, 23. Feb. 96

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Heute läuft alles wie geplant. Ich bin um 13 Uhr in Alor Uno. Ohne allzu langes Warten geht es los. Ngozi winkt einer jungen Frau in Weiß, uns zu begleiten. Die Weißgekleidete setzt sich dezent auf den Rücksitz und stört nicht weiter. Sie versteht zum Glück nicht viel Englisch. Vielleicht bekommt sie gar nicht mit, was Ngozi nun sagt: Die Begleiterin habe sie mitnehmen müssen, um ihre Leute zu beruhigen. Sie glauben, Ngozi könnte nicht mehr zurückkehren, wenn sie mit mir davonfährt. In Zukunft sei es aber nicht mehr nötig, eine Begleiterin mitzunehmen. Dann würde sie (Ngozi) allein zu mir kommen, und zwar um sich von den vielen Leuten, die sie bedrängen, auszuruhen. Ihre Ausführungen sind wie eine Ankündigung formuliert, doch es klingt durch, dass sie auch als Frage gemeint sind: Ob sie kommen könne, wann immer sie wolle? Als wir das Haus betreten, mag sie sich nicht aufs Sofa setzen oder auf den Stuhl, den ich ihr anbiete. Sie setzt sich gleich neben der Eingangstür auf den Boden und lehnt sich an die Wand. Fürchtet sie, dass sie mit ihrem zerlumpten Kittel mein Sofa beschmutzt?

Um ihr Zeit zu geben, die Fassung wiederzugewinnen, mache ich mich gleich in der Küche zu schaffen. Nachdem sie mich gestern mit unmöglichem Essen traktiert hat, habe ich keine Bedenken, sie mit den abwegigsten Speisen zu bewirten. Es beginnt mit einer Käseplatte: Camembert, Brie, Pyrenäenkäse, dazu Oliven, Gürkchen, Peperoni. Sie nimmt eine Olive – und ist entsetzt. Einen so intensiv unangenehmen Geschmack hatte sie nicht erwartet. Am fürchterlichsten wirkt der Camembert. Sie schiebt sich einen Happen in den Mund – und erstarrt. Kaut nicht, bewegt sich nicht, hält den Mund halb geöffnet, zwingt sich aber, das stinkige Etwas nicht auszuspucken. Ihre Begleiterin, die verschämt auf der Couch Platz genommen hat (ihr weißes Gewand ist blütenrein und sauber), bringt nicht mehr in den Mund als eine Olive und ein Stückchen Gurke. Den Käse rührt sie nicht an, nachdem sie beobachten konnte, was für eine fatale Wirkung er auf Ngozi machte.

Ngozi dagegen isst tapfer weiter, probiert noch ein, zwei Käsesorten und versucht, sich ihren Ekel nicht anmerken zu lassen. Als nächstes präsentiere ich ein Tellerchen mit Roter Bete. Von Victoria weiß ich, dass es dank der intensiven Farbe besonders bedrohlich oder abstoßend wirkt. Victoria hält mich deshalb auch davon ab, die Rote Beete in den Salat zu mischen: Ngozi würde den ganzen Teller zurückweisen. Doch Ngozi probiert auch von der Roten Bete, beißt einige Kanten von einer Scheibe ab.

Für den Salat setzen wir uns alle an den Tisch. Ich kredenze Earl-Grey-Tee, den die Besucher mit viel Milch mischen. Ngozi mag den Thunfisch nicht essen: ‘Frischen Fisch’ nehme sie nicht zu sich, nur getrockneten. Doch ansonsten isst sie im Gegensatz zu ihrer Begleiterin munter drauf los. Immerhin hat sie schon in Kano gesehen, wie Leute rohe Pflanzen essen.

Nur langsam kommt ein Gespräch auf. Es geht um ihre Zukunftspläne. In zwei Jahren, genau gesagt im Januar 1998, ende ihr Einsatz. Dann könne sie wieder ans Familienleben denken. Ob ich dann noch in Nigeria sei? Bestimmt könne ich meinen Vertrag weiter verlängern? Ich erkläre, dass meine Vorgesetzten in Deutschland entscheiden, wo ich zu arbeiten habe. Gut möglich, dass ich schon bald in ein anderes Land gehen muss.

Sie erwähnt, dass sie für drei Jahre ins Ausland gehen werde, vielleicht, um in Deutschland zu missionieren. Ich flechte ein, dass ich vermutlich nicht so bald nach Deutschland zurückgeschickt werde. Außerdem erinnere ich daran, dass sie die Sprache dort nicht versteht. Aber der Heilige Geist – so meint sie – könne ihr die Zunge lösen. In Kano habe sie einfach Hausa gesprochen. Und wenn der Geist sie verließ, musste sie wieder Igbo sprechen.

("Sind einige der Hausa-Muslime zum Christentum übergetreten?") – Ja. Allerdings gab es in Kano Rückschläge. Aus dem Gebäude, in dem sie ihre Kirche eingerichtet hatte, ist sie herausgeflogen. Das Gebäude hatte sie von einem Igbo-Geschäftsmann erhalten. Ihm gehört auch das Haus, in dem Ngozi zwei Zimmer bewohnte. Als sie im letzten Jahr keine Unterkunft hatte, nahm sie das Angebot des Mannes an: "Er wollte mich heiraten. Und ich sagte ja, damit wir kostenlos Räume bekommen." Als sich abzeichnete, dass Ngozi ihn nicht heiraten wollte, ist die ganze Mission rausgeflogen.

In Nigeria werde es eine schwere Krise geben. Sie spüre es. Sie wisse nur noch nicht, wann und wie.

Ob ich Kinder habe? – Nein. – Ob ich heiraten wolle? – Nein. – Warum nicht? – Sie mag mein Verhalten nicht kommentieren, aber was sie in dieser Angelegenheit denkt, zeigt sich, als ihr Blick auf Chijioke, meinen Nachbarn, fällt. Er hat eine junge Frau dabei. – Ist es seine Frau? – Nein. Er ist nicht verheiratet. Wahrscheinlich eine Freundin. Er liebt es, Studentinnen anzuschleppen. – So ein alter Mann. Er müsste längst verheiratet sein. – Ich wende ein, dass Chijioke (ein Mann in den Dreißigern) noch nicht so alt sei. Doch Ngozi beharrt darauf: "Er ist ein alter Mann, und noch dazu hässlich und fett. Ich mag keine fetten Menschen." (Und das sagt sie zwei Mal, mit Nachdruck.)

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Ich schlage ihr vor, das Haus anzuschauen. Mein Schlafzimmer findet sie schön. Ich weise auf TV und Video, erwähne, dass ich auch zwei Filme in Igbo habe. Den einen, Living in Bondage kennt sie bereits. Was darin gezeigt werde, sei nicht erfunden, es passiere wirklich. Menschen töten ihre Mutter oder ihren erstgeborenen Sohn, um reich zu werden. Sie schneiden Teile aus dem Körper heraus. Einige hätten ihr gegenüber solche Ritualmorde bekannt.

("Wie viele?")

"Many". Es stellt sich heraus, es waren "more than five".

("Was macht sie in solchen Fällen? Gibt es Erlösung?")

Die Betroffenen müssen bereuen, dann können sie behandelt werden.

("Wie?")

Durch Beten. Oft kommen sie, weil das Geld, das sie sich durch die Bluttat erworben haben, zerronnen ist. Oder sie suchen Hilfe, weil ihre Zeit abgelaufen ist. Als sie das Arrangement trafen, ihre Mutter oder andere Angehörige zu töten, erhielten sie 30 oder 35 Jahre Zeit. Danach müssen sie sterben. Und sie wissen genau, wann ihre Zeit abgelaufen ist.

("Kann Ngozi die Zeit verlängern?")

Die Antwort ist unklar: Aus Onitsha kam eine Frau, die noch sechs Tage zu leben hatte. Sie versuchte verzweifelt, von Ngozi Hilfe zu bekommen. Aber Ngozi war nicht da, und die Frau starb.

Ngozi warnt mich: Jene Ritualmörder suchen ihre Opfer, indem sie sich großzügig zeigen, Geschenke verteilen und Menschen zu sich locken, um sie dann zu opfern. Und das alles nur für Geld. "Nigeria is an evil country." Die Verbrechen nehmen überhand. Die Menschen sündigen so viel, dass Ngozi, um für die Sünden der anderen zu büßen, ein Gewand aus Sacktuch trage. Es sei wie in der Bibel, wo Propheten (?) in sackleinenen Gewändern gingen. Ngozi folge dem Beispiel, nicht um für die eigenen Sünden zu büßen, sondern um die Sünden der anderen auf sich zu nehmen. Als wir das Haus verlassen, erinnert sie mich daran, dass ich ihr ein Geschenk überreichen wollte. Ich springe ins Haus zurück und bringe ihr ein Bild mit Glas und Holzrahmen: ein Jesusporträt, für 150 Naira auf dem Marktplatz von Nsukka erstanden. Sie führt es noch am selben Tag mit nach Unadu, wo sie es in der Mitte des Sandplatzes zur Schau stellt.

Bei der Rückfahrt versichert sie mir, dass ihr mein Haus gefalle. Sie würde gerne wiederkommen, um sich bei mir auszuruhen und um die Videokassetten anzuschauen. Ich versuche ihr beim Fahren zu erklären, wie sie zu mir zurückfindet. Aber sie sagt, das sei sinnlos, denn ich müsse sie abholen. Sie wolle ja allein kommen, ohne Begleitung aus Alor Uno. (Ein Auto fährt sie nicht, und einen öffentlichen Bus zu besteigen wäre wohl für eine Prophetin nicht statthaft. Zumindest nicht in ihrer Heimatregion. Vielleicht will sie auch nicht, dass ihre Mitbrüder oder Mitschwestern wissen, wie mein Haus zu finden ist, damit sie sich ungestört zurückziehen kann.)

<100>

Statt direkt nach Unadu zu fahren, machen wir Station in Alor Uno, um den Wagen voll zu laden. Die beiden Brüder kommen mit, außerdem Fabian und sein Bruder. Als ich zum Auto komme, haben meine Mitbrüder bereits die Heckklappe geöffnet und die hintere Sitzbank ausgeklappt. Aus einer Vorratskammer im Hof wird ein Sack Reis oder Mehl angeschleppt, des Weiteren ein Huhn, das mir den Wagen vollkackt, und einige religiöse Paraphernalien. Ngozi bringt ihre beiden Zeremonienschwerter, dazu eine Steinplatte mit Kerzenresten. Die anderen laden Musikinstrumente ein, dazu mein Jesusbild, eine Bibel auf Englisch. Die Fahrt aus Alor Uno hinaus gestaltet sich wieder als ein Spektakel. Ngozi besteigt den Wagen nicht vor dem Haus, sondern läuft gravitätisch Richtung Straße. Ich fahre langsam mit dem Nissan hinterher. Als sie losmarschierte, hatte sie sich eine halb abgebrannte Kerze in den Mund gesteckt, und zwar so, dass ein Ende der Kerze aus dem Mund herausragt und sie nicht sprechen kann. Mit dem Stück Kerze im Mund läuft sie zunächst zu den Marktständen, kauft (oder nimmt sich) irgendwelche Körner oder Erdnüsse. Während ich in respektvoller Distanz mit dem Wagen warte, schreitet sie auf die Straße zu, stellt sich dort auf und schüttet sich mit der Hand die Körner (oder was es ist) über den Kopf, so dass sie über den Körper herabrieseln und zur Erde fallen. Unmittelbar neben ihr liegen einige Jujus, die man Personen abgenommen hat, die damit zum ehemaligen Adoro-Schrein gehen und opfern wollten. Diese Beutestücke liegen seit Tagen mitten auf der Straße, so dass Autos vorsichtig darum herumfahren müssen. Ngozis Auftritt hat unter den Zuschauern gehörigen Effekt gemacht. Ihre Ausfahrt verwandelt sich in ein Happening, inszeniert wie von Joseph Beuys.

Ihr Bruder gibt mir Order, zu ihr zu fahren und sie einzuladen. Ngozi steigt ein, sagt kein Wort, denn sie behält weiterhin das Stück Kerze im Mund. Noch eine halbe Stunde später, als wir die Polizeisperren vor Ibagwa passieren, hat sie das Wachs aus dem Mund ragen. Die Polizisten sagen nichts, sondern winken uns einfach vorbei.

Bei unserer Ankunft in Unadu sind nicht viele Gläubige oder Schaulustige versammelt. Selbst in der Nacht, bevor ich zurückfahre, sind es nicht so viele wie tags zuvor. Meine Hoffnung, dass wir auf Hexenjagd gehen würden, wird enttäuscht. Wir bleiben auf dem Gebetsplatz, und hier gibt es das übliche Programm.

Auch Ngozis Anhänger improvisieren, nehmen sich die Freiheit, alle möglichen Riten (oder Verrücktheiten) vorzuführen. Am ärgsten treibt es [Obi], der seiner Physiognomie nach mit Albert verwandt sein könnte. Er übt sich in exaltierten Gesten, führt skurrile Pantomimen vor, schneidet dabei Grimassen, rollt mit den Augen, so als gehöre er zur Comedia dell’Arte. Bei keinem anderen wirken die Bewegungen so übertrieben und gespielt. Und das scheint ihm auch bewusst zu sein, denn er grinst das Publikum beinahe diabolisch an. Mir drängt sich gleich die Frage auf, warum Ngozi nicht eingreift. Auf mich wirkt der Bursche nicht vom Geist inspiriert, sondern eher verrückt, beinahe gefährlich. Auffällig, dass er sich besonders an weiblichen Klienten zu schaffen macht, mit einem Hang zum Perversen. Unmittelbar vor mir sind zwei Frauen niedergekniet, während alle anderen, aufrecht stehend, mit den Händen klatschen und sich im Takt der Trommeln wiegen. Nachdem Ngozi ihnen die Hand aufgelegt hat, kommt Obi mit einer Ananas hinzu. Die beiden Frauen sitzen mittlerweile im Schneidersitz. Obi schiebt einer von ihnen die Ananas unter den rechten Oberschenkel, presst den Oberschenkel auf die Ananas, so dass die Stacheln sich ins Fleisch eindrücken. Um den Druck weiter zu erhöhen, presst er seine Knie auf ihren Schenkel, so als wolle er ihr Schmerz zufügen. Ist es als eine Kasteiung gedacht?

Mein Verdacht, dass er durchgedreht ist, bestätigt sich wenig später. Alles schaut auf, als einige Weißgekleidete die Straße Richtung Itchi herunter rennen. Ich gehe vor zum Straßenrand, mag den vielen Schaulustigen jedoch nicht folgen. Doch in der Ferne beobachte ich eine Art Handgemenge. Oder habe ich mich getäuscht? Die Leute kehren zurück, mit Obi in ihrer Mitte. Als er an mir vorbeikommt, wechseln wir einige Worte. Die Umstehenden schauen besorgt zu, weil Obi offenbar erregt ist, so als könne er jederzeit ausrasten. Er beklagt sich mir gegenüber, dass man ihn gegen seinen Willen festhalte. Er wolle zurückgehen nach Alor Uno, weil er müde sei. Seit Sonntag, als man nach Unadu kam, war er pausenlos bei der Arbeit. Er habe jetzt genug. Es folgen einige wirre Bemerkungen, die sich auf mich beziehen, vielleicht aus Eifersucht geboren: Ob ich Ngozi Zeichen gebe, wenn ich mit ihr weggehe: "blinking your eyes ..." (und er zwinkert mir zu, wie man es tun mag, wenn man eine Frau verführen will). Die anderen schieben ihn weiter, unter einen Baum. Um mich herum wird aufgeregt debattiert. Ngozis Bruder bittet mich, nach Alor Uno zu fahren, um eine Kette zu holen. Ich bin von der Idee nicht begeistert. "Würde ein Strick nicht genügen?" – "Nein, damit könnte er sich verletzen." – "Gibt’s keine Kette in Ibagwa zu kaufen?"

<101>

Der Hüne aus Awkuzu [2] drängt die Umstehenden, nicht so laut zu sprechen, damit Obi nichts von der Kette hört. Kurz danach, als ich zu jenem Baum schlendere, wo man Obi in ein Gespräch verwickelt hat, höre ich, wie er empört davon redet, dass man ihn anketten will. Die Dorfbewohner schauen irritiert zu. Keine gute Reklame für Ngozis Mannschaft. Aber der Konflikt eskaliert nicht weiter.

In der Dunkelheit, während die Dorffrauen weiter singen und klatschen, separieren sich die Anhänger der Mission. Man liegt im Sand, plaudert ein bisschen. Einer rollt seine Bastmatte aus, um sich niederzulegen. Eines der Mädel legt sich gleich neben ihn. Eine weitere folgt. Offenbar gibt es keinen Zwang, die Geschlechter auseinander zu halten. Ob sie Gelegenheit finden, sich in der Nacht zu amüsieren? Ganz unvermittelt schreckt Ngozi die Gruppe auf, kommt angerannt, scheucht sie auf, treibt sie an zu arbeiten, so als wären es ungezogene Kinder. Nur ich darf weiter sitzen bleiben.

Gegen 21 Uhr habe ich mich durchgerungen, nach Hause zu fahren. Ich würde Ngozi gern Bescheid geben, aber sie wirkt zu beschäftigt. Deshalb verfalle ich auf den Ausweg, ihrem Bruder mitzuteilen, dass ich gehen möchte. Ich soll einen Moment warten. Er spricht mit Ngozi, die mir ausrichten lässt, ich solle über Nacht bleiben. Doch ich fühle mich zu erschöpft, verspreche daher, am Sonntag oder Montag wiederzukommen. Der Bruder eilt wieder davon, sagt mir dann: Okay, ich könne gehen. Während er mich zum Auto geleitet, frage ich ihn, wie lange sie noch in Unadu zu tun haben. – Das lasse sich nicht voraussagen.

("Gibt es hier ebenfalls einen Schrein zu zerstören?") – Es gebe einen Schrein, doch ob man den zerstören sollte, wisse er nicht. Das hänge von den Bewohnern ab. Nur wenn alle einverstanden sind, würde man sich daran machen.

Ich hatte Ngozi schon tags zuvor gefragt, warum sie sich Unadu für ihre Kampagne gewählt habe. Ihre Antwort: Vater und Mutter seien in Unadu gestorben. – Aber es war Adoro in Alor Uno, der sie getötet hat? – Ja. Adoro.

Als wir von meinem Haus aufbrachen, versprach mir Ngozi, sie werde beten, damit Gott zu mir spreche, bevor ich Nigeria verlasse. Wenn Gott zu einem spreche, sei es, als ob man träume. Aber man sei wach. (Vielleicht empfindet sie es als Problem, dass mir die religiöse Begeisterung fehlt. Woher weiß sie, dass Gott zu anderen ihrer Anhänger gesprochen hat?)

Sie schlug vor, mir heiliges Wasser zu geben. Ich könne es benutzen, um damit zu baden. Ich wollte wissen, ob ich mit einem Kanister Wasser zu ihr kommen soll, und sie nickte. In Unadu sah ich, wie sie das Wasser weihte. Eine Menge weißer Kanister und Glasflaschen waren zusammengestellt, mit Wasser gefüllt, aber nicht verschlossen. Ngozi beugte sich darüber und tauchte ihren rechten Zeigefinger kurz in jeden Behälter, und zwar so tief, dass sie das Wasser berührte.

44. Unadu, 25. Feb. 96

<102>

Auf dem Gebetsplatz sind kaum mehr als 30 Leute verstreut, gehen unterschiedlichen Beschäftigungen nach. Die Leute der Mission sind weitgehend unter sich, und es kommt ausgelassene Stimmung auf. Keine förmlichen Gebete, kein Niederknien. Nur Trommeln, unterbrochen von Ngozis Ansprachen. Außerdem einige Riten, die auf mich einen ziemlich albernen Eindruck machen: Ngozi rennt ganz überraschend, ihr Zeremonienschwert vor sich haltend, am Rande des Sandplatzes entlang. Ihr Bruder Chijioke springt ebenfalls auf, folgt ihr mit 50 Metern Abstand, mit dem zweiten Schwert in der Hand. Ngozi gibt nach einer Runde auf, aber Chijioke läuft weiter. Nach fünf, sechs Runden wird er matter, bleibt schließlich stehen. Ich frage seinen Bruder Amobi, der neben mir sitzt, ob Chijioke müde ist. Er zuckt mit den Achseln. "Vielleicht. Oder er ist mit dem Rennen fertig." Das Spektakel nimmt freilich seine Fortsetzung. Ngozi führt mit ihrem Schwert einen Schattenkampf auf. Chijioke gibt eine Pantomime, wie in Zeitlupe, schwenkt das Schwert über seinen Kopf, verbiegt seinen Körper, zieht Grimassen. Nach einigen Minuten bricht Ngozi das Spielchen ab, etwas später dann Chijioke. Ein Dutzend Unadu-Bewohner haben von der Straße aus zugeschaut. Ob sie das Gefühl haben, einem sakralen Geschehen beizuwohnen?

Für die Abreise, nachts um 22 Uhr, werden die wichtigsten Gerätschaften zusammengetragen. Allmählich wird mir klar, dass sich sämtliche Besucher der Mission auf den Rückweg machen. Ein Peugeot Pick-up trifft ein, der von den Weißgekleideten geentert wird. Die Plätze in meinem Nissan sind allerdings attraktiver. Lange bevor es losgeht, sind die meisten Plätze besetzt. Eng gedrängt hocken zehn Personen (außer mir) auf den Sitzbänken. Unter ihnen ein kranker oder verkrüppelter Mann, den ich schon auf dem Gebetsplatz hatte humpeln sehen, gestützt auf eine Begleiterin. Vermutlich ist es ein Patient aus Unadu, der sich von einem Aufenthalt in Alor Uno Heilung verspricht. So gebrechlich oder verkrüppelt wie er ist, dürfte der Mann freilich keine Besserung in Alor Uno erfahren. Ein düsteres Kapitel, wie man so fahrlässig mit kranken Menschen umgehen kann. Glaubt Ngozi wirklich, dass sie derlei Patienten heilen kann? Oder gehorcht sie nur dem Zwang, dass jeder Prophet sich als Wunderheiler aufspielen muss, so wie in der Bibel?

45. Alor Uno, 26. Feb. 96

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Auf dem Marktplatz sehe ich die Spuren von Ngozis Reformwut. Einige Steinhäuser und Marktstände wurden am Morgen abgerissen. Die Geröllhaufen geben davon noch Zeugnis. Ngozi habe angekündigt, die Marktstände an einem anderen Platz zu errichten.

("Wo?") – Fabian weiß es nicht.

Für Obiora, der auf dem Markt Haushaltsartikel verkauft hat, muss es ein bedeutsamer Verlust sein. Wie kommt es, dass sich die Leute ihr Eigentum widerstandslos zerstören lassen? Der Marktplatz wird durch diese Operationen nicht schöner, nur öder.

46. Nsukka, 26. Feb. 96

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Der Prozess gegen sechs Mitglieder der Mission ist für 9 Uhr angesetzt. Während die Angeklagten und ein halbes Dutzend Sympathisanten auf der linken Seite des Gerichtssaals Platz nehmen, setzt sich der chief mit einem Dutzend Unterstützern auf die rechte. Alles alte Männer. Der chief selbst ist über 60, mit roter Eze-Kappe, hellblauem Gewand, schwerem holzgeschnitzten Stab. Man sieht, dass er arm ist. Kein Pomp, kein selbstsicheres Auftreten.

Es pocht mehrmals an der Tür zu den Diensträumen. Alles erhebt sich. Der Richter tritt ein, d.h. eine junge Frau mit elegantem schwarzem Hut. Sie setzt sich, blättert gelangweilt in den Akten, ruft schließlich die Angeklagten namentlich auf. Sie müssen ein Podest besteigen und dort stehen bleiben. Dann bittet sie eine schwarz gekleidete Gestalt um diverse Papiere. Ich habe den Eindruck, dass es sich um den Staatsanwalt handelt. Aber er könnte auch der Anwalt des chiefs sein. Jedenfalls sehe ich ihn nach der Sitzung mit der Partei des chiefs draußen debattieren.

Die Richterin wirkt ziemlich muffig. Der Anwalt hat ihr die verkehrten Papiere überreichen lassen. Sie hält ihm eine Moralpredigt: dass alles seine Ordnung haben müsse. Er nickt unterwürfig, zeigt sich zerknirscht, haspelt Entschuldigungen ab: "Thank you Sir. I apologize Sir." Er sucht fieberhaft, mit zittrigen Händen in einer Aktenmappe nach den richtigen Papieren. Niemand von uns versteht, worum es geht. Am allerwenigsten der chief, denn alles wird auf Englisch verhandelt. Der (Staats)Anwalt liest aus der Anklageschrift, die Richterin erklärt, beinahe angewidert: "Was erzählen Sie da von Nachstellungen? Dass der Kläger belästigt wurde? Wenn ein Streit ausbricht, sind es immer zwei Parteien, die streiten." Und sie droht, den chief ebenfalls zu belangen. Er wird vorgerufen, und der Dolmetscher übersetzt ihm das soeben Gesagte. Er reagiert nicht, hat wohl auch Schwierigkeiten zu begreifen. Ich bekomme den Eindruck, dass die Sache gegen ihn entschieden ist, doch dann kommt eine Standpauke, die sich vornehmlich an die Angeklagten richtet. Wieder bittet sie den Dolmetscher zu übersetzen: dass jeder das Recht habe, seine Religion auszuüben, dass man keine wirkliche Religion habe, wenn man andere belästigt. Zwischendurch fragt sie die Angeklagten drohend: "Do you listen?" Sie will die Sache abschließen, und fragt den (Staats)Anwalt, ob es irgendwelche neuen Erkenntnisse gebe, die nicht in den Prozessakten stünden. Der hebt an zu einer flammenden Rede, um die Bösartigkeit der Angeklagten herauszustellen. Die Richterin reagiert genervt. Er geht zu der Behauptung über, dass die Belästigungen durch die Beschuldigten weitergingen, dass sie gegen die Schreinanhänger gewaltsam vorgingen. Die Richterin interessiert sich nicht für weitere Details, sondern ermahnt die Angeklagten, sie sollten sich nichts zuschulden kommen lassen, während das Verfahren laufe. Sonst würde sie sofort Order geben, die Betreffenden für drei Monate ins Gefängnis zu werfen, und zwar ohne Verfahren. Sie gibt schließlich einen neuen Verhandlungstermin an: 16. April 1996. Wir erheben uns und gehen.

Mir ist undurchsichtig geblieben, was eigentlich verhandelt wurde. All diese technicalities wurden in Englisch debattiert, ohne sie übersetzen zu lassen. Beim chief und den anderen alten Männern müsste Konfusion herrschen. Es ist wie eine black box. Sie geben einen input und können nicht absehen, wie der Apparat funktioniert: ob er Verderben ausspuckt gegen ihre Feinde oder gegen sie selbst. Den Angeklagten scheint ein wenig klarer zu sein, was passiert ist. Aber auch sie müssen sich von ihrem Anwalt die Sache erklären lassen.

Ein Bekannter von Thompson, ein Jurist, erläutert mir: Die Richterin habe abgelehnt, den Fall zu hören, denn es sei ein religiöser Fall. Damit ist die Sache aber nicht ausgestanden, denn der Anwalt des chiefs will die Angelegenheit vor eine andere Instanz bringen.

47. Alor Uno, 1. März 96

<105>

Thompson erzählt von einem Polizeitermin in Enugu. Das Treffen war dazu gedacht, zwischen den streitenden Parteien zu schlichten, denn beide Seiten hatten die jeweils andere angezeigt. Aus unklaren Gründen hatten die streitenden Parteien aber bei je verschiedenen Polizeieinheiten Anklage erstattet. Beim gestrigen Treffen kam es dann zu einem bösen Schlagabtausch. Der chief präsentierte einen Zeitungsausschnitt, in dem ein Foto von Thompson abgebildet war und Thompson wegen einer Scheckgeschichte als wanted person zur Fahndung ausgeschrieben wurde. Die Polizei – so meinte der chief – solle eingreifen und in der Sache ermitteln. Die Beamten schauten auf das Datum der Zeitung, nur um zu erfahren, dass der Artikel schon 1991 veröffentlicht wurde. Sie fragten den chief, seit wann er den Artikel besitze, und der meinte: seit vier Jahren. Diese Auskunft muss die Polizisten in Rage versetzt haben: Warum er erst jetzt, nach vier Jahren, in dieser Sache tätig werde?

All diese Details erfahre ich erst spät in der Nacht, unter vier Augen, nachdem wir die Betenden längst verlassen haben. Statt direkt zu Thompson nach Hause zu gehen, halten wir an dem Straßenlokal gleich an jenem Feldweg, der zu seinem Dorf führt. Im Lokal selbst ist seit neuestem ein kleiner Schwarz/Weiß-TV aufgestellt, vermutlich batteriebetrieben. Zehn Leute sitzen davor und verfolgen die Nachrichten. Thompson und ich sind dagegen hinaus auf die Straße gegangen, wo uns niemand belauschen kann. Im hellen Mondlicht sehen wir von weitem jeden, der vorbeikommt. Und Thompson hält angestrengt Ausschau, um festzustellen, wer in unsere Nähe kommt. Manche werden mit Handschlag begrüßt, anderen nickt er kaum zu. Einer der Passanten ist ein Bursche Anfang 20. Sie plaudern. Es geht darum, ob irgendetwas erledigt wurde. Als wir wieder allein sind, erläutert Thompson: "Er war einer meiner boys." Früher, als Thompson noch Geld hatte, habe er sechs, sieben boys beschäftigt.

("Wozu?") – Als Body Guards, um auf ihn und das Haus seiner Mutter aufzupassen. Doch dazu fehlt ihm heute das Geld. Als er nach Alor Uno kam, hat er sich schnell die Feindschaft einiger Leute zugezogen. Er kam nämlich von außerhalb. Sein Vater stammte zwar aus eben jenem Dorf, doch er arbeitete in einem Kohlebergwerk in Enugu. Thompson und seine sieben Geschwister sind daher in Enugu geboren und aufgewachsen. Erst nach dem Tod des Vaters musste Thompson als der älteste der Familie zurück ins Dorf. Es ging um Landstreitigkeiten. Alle seine Geschwister leben bis heute außerhalb von Alor Uno. Auch jener Bruder, den ich als Zeugen Jehovas kennen lernte, kommt nur gelegentlich ins Dorf. Thompson mischte sich 1989, als er nach Alor Uno zurückkehrte, rasch in die Lokalpolitik ein. Doch seine Gegner waren nicht erpicht darauf, von einem Außenseiter gute Ratschläge zu bekommen. Irgendjemand nannte ihn JJC: Journey Just Come. Ihm wurde bedeutet, dass er nicht zum Dorf gehöre, Thompson insistierte jedoch, dass es sein Dorf sei, dass er mit demselben Recht dort lebe wie die anderen.

Er hatte rasch Grund, sich bedroht zu fühlen. Seine Gegner schickten boys, die von seinem Grundstück Hühner und Ziegen verschwinden ließen. Eines Nachts habe man einen der Diebe erwischt. Man habe ihn ‘erbarmungslos’ verprügelt. Danach wurde der Dieb der Polizei übergeben und musste sechs Monate in Haft sitzen.

<105>

Während des Polizeitermins in Enugu stellte der chief eine neue Klage auf: Ngozi und ihre Leute hätten am Montag, den 26. Februar, sämtliche Marktstände abgerissen. Thompson warf sich für Ngozi in die Bresche, doch insgeheim hält er das Vorgehen Ngozis für falsch. Sie sei zu weit gegangen, denn die Leute, deren Stände betroffen waren, haben gemurrt, sie waren unzufrieden. Im Vertrauen erzählt er mir, dass es von Ngozi als eine Art Strafaktion gedacht war. Als sie von Kano zurückkehrte, erfuhr sie, dass der chief einige Bäume, die der Gemeinde gehörten, hatte fällen lassen, um mit dem Geld aus dem Holzverkauf seinen Privatkrieg gegen die Mission fortzusetzen. Wütend attackierte sie die Dorfbewohner (d.h. alle, die ihr zuhörten, also ihre Anhänger), dass sie diese Dreistigkeit des chiefs toleriert hätten. Und genau deshalb habe sie Order gegeben, die Stände abzureißen. Aber das sei ungerecht, denn die Betroffenen seien ja für die Boshaftigkeit des chiefs nicht verantwortlich. Ngozi sollte daher schnell zusehen, dass den Betroffenen anderswo Stände errichtet werden.

[Besuch bei Eugene] Als ich erfahre, dass es sich um einen Bruder von Ngozis Mutter handelt, noch dazu um einen älteren Bruder, bin ich überrascht. Denn im Licht der Petroleumlampe sieht er nicht so alt aus. Er ist stolz, dass er seit langer Zeit so eng mit Ngozi verbunden ist. Schon als Mädchen von zehn, zwölf Jahren ließ sie erkennen, dass sie ungewöhnlich war. Sie mochte nicht hören. Wenn Eugene ihr etwas sagte, wirkte sie wie abwesend. Natürlich habe man das noch nicht als Zeichen ihrer prophetischen Gaben gelesen.

Was ich über Ngozis Kindheit und spätere Ehe erfahre, steht im Gegensatz zu ihren eigenen Ausführungen. Ihr Alter lässt sich offenbar genau datieren: 1967 oder 68 geboren, also während des Kriegs. 1971 kam es zum Streit zwischen Ngozis Vater und dem Onkel (dem Hexer). Der Vater sah sich damals gezwungen, einen Eid zu schwören. Der Bruder machte sich heimlich auf zum Adoro-Schrein, mit einer Opferziege, um dem Vater Ngozis Schaden zuzufügen. Das Ergebnis war, dass Ngozis Vater ein Jahr später von einem Palmbaum fiel und sich das Kreuz brach. Die Familie hatte Geld, den Patienten ins Hospital nach Enugu zu schaffen und behandeln zu lassen. Die Hüften waren angebrochen, das Fleisch begann zu verfaulen, und der Mann starb nach einer Woche.

Die Frau ging zurück nach Unadu, wo die Familie gewohnt und gefarmt hatte, lebte weiter im Haus ihres Mannes. Das aber hätte sie nicht tun dürfen. Sie starb vier Jahre nach ihrem Mann, weil sie den Besitz des Getöteten weiter für sich nutzte. Der Tradition gemäß hätte nun ein Bruder des verstorbenen Vaters die Kinder aufnehmen müssen, in diesem Fall Chukas Vater. Doch der weigerte sich, und so musste man improvisieren. Ngozi und ihr älterer Bruder Amobi kamen zu einer Schwester der Mutter. Ngozi verließ bald diesen Haushalt und wurde bei Eugene untergebracht.

("Sie lebte in diesem Haus?") – Ja. Hier blieb sie aber nur zwei, drei Jahre, kam dann nach Enugu und arbeitete dort als Hausangestellte. Später erhielt sie eine Stelle in Kano, als Kellnerin in einem Restaurant. Dort lernte sie ihren Mann kennen, einen Fernfahrer aus Awkuzu. Er fuhr LKWs. Sie nahm sein Heiratsangebot an. Den Brautpreis erhielt jener Onkel in Alor Uno, der den Vater umgebracht hatte.

(Ich zeige mich überrascht: "Der Mörder des Vaters?") – Eugene nickt. Zur Erklärung fügt er hinzu, Ngozi wusste damals ja nicht, dass der Onkel den Vater umgebracht hatte. Das junge Paar lebte in Kano, wo Ngozi insgesamt rund fünf Jahre verbrachte. (Das lässt Ngozis Insinuation, dass der Hl. Geist sie Hausa reden lässt, in neuem Licht erscheinen.) Später zog man nach Awkuzu. Ngozi erwog, ihrem Mann einen Wagen für die Arbeit zu kaufen; doch sie entschied sich für ein großes Grundstück.

Thompson fällt ein: Er habe das Gelände selbst gesehen, als er im Auftrag von Sister nach Awkuzu reiste, um mit dem Ehemann zu verhandeln. Der Mann sei ein Weiberheld gewesen, undankbar, nichtsnutzig.

<106>

Vor einem Jahr, als der Konflikt mit Ngozis Onkel eskalierte, drohte dieser: Ngozi werde in zwei Wochen sterben. Zehn Tage später war er selber tot. Irgendwo im Freien, in der Nähe seiner Farm, fiel er tot um. Als man ihn entdeckte, hatten sichsoldier ants über die Leiche hergemacht. Es war ein Zeichen, dass er ein böser Mensch war.

("Wurde er dennoch beerdigt?") – Ja. Die Leute in Alor Uno hätten es nicht getan. Aber dort, in Uzo Uwani, wusste man nicht so genau, was er angestellt hatte. Er war ein reicher Farmer. Als er starb, fanden sich 120.000 Naira auf seinem Konto. Außerdem besaß er vier Fahrzeuge. Seinen Söhnen gab er keine gute Ausbildung. Sie mussten nach der Schule als Fahrer arbeiten. Nur einer ist gut ausgebildet, aber nicht auf Wunsch des Vaters. Er ging zum Militär, setzte die Schulausbildung fort und schloss sogar sein Studium an einer Igbo Universität ab.

Thompson bestätigt die Angabe, dass der Mörder von Ngozis Vater sich damals, 1971, heimlich an Adoro gewandt hat. Es war üblich, dass sich Klienten mit Mordwünschen an Adoro wandten. Was immer man sich erhoffte, man konnte Adoro darum bitten: dass ein Gegner stirbt, dass er verstümmelt wird etc. Seine Bitte musste man dem Priester mitteilen, und der gab sie weiter an Adoro. Thompson hat seinem Onkel oft Vorhaltungen gemacht, wie er sich für solche Anschläge habe hergeben können. Der Hauptpriester sei freilich nur ein Dolmetscher gewesen, ein Übermittler. Er habe dem Gott den Namen des Opfers mitgeteilt. Oder der Klient brachte ein Stück Kleidung des künftigen Opfers, wenn er es irgendwie erbeuten konnte. Oder er brachte Sand von den Fußtritten des Opfers. Die Menschen gingen oft barfuß, und mit etwas Umsicht ließen sich Fußabdrücke im Sand erkennen. Zur Not reichte es auch, den bloßen Namen mitzuteilen. Doch in diesem Fall musste man Adoro mehr zahlen. Es konnte eine ganze Kuh kosten, sonst vielleicht nur eine Ziege. Schon beim ersten Besuch des Schreins, wenn man sich mit seiner Bitte der Göttin nähern wollte, musste man ein Geschenk mitbringen. Das eigentliche Geschenk (die Bezahlung) wurde erst fällig, wenn Adoro den Feind getötet hatte.

48. Alor Uno, 9. März 96

<107>

Sowie ich geparkt habe, kommt ein Mann der Mission auf mich zugelaufen. Ich sitze noch im Auto, kurbele die Fensterscheibe herunter. "Fahr sofort weiter. Es ist gefährlich. Sister sagt, du sollst sofort zurückfahren." Ich sehe einige Männer Richtung Wagen rennen, starte so schnell wie möglich, wende auf der Straße. Doch es stellt sich heraus, die Leute, die da laufen, sind Mitglieder der Mission. Während ich langsam Richtung Nsukka fahre, schaue ich angestrengt auf den Marktplatz: Auf dem Gebetsplatz sind Männer der Mission postiert, mit Macheten. Ich bin immer noch unschlüssig, was ich tun soll. Doch dann biege ich einfach ab, Richtung Fabians Haus [in dem Ngozi wohnt] und parke vor dem Tor. Mehrere Bekannte sagen gleich, ich solle zurückkehren. Ngozi habe die Anweisung gegeben. Ich werde zu ihr geführt, sie sitzt in den Büschen, ein paar Meter vor dem Tor. Fast nackt, die Brüste unbedeckt, nur mit weißer Unterhose und einem weißen Tuch um die Hüfte geschlungen. Ich solle besser wieder gehen: "We do war now", sagt sie zu mir und strahlt mich an. Keine Spur von Bedauern, keine Panik. Sie winkt mir, ihr in ein Gebüsch zu folgen. Ich setze mich gleich neben sie in den Sand. Nur eine Weißgekleidete hat uns begleitet und setzt sich ein, zwei Meter hinter uns. Ngozi beschreibt kurz was passiert ist: In den beiden Nächten zuvor seien Anhänger des chiefs vor die Mission gezogen und hätten sie bedroht. In der letzten Nacht habe man nicht geschlafen, sondern Wache gehalten. Ngozi wirkt in der Tat überdreht, exaltiert. Sie sei mit einem Gewehr bedroht worden. Der Mann wollte von hinten auf sie schießen, aber das Gewehr habe blockiert. Gott habe ihr offenbart, wo das Gewehr versteckt sei. Gerade heute, um halb fünf, hatte sie eine Offenbarung. Sie zog unmittelbar darauf mit ihren Leuten zu der angegebenen Stelle und fand das Gewehr: "Gott ist wirklich wunderbar." Auf ihre Aufforderung hin, besser zu gehen, bemerke ich: "Ich habe keine Angst." Sie ist nicht überrascht, sondern meint nur: "Weil du Christ bist."

Als Grund für die Eskalation gibt sie an, dass sie das idol und den Markt zerstört habe. Im Übrigen bestätigt sie, was ich von Thompson erfahren habe: Als sie zurück nach Alor Uno kam, hätte sie erfahren, dass der chief Bäume gefällt habe, um mit dem Verkauf des Holzes Geld zu erwerben, um gegen die Mission zu kämpfen. Er habe damit die Polizei bestochen. 30.000 Naira gingen an den Divisional Police Officer und 35.000 an den Area Commander of Police. (Thompson nennt später andere Zahlen.) Die Bäume stammten vom Gelände des Adoro-Schreins. Früher hätte niemand gewagt, sie zu fällen. Erst jetzt, nachdem man das Idol zerstört habe, konnte der chief es wagen. Der Platz sei immer noch gefährlich. Niemand würde dort über Nacht bleiben.

Mit diesem Geld habe der chief dafür gesorgt, dass acht ihrer Leute festgenommen wurden. Das Bestechungsgeld diene außerdem dazu, ein Verfahren gegen die Mission zu führen.

Ich zögere ein wenig, die Ereignisse zu kommentieren und damit in das Geschehen einzugreifen. Doch dann gebe ich die Beobachterrolle auf und sage meine Meinung: Sie solle sich bemühen, im Kampf gegen den chief möglichst viel Unterstützung zu finden. Mit der Zerstörung des Marktes schaffe sie sich nur unnötig Feinde. Ngozi nickt: Sie werde den Markt wieder aufbauen. Der Markt sei viel zu klein (so als sei das Grund für ihre Zerstörungsaktion). Gleich morgen werde man beginnen, den Markt aufzubauen – Ich erinnere sie daran, dass sie mich besuchen wollte, um Videofilme anzuschauen. Sie nickt: Morgen werde sie kommen. Ob ich sie abends abholen könne? – Ich versichere, Sonntag abends zu kommen.

Während wir uns unterhalten, kommt ein Mann hinzu, mit zwei Gewehren in der Hand. Wegen der Dunkelheit kann ich ihn nicht erkennen. Es hatte im Gespräch schon durchgeklungen, dass mehr als ein Gewehr erbeutet wurde. Ngozi steht auf, entschuldigt sich bei mir: Sie müsse die Gewehre verstecken. Ich könne schon mal in den Hof gehen. Sie werde später nachkommen. Im Hof setze ich mich allein auf eine Bank. Alles ist duster. Der Generator läuft nicht. Der Mond ist noch nicht aufgegangen. Nur das Licht der Sterne und das Feuer einer Kochstelle erleuchten den ausgedehnten Hof. Später in der Nacht kommt Wetterleuchten hinzu. Der Mond scheint nur trübe hinter Wolken.

Thompson trifft ein. Er hat einen Briefentwurf dabei, den er in meinem Dabeisein mit Fabian besprechen möchte. Doch wir werden unterbrochen, weil einige Leute mir dringend empfehlen, den Wagen im Hof zu parken. Mir leuchtet nicht wirklich ein, dass der Wagen vor dem Tor nicht sicher ist, aber ich füge mich.

<108>

Offenbar mag Ngozi nicht mit dem Papierkram belästigt werden. Thompson kümmert sich um die Behörden, um sie an dieser Flanke abzuschirmen. Er bemüht sich allerdings, seine Briefaktionen mit den anderen abzustimmen, also eine Art Genehmigung einzuholen, und in diesem Kontext scheint Brother Joe eine einflussreiche Rolle zu spielen. Der Briefentwurf, noch nicht getippt, sondern mit Kuli geschrieben, ist mit SOS überschrieben: eine Bitte an die Polizei, rasch einzugreifen und die Mission vor Übergriffen der Gegner zu schützen. Am 7. und 8. März, abends zwischen 19 und 20 Uhr, seien Jugendliche vor die Mission gezogen, bewaffnet mit Macheten, Äxten, Brecheisen, dazu Behälter mit Petroleum und Kerosin, und hätten Kriegslieder gesungen. Die Anhänger der Kirche mussten sich zurückziehen. – Thompson: "Wir saßen in Emekas Haus. Die 'gang' von Jugendlichen forderte uns auf, einzeln herauszukommen for 'butchering'". Im Anhang des Briefentwurfs sind 28 der Angreifer mit Vor- und Familienname aufgelistet, vier oder fünf von ihnen als Anführer. Albert nennt noch einen weiteren der Angreifer. Er wird als Nummer 29 auf die Liste gesetzt. Unterzeichnen sollen den Brief Thompson und Brother Joe.

Auf dem Hof entsteht Unruhe. Thompson und ich gehen vors Tor. Er erklärt mir, dass die gegnerische gang im Anmarsch sei. Ich solle zurückbleiben, während er Richtung Marktplatz gehe. Doch ich folge ihm. Vor dem Tor und auf dem Weg stehen Mitglieder der Mission, mit Messern, Macheten, Eisenstangen. Selbst jüngere Frauen, halbwüchsige Mädchen von 12, 13 Jahren haben Knüppel oder Keulen in der Hand. Auf dem Platz selbst ist alles leer. Keine Wachposten. Die Gegner müssen weit entfernt sein. Man hört nur ganz verhallt ein leises Grölen.

Thompson und ich kehren in den Hof zurück. Er hält einen Angriff in dieser Nacht für gut möglich. Die Jugendlichen hätten sich in einer Bar versammelt und würden sich Mut ansaufen. Nicht mit Bier oder Palmwein, sondern mit native gin, d.h. hard liquor. Der chief und seine Leute würden sie freihalten. Ich bin überrascht zu hören, dass sich die Angreifer in jener Buschbar versammelt haben, wo ich mehrmals mit Thompson eingekehrt war, jene Bar, die seit neuestem ein Schwarz/Weiß-Tv besitzt.

("Ich dachte, der Besitzer wäre ein Freund von dir?") – Nicht ein Freund. Aber wir dachten, er wäre neutral. Erst jetzt, in diesen Tagen, hat sich herausgestellt, dass er die Gegner unterstützt. Es war freilich immer schon auffällig, dass er keiner Kirche angehört und sich auch bei der Mission nicht hat blicken lassen. Jetzt jedenfalls hat er offen die Partei des chiefs ergriffen.

Thompson versorgt mich noch mit weiteren Details über die Affäre mit den Bäumen: Der chief hat drei Bäume an einen Holzhändler verkauft, den größten von ihnen für 20.000 Naira, die beiden anderen für je 16.000 Naira. Das Geld hat er bereits erhalten, aber nachdem der Händler den ersten Baum gefällt hatte, intervenierten die Leute der Mission.

Vom Marktplatz her ertönt Lärm. Lautes Rufen, Kommandos, Gesänge, später das Krachen von Äxten und Eisenstangen. Thompson und ich stürzen zum Tor hinaus. Es wäre zu riskant, sich bis zum Marktplatz vorzuwagen. Deshalb bekomme ich die Angreifer nicht zu Gesicht. Einige Männer der Mission kommen vom Marktplatz zurück. Mir ist unklar, ob sie sich zum Kampf sammeln. Einige ziehen wieder vor, schleudern Steinbrocken Richtung Gebetsplatz. Doch es sind zu wenige, um ernsthaft Widerstand zu leisten, ein trauriges Häufchen von einem Dutzend junger Männer. Einige der jungen Frauen harren tapfer aus.

Eine halbe Stunde lang hören wir mit an, wie der Rohbau des geplanten Heilerzentrums zu Schutt geschlagen wird. Zwischendurch auch Schläge auf Wellblech, und da der Rohbau erst in Grundmauern steht (oder stand) und noch kein Dach vorhanden war, nehme ich an, dass nun auch einige Privathäuser zerschlagen werden. Der Lärm scheint auch näher zu kommen, wir rechnen mit einem direkten Angriff, vielleicht auch mit Steinen, die einem Angriff vorangehen.

Ich fühle mich etwas gehandicapt: Statt ordentlicher Schuhe habe ich meine Birkenstock-Sandalen an, mit denen ich nicht rennen kann. Ich ziehe sie aus und halte sie in der Hand, um zur Not barfuß davonzurennen. Einer der Burschen um uns beklagt sich, dass er dummerweise keine dunklen Kleider angezogen hat, und mir wird bewusst, dass ich durch mein weißes Hemd, das hell in der Dunkelheit schimmert, ein auffälliges Ziel abgebe. Das Hemd auszuziehen und mit nacktem Oberkörper dazustehen, würde meine Lage freilich nicht verbessern.

<109>

Thompson und andere drängen mich, zurück in den Hof zu gehen. Dort sei ich sicher. Aber ich bleibe weiter unter den Leuten der Mission. Da in jedem Moment die Angreifer hervorbrechen können, geht es um Fluchtwege. Statt mich im Haus zu verstecken, erkläre ich, notfalls lieber in den Busch zu rennen. "Aber das Haus ist sicher." – Ich wüsste jedoch nicht warum. Es kommt mir eher wie eine Falle vor, falls die Leute des chiefs tatsächlich versuchen sollten einzudringen.

"Und dein Auto?" – Das ist in der Tat der wunde Punkt. Der Wagen würde unweigerlich demoliert oder in Brand gesetzt. Ich überlege, ob die Allianz-Versicherung den Schaden tragen würde. Falls nicht, wären 20.000 DM zum Teufel. Deshalb erwäge ich ganz ernsthaft den Vorschlag von Thompson, dass ich mit ihm und anderen losfahre, um die Polizei zu benachrichtigen. Der einzige Weg zur Hauptstraße führt allerdings über den Marktplatz, und von dort ertönt weiterhin Schlachtenlärm. Wir müssten also versuchen, die "feindlichen Linien" mit Gewalt zu durchbrechen. Ich wäge für mich die Risiken ab: Wahrscheinlich würde der Wagen mit Steinbrocken beworfen, und die Burschen würden mit Äxten und Brecheisen auf die Karosserie einschlagen, also nur Blechschaden. Doch was mich entscheidend abschreckt: Sie würden versuchen, mir den Weg zu versperren und auf dem Sandplatz lässt sich nur schwer manövrieren. Ich müsste möglichst schnell und wild drauflos fahren und mich darauf konzentrieren, im Licht der Scheinwerfer jene schmale Schwelle zu finden, die über den Betongraben führt. Falls es schief läuft, würde ich also im Sand fest hängen oder im Graben, oder von den Kerlen eingeschlossen sein. Ich müsste also bereit sein, sie über den Haufen zu fahren, ein ziemlicher Irrsinn angesichts der absurden Auseinandersetzung um irgendwelche Jujus. Also lieber in Kauf nehmen, dass mein Wagen abgefackelt wird und ich mich in die Büsche schlagen muss.

Die Umstehenden wirken überraschend ruhig, unaufgeregt. Die kleinen Mädels mit den Stöcken haben sich natürlich davon gemacht. Aber einige Frauen sind geblieben. Von Ngozi keine Spur. Zum Glück werden auch die Gewehre nicht eingesetzt. Chijioke und andere sind nicht zu sehen. Vermutlich sind sie näher am Geschehen, beobachten das Zerstörungswerk. Nachdem der Lärm verhallt ist und die Angreifer weit genug entfernt scheinen, wird beschlossen, die Polizei zu informieren. Thompson, Amobi und zwei andere nehmen in meinem Wagen Platz. Wir überqueren vorsichtig den Gebetsplatz. Es liegen Steine herum, Planken mit Nägeln; auf der Straße dann zwei Autoreifen und Bambusstangen. Thompson instruiert mich, auf keinen Fall anzuhalten, falls wir Bewaffnete vor uns sehen, und erklärt mir den Weg zur Polizeistation [in Nsukka]. Es ist kurz vor 21 Uhr. Der Polizeiposten vor dem Gebäude reagiert nervös, als fünf Männer auf ihn zukommen. Mir selbst ist nicht sehr wohl, dass nun die Aufmerksamkeit der Behörden auf mich gezogen wird. In Anwesenheit von Thompson und den anderen kann ich schlecht behaupten, dass ich nicht viel mit der Mission zu tun habe. Auf der anderen Seite bin ich neugierig zu beobachten, wie die Beamten sich verhalten. Sie lassen sich nicht anmerken, dass sie durch meine Gegenwart irritiert sind. Ich dränge mich wie die anderen vor die Theke des wachhabenden Offiziers, damit mir nichts von der Unterhaltung entgeht.

<110>

Im Wesentlichen ist es Thompson, der über den Vorfall Bericht erstattet. Er erzählt, als hätte er die Angreifer mit eigenen Augen gesehen: mit Messern und Gewehren. Aber Thompson hat genau soviel gesehen wie ich, nämlich keinen einzigen der Angreifer, bis zu dem Moment, als wir im Auto unterwegs waren. Einer der Polizisten fragt misstrauisch nach, ob die Gegenpartei tatsächlich mit Waffen kam. Thompson, der sich vom Schwung der eigenen Erzählung hat mitreißen lassen, wird weich. Die anderen Zeugen mögen die Gewehre nicht bestätigen, und ich werde nicht gefragt. Der Polizist fragt trocken: "Warum geben Sie irreführende Informationen?" Thompson bringt das Gespräch nun auf die Gewehre, die man von der Gegenpartei erbeutet habe. Der Wachhabende fragt nach, wo die Gewehre seien, und Thompson muss einräumen, dass man sie nicht dabei habe. "Warum?" – Thompson macht keine gute Figur; er murmelt irgendetwas: dass man die Gewehre zunächst verstecken musste oder Ähnliches.

Bei der Beschreibung der Vorgeschichte muss Thompson erklären, warum man sich nach den Provokationen vom Donnerstag und Freitag Abend nicht direkt an die Polizei gewandt habe. Er erwähnt nicht, dass er bereits einen Brief an die Polizei aufgesetzt hatte, sondern spielt die Sache herunter. Es sei ja nichts passiert, niemand wurde verletzt, als die Jugendlichen vor die Mission zogen. Deshalb habe man als Christen die Sache mit Langmut betrachtet und nichts unternommen.

Was Thompson erläutert und die anderen in Englisch oder Igbo ergänzen, wird nicht mitprotokolliert. Der Wachhabende notiert nur einige Worte auf eine Art Schmierzettel, auf dem schon andere Notizen vermerkt sind. Dann lässt er sich ausführlich die Namen der Angreifer geben. Thompson übergibt die Liste mit 29 Namen und unterstellt, dass es die Schuldigen des heutigen Tages sind.

Der Wachhabende gibt Order für einen Polizeieinsatz. Doch die Vorbereitungen ziehen sich in die Länge. Er zieht zwei Maschinenpistolen aus der Schublade unter der Theke, dazu eine alte, verrostete Blechdose mit Patronen. Die eine MP geht an einen Uniformierten (Anti-Crime Patrol), die andere an einen gefährlich dreinschauenden Zivilpolizisten. Er wirkt agil, hinterhältig, sportlich lässig mit blauem Polo-Hemd bekleidet, den Kopf fast kahl rasiert. Er prüft die MP und lässt sich zehn Patronen überreichen. Jemand fragt, ob der Bestand an Patronen in der Blechdose überprüft wurde. Und der Zuständige meint: "Ja, die Zahl ist korrekt." Vielleicht ein wenig Show, weil der Weiße dabei ist.

Dann die Frage, ob auch das Tränengas eingepackt ist. Dem dritten Beamten, wieder in Schwarz: Anti-Crime Patrol, wird eine Tränengaspistole überreicht. Thompson weist darauf hin, dass die marauders immer noch aktiv sein könnten, und ich bestätige – ungefragt –, dass es gefährlich sein könnte. Die Polizisten hatten mich die ganze Zeit über nicht zu den Vorfällen gefragt. Nur beim Betreten der Station wollte man wissen, woher ich komme. Als alles bereit scheint aufzubrechen, winkt mich Thompson aus dem Gebäude. Schon auf dem Weg zur Polizei hatte er mich nach Geld gefragt. Er selber habe nur 120 Naira in der Tasche, und der Besuch bei der Polizei koste eine Kleinigkeit. Ich bin beruhigt zu hören, dass 200 Naira reichen. Genau diese Summe drücke ich Thompson vor dem Eingang in die Hand, dann lasse ich ihn allein, so dass ich nicht sehen kann, wem er das Geld zusteckt.

Auf der Fahrt nach Alor Uno sind die Beamten nicht gesprächig. Der Polizist neben mir sagt kein Wort. Auf der ersten Rückbank sitzt Thompson, eingekeilt zwischen den beiden anderen Beamten. Sie haben sich links und rechts gleich neben die Türen gesetzt, um im Notfall gleich eingreifen zu können. Nur der Polizist in Zivil plappert ein wenig mit Thompson. Beide kennen sich schon länger, sie geben sich eng vertraut, witzeln, aber Spannung und Aggression blitzen zuweilen auf.

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Thompson schlägt mir vor, ich solle, falls wir die Bande der Jugendlichen zu sehen bekommen, gleich die Scheinwerfer ausmachen und langsam auf sie zufahren. Ich wende mich stattdessen an die Polizisten und versichere, dass ich ganz ihren Anweisungen folgen werde. Doch die Straße ist ruhig. Nur vereinzelte Fußgänger. Ich fahre auf den Gebetsplatz. Im Scheinwerferlicht erscheinen die Trümmer des Heilerzentrums, bis auf die Grundsteine in Stücke geschlagen. Alles steigt aus, um die Szenerie zu besichtigen. Ich lasse die Scheinwerfer brennen, damit die Trümmer angestrahlt bleiben. Abgesehen von dem zerstörten Rohbau gibt’s nichts Spektakuläres zu sehen, und die Beamten gehen zu Fabians Haus hinüber, wo einige Leute der Mission versammelt sind.

Ich folge langsam mit dem Wagen. Von dem Gespräch zwischen Polizei und Missionsleuten bekomme ich kaum etwas mit, weil man sich auf Igbo verständigt. Immerhin ist klar, dass sich die Lage beruhigt hat. Alles ist still, so dass die Polizisten beschließen zurückzukehren. Wir steigen also in den Wagen, und ich setze die Polizisten auf der Wache ab. Dann geht’s zurück nach Alor Uno. An der hinteren Ecke des Gebetsplatzes, sitzt Ngozi mit einigen ihrer Getreuen. Einige geben mir die Hand und bedanken sich für die Hilfe. Ich setze mich ebenfalls, sage aber nichts, weil Ngozi und ihre Leute jetzt wohl Wichtigeres zu besprechen haben. Doch schon nach wenigen Minuten ist Lärm zu hören, nicht weit entfernt von Joes Dorf: Schreie, Schläge wie von Äxten oder Eisenstangen. Es hallt gespenstisch durch die Dunkelheit, bedrohlich nahe. Männer und einige Frauen laufen davon. Ich versuche zu folgen, nur ist es so dunkel, dass ich mich kaum orientieren kann.

Thompson vermutet, dass es gelungen ist, einige der Angreifer festzunehmen, als sie in ihre Häuser zurückkehren wollten. Denn überall habe man in der Zwischenzeit Wachen aufgestellt. Doch es kommen Nachrichten, dass es sich genau umgekehrt verhält. Die Leute des chiefs greifen wieder an. Es wird wieder beraten, was zu tun sei. Der Beschluss steht rasch fest: noch einmal zur Polizei. Der Lärm klingt wirklich bedrohlich, so als seien die umliegenden Gehöfte in Aufruhr. Thompson, Amobi und zwei weitere besteigen den Wagen. Ngozi tritt dazu, immer noch barbusig, öffnet die Tür. Ich frage mich, ob sie in diesem Aufzug bei der Polizei vorfahren will. Doch sie kommt nicht mit.

Als wir bei der Station ankommen, ruft der Wachtposten schon von weitem, was denn los sei: "Schon wieder ihr!" Erst jetzt wird mir klar, dass ich einen Gefangenen im Auto transportiert habe, angeblich einen der Übeltäter, der mit einem Messer geschnappt wurde. Das Messer wird von der Polizei eingehend begutachtet. Im Neonlicht der Wache schaue ich mir den Mann an. Ich kann mich nicht erinnern, ihn in meinen Wagen steigen gesehen zu haben. Meine eigene Position hat sich nun bedrohlich verändert. Dass ich einen Kämpfer der Gegenseite als Gefangenen in meinen Wagen stecke und ihn der Polizei ausliefere, wird mir viel Feindschaft einbringen.

49. Alor Uno, 10. März 96

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Die Polizei ist nicht, wie versprochen, gekommen, um die Leute des chiefs in Haft zu nehmen. Man rechnet sogar mit einem neuen Angriff. In der Ferne habe man ein Läuten gehört, das Zeichen, dass sich die anderen wieder versammeln. Dann deutet mein Begleiter auf einen Mann im schwarzen Hemd. Er überquert, aus dem Haus des verstorbenen Hexenonkels kommend, den Marktplatz. Er ist einer der Söhne.

("Der Ex-Soldat?") – "Nein, ein Bruder. Er ist auf dem Weg, sich mit den anderen zu beraten."

Zurück am Hoftor sehe ich Ngozi predigen. 10 bis 20 Personen stehen draußen vor dem Tor und hören, wie mir scheint, betreten zu. Ngozi, in finsterer Laune, bestellt mich zu sich. Wir bleiben bei meinem Wagen stehen. Sie spricht von dem heraufziehenden Unheil. – Ich frage, warum die Polizei nicht gekommen ist. – Der Divisional Police Officer habe erklärt, er würde nicht mehr kommen. Es müsse erst – so Ngozi bitter – jemand sterben, bevor die Polizei wieder erscheine. Ihre Stimme steigert sich allmählich, so dass auch die Weiter-weg-Stehenden sie verstehen können. Es wird eine Art Predigt, und ich höre schweigend zu. Mir gefällt nicht, was sie sagt. Aber hätte es Sinn, ihr zu widersprechen? Sie redet sich in Rage, fuchtelt zuweilen mit dem Stock in der Hand, läuft hin und her, kritzelt Linien mit dem Stock in den Sand. Die Gegenseite habe ausrichten lassen, Ngozis Bruder solle zu Verhandlungen kommen. Aber wozu verhandeln, nachdem sie das Gebäude zerstört haben? Sie werde nicht zulassen, dass der Markt wieder aufgebaut werde, weil sie sagten, dass sie das Gebäude wegen des Marktes zerstört haben. Wenn sie weiter angreifen, werde sie (Ngozi) das Haus von ihnen nehmen (sie meint das Haus des Hexenonkels). Die anderen würden dann kommen, um dieses Haus zu zerstören (sie deutet auf Fabians Haus). Aber sie (Ngozi) würde zurückschlagen und deren Häuser niedermachen. Und so würde sich das Böse in Alor Uno ausbreiten: "The evil will spread."

Sie wolle keinen Frieden, jetzt, nachdem das Gebäude zerstört wurde. (Dann wieder zu mir gewandt, leiser): "Wenn Gott will, dass ich heute sterbe, werde ich sterben. Aber ich werde nie wieder Angst vor diesen Leuten haben. Der Sohn von diesem Mann (dem bösen Onkel) hat mich selbst gerufen: Ich solle ihn schützen, sein Vater wolle ihn töten. Und als der Vater tot war, hatte er Angst, dass der Geist des Vaters ihn töten wird. Ich lag drei Tage unter seinem Auto (?), um zu beten, damit ihm nichts passiert. Erst nachdem ich ihm geholfen habe, kamen all die Anfragen von anderen Dorfbewohnern, ich solle ihnen ebenfalls helfen. Und nun kämpfen die Söhne gegen mich. Sie behaupten, ich habe ihren Vater getötet, weil ihr Vater meinen Vater getötet habe. Jetzt plötzlich sagen alle Söhne, dass ihr Vater seinen Bruder getötet hat. Ich werde nie im Leben vergessen, was diese Leute getan haben. 'Let spirit fight against spirit (sie meint die Geister der verstorbenen Väter), and let the bodies fight in battle.’"

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Dann predigt sie in Igbo, und ich verstehe nur 'Moses' und 'Jericho'. Doch die Leute sind nicht in Kampfesstimmung. Einer der Anhänger ruft sogar auf Englisch: "Cool down, Ngozi." Es deuten sich auch Unstimmigkeiten unter den Anhängern an. Der Hüne mit dem verkümmerten Bein schreit laut auf einen anderen ein. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass die Mission besser geschützt ist als tags zuvor. Es sind nicht viele Männer zu sehen, nur der harte Kern, keine Verstärkung aus anderen Ortschaften. Um ihrer Rache willen ist Ngozi bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Kein Einlenken, nur Durchhalteparolen. Soweit ich sehe, keine sorgfältige Planung, keine Verteidigungsstrategie, sondern schierer Voluntarismus, so als könne Gott allein alles richten. Mag sein, dass ihr Stern im Sinken begriffen ist und die Leute sich von ihr abwenden, was sie freilich nur umso trotziger macht. Sie strahlt keine Zuversicht aus, nur unbeherrschte Wut.

Ich mache mich auf den Weg, werde jedoch schnell zurückgerufen. Sie habe eine Bitte: Ob ich die Musikinstrumente aus Fabians Haus bei mir unterstellen könne, damit sie nicht bei einem möglichen Kampf zerstört werden. Ich sage zu, obwohl mir der Gedanke nicht recht ist, in die Auseinandersetzung hineingezogen zu werden. Falls sich herumspricht, dass die Instrumente bei mir lagern, muss ich mit Einbrüchen rechnen. Ich frage mich zudem, welchen Eindruck diese Rettungsaktion auf ihre Anhänger macht: Gibt sie das Haus schon verloren? Aber all das äußere ich nicht. Ich schlage nur vor, noch 15 Minuten zu warten, bis es ganz dunkel ist. Sie stimmt zu. Der Wagen wird randvoll gepackt, nicht nur mit Gitarren, Schlagzeug, Lautsprechern, sondern auch mit einem Fernseher, Videorecorder, zwei Uhren – also genügend Ausrüstung, um meine eigene Kirche zu gründen. Beim Einladen sind ein halbes Dutzend Leute beschäftigt. Hoffentlich sind sie alle vertrauenswürdig. Vorsichtshalber habe ich zuvor die Innenbeleuchtung des Wagens ausgeschaltet, so dass wirklich alles im Verborgenen geschieht. Man drängt mich, rasch zu verschwinden. Ich fahre ohne große Worte davon. Zuhause angekommen, lösche ich wiederum alle Lichter und packe die Geräte im Finsteren aus.

50. Beverly Hills, 12. bis 15. März 96

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Schon in der Nacht vom 11. auf den 12. März geschah Seltsames. Ich wurde wach, draußen war alles finster, aber ich hörte Stimmen nahe am Haus. Morgens, nach dem Aufstehen auf dem Weg ins Badezimmer, ruft mich eine Frauenstimme. Es ist Ngozi in Begleitung von Ijeoma und Emmanuel (Fabians Bruder). Seit morgens um halb 5 warten sie vor dem Haus. Seltsam, wie Ngozi den Weg zu mir gefunden hat, noch dazu mitten in der Nacht, auf der Flucht vor den Angreifern des chiefs. Nach ihrer Darstellung griffen rund 250 Leute die Mission an. Es war aussichtslos, den Kampf aufzunehmen. Ngozi behauptet, sie habe ihren Anhängern Order gegeben, nicht zurückzuschlagen, sondern zu verschwinden. Nun sind alle auf der Flucht.

("Albert?")

"Ja."

("Seine Frau?")

"Auch."

("Die Kinder?")

"Alle sind weg. Das Haus ist leer."

Selbst Chukas Vater ist auf der Flucht, mitsamt der Familie. Zum Glück sind die Musikinstrumente in Sicherheit (nämlich bei mir im Haus), sonst hätten die anderen alles zerstört.

Thompson, so wurde ihr gesagt, wurde von der Polizei festgenommen und zusammengeschlagen. Jetzt sitzt er in Haft und Ngozi muss Arrangements treffen, ihn auszulösen. Zu diesem Zweck hat sie einen Boten nach Onitsha geschickt, um Brother Joe zu benachrichtigen. Er soll sich bemühen, Thompson freizubekommen. Von anderen big men, die helfen könnten, sagt sie nichts. (Brother Joe steht im Zentrum ihrer Erwartungen, und dessen Ressourcen erscheinen mir arg begrenzt. Nur sein Mercedes macht etwas Eindruck.) Ngozi betont immer wieder die Komplizenschaft der Polizei. Der Divisional Police Officer kämpfe gegen sie. Er habe auch Zivilpolizisten nach Alor Uno geschickt, um Ngozi festzunehmen oder zu töten.

("Warum ist er auf Seiten des chiefs?")

Weil er Geld bekommen hat, jenes Geld, das aus dem Verkauf der Bäume stammt.

("Und die 250 Angreifer? Sind sie aus anderen Orten angeheuert?")

Sie stammen alle aus Alor Uno.

("Wo sind all die Anhänger der Mission, die im letzten April zu Hunderten zum Thanksgiving Festival strömten?")

Sie haben Angst, halten sich versteckt.

Um Genaueres zu erfahren, schickt Ngozi Emmanuel nach Nsukka. Es wäre zu gefährlich für ihn, Alor Uno zu besuchen. Deshalb zieht er seine Erkundigungen in der Stadt ein. Es zeichnet sich langsam ab, dass Ngozi und ihre zwei Begleiter fast völlig abgebrannt sind. Victoria winkt mich am Donnerstag in die Küche, um mir zu eröffnen: Meine Gäste haben nicht einmal 50 Kobo. Wahrscheinlich kann Emmanuel nicht einmal mehr mit dem Bus zum Marktplatz fahren. Eine meiner Sorgen war, dass Ngozi mich unter Druck setzen würde, ihr Geld zu geben oder sie durch die Gegend zu fahren. Aber nichts dergleichen geschieht. Sie und die beiden anderen wirken ganz erleichtert, dass sie überhaupt bei mir Unterkunft finden. Kein Wort davon, Geld für Thompsons ‘Kaution’ aufzubringen. Nur eine Bitte, etwas verschämt ausgesprochen: Ich soll für Ngozi Unterwäsche kaufen.

Ich frage Victoria, was das kosten könnte. – Je nach Qualität rund 250 Naira. Ich gebe ihr das Geld und bitte sie, die gewünschten Dinge auf dem Markt zu besorgen.

<115>

An der Uni von 14 bis 19 Uhr non-stop Unterricht. Als ich, wie angekündigt, kurz vor 22 Uhr zurückkehre, wirkt Ngozi erleichtert. Später verrät sie mir: Emmanuel und Ijeoma hatten Angst, ich würde nicht zurückkehren. Erstaunt frage ich, wo ich denn hätte bleiben sollen? Und was hätte passieren können, wenn ich nicht gekommen wäre? – Ijeoma und Emmanuel bleiben auch in den folgenden Tagen zurückhaltend, fast eingeschüchtert, bitten mich um nichts, fragen nicht nach Tee oder Essen. Wenn ich ihnen etwas bringe, nehmen sie’s stets unterwürfig in Empfang: "Thank you, Sir." Sie bleiben stets auf dem Betonboden kauern, setzen sich nie aufs Sofa oder an den Tisch. Selbst nachts liegen sie auf dem Boden, ohne Decke, ohne Matratze, dicht an der Wand oder in einer Ecke.

Ngozi dagegen isst stets mit mir am Tisch, und sie stopft alles in sich hinein, was ich auch esse. Nur die Oliven und den Käse rührt sie nicht an. Für sie ist es eine Art Training, sich an das fremde Essen zu gewöhnen, damit sie – wie sie mir erläutert – später problemlos in fremde Länder reisen kann. Sie isst die Bratkartoffeln, die Rote Beete, das Mango Chutney ohne Begeisterung: Ob all die Igbo in Deutschland dasselbe Essen zu sich nehmen? Vielleicht will sie mir auch beweisen, dass sie, ohne Umstände zu bereiten, mit der fremden Kultur klarkommt, denn sie würde gerne mit mir nach Deutschland reisen. Ich soll ihr die Sprache beibringen.

Am Donnerstag will sie wissen, ob ich noch an die Mission denke, wenn ich Nigeria verlassen habe. Mir scheint, Victoria hat durchblicken lassen, dass ich in ein paar Monaten wegziehe. Ich versichere, Nsukka auf jeden Fall wieder zu besuchen.

Der gemeinsame Aufenthalt im Haus wäre eine günstige Gelegenheit, mehr über die Mission zu erfahren. Aber ich halte mich mit Fragen zurück, denn der Unterricht an der Uni ist so exzessiv anstrengend, dass ich kaum noch aufnahmefähig bin. Außerdem mag ich nicht neugierig erscheinen. Ich zeige mich so wenig an den Vorfällen in Alor Uno interessiert, dass sich Ngozi von sich aus bemüht, das Gespräch auf die Mission zu bringen.

Im Übrigen respektiert sie, dass ich in ihrer Gegenwart stundenlang arbeite, ohne mich weiter um sie zu bekümmern. Mir scheint, sie sorgt auch dafür, dass die beiden anderen Gäste nicht stören. Als Ijeoma im Badezimmer anfängt, ihr Gewand zu waschen, d.h. den Stoff auf den Betonboden zu klatschen, interveniert Ngozi sofort und verweist es ihr mit barschen Worten. Die meiste Zeit über liegen meine Gäste auf dem Boden und schlafen, oder sie dämmern vor sich hin, apathisch, fast depressiv, wie gelähmt.

Ngozi hatte sich anfangs in kämpferischer Rhetorik geübt: dass sie weiter streiten werde. Ich mochte das nicht gleich kommentieren, doch schien mir, dass sie durch ein paar Tage Ruhe in Beverly Hills etwas moderater gestimmt sein würde. Mit einer anderen Realität konfrontiert zu sein, könnte die Konflikte in Alor Uno relativieren. Solange Ngozi sich in Alor Uno verschanzte, Tag und Nacht Wache hielt, setzte sie sich und ihre Gefolgsleute unter massiven psychischen Druck. Belagerungszustand. Diese wahnhafte Atmosphäre empfand ich als sehr bedrückend. Auf unerklärliche Weise fand ich mich davon angesteckt: eine verzerrte Realität, wie im Fieberdelirium. Klares Denken schien kaum möglich, nur durch Flucht konnte man sich der Ansteckung entziehen. Fast ein Wunder, dass es keine Toten gab.

<116>

Mir scheint, Ngozi weiß nicht im Mindesten, was sie tun soll. Sie kündigt an weiterzukämpfen: "Diese Leute werden sehen, dass sie nicht gegen mich kämpfen, sondern gegen Gott." Zum Schluss müssen die anderen unterliegen. Aber solche Durchhalteparolen klingen wie Selbsthypnose. Sie sind nicht Ausdruck von Kraft und Selbstvertrauen, sie redet sich nur ein, dass Gott auf ihrer Seite steht, und dabei sieht sie mich an, als solle ich diese Aussage bestätigen, als solle ich ihr versichern, dass Gott sie beschützt. Sie hatte sich gleich am Dienstag Morgen von mir eine Bibel geben lassen. Mag sein, dass sie aus den Geschichten der Propheten Kraft und Selbstgewissheit schöpft. Dort wird ein religiöser Wahn gefeiert, eine psychotische Verkennung der Realität: Was immer geschieht, jede Verfolgung, jede Demütigung, zeigt noch, dass man mit Gottes Hilfe letztlich siegen wird. Man darf also nicht den Kampf aufgeben, an seiner Mission zweifeln, Zugeständnisse machen. Der schiere Durchhaltewille, das unbeirrte Weitermarschieren wird letztlich zum Ziel führen. Aber ich nicke nicht zustimmend, wenn sie mir beteuert, dass sie siegen wird.

Worauf gründet sich die Kraft des Glaubens? Ein Gefühl der Stärke, der Allverbundenheit? Von mystischer Hingabe an den Willen Gottes ist nichts zu spüren. Nur das trotzige Beharren auf ihren kleinen Krieg. Vielleicht würde sie ihre ‘Sendung’ schnell aufgeben und mit mir davonziehen, um diesem Strudel von Irrsinn und Gewalt, Misstrauen und Angst zu entgehen. Ich sollte sie fragen, wem sie wirklich vertrauen kann: ihren Brüdern? Als Grund für ihre Verbitterung und Rachsucht nennt sie immer wieder, dass sie sich verraten fühlt. Die Kampagne gegen sie werde von ihren Cousins geleitet. Den chief erwähnt sie nicht als Anführer.

Der verstorbene Onkel hat viele Söhne hinterlassen, von verschiedenen Müttern, denn er hatte fünf Frauen. Allein die jüngste von ihnen hat drei Söhne. Die Mutter von Eze [dem Ex-Soldaten] ist seit den 60er Jahren mental. Sie war zum Haus einer Freundin gegangen, hatte dort im Garten einige Früchte gestohlen und gegessen. Sie wusste nicht, dass ihre Freundin eine Hexe war und die Früchte durch einen Zauber geschützt hatte, damit sie nicht gestohlen werden. Seitdem ist Ezes Mutter geistesgestört. Noch heute irrt sie durch Alor Uno, bettelt an verschiedenen Märkten. Eze bat Ngozi, die Mutter zu heilen. Ngozi begann auch mit der Behandlung, und der Zustand der Mutter verbesserte sich.

("Womit behandelte sie?")

"Mit Beten, heiligem Wasser, einem Rosenkranz."

("Gibt es noch andere Mittel, um Verrückte zu heilen?")

"Nein. Aber diese Mittel haben Erfolg. Von den Geisteskranken, die in der Mission behandelt wurden, ist keiner mehr in Ketten."

Ngozi erklärt, dass sie in der Lage ist, Hexen zu erkennen.

("Wie?")

Nicht durch Riten oder andere Hilfsmittel, sondern durch Visionen. Gott teilt es ihr mit.

("Kann sie es sehen oder hören?")

Beides. Sie sieht Zeichen, zum Beispiel einen Baum, der ihr im Weg steht, und sie hört Gottes Stimme.

("Im Traum?")

Nein, auch wenn sie wacht. Sie gibt ein Beispiel: In einem Ort hinter Unadu wurde sie gefragt, wer für die Morde im Dorf verantwortlich ist. Von den acht Männern vor ihr war es einer. Ngozi nannte ihn als den Schuldigen. Er bestritt natürlich seine Taten, aber später kam er allein zu Ngozi, brachte Geschenke und legte ein Geständnis ab, um gerettet zu werden.

("War er ein Hexer?")

Nein, ein killer. Er hat Zaubermittel gekauft und mehrere Menschen getötet.

<117>

(Ihr Cousin Chuka hat mir erzählt, dass er auch die Gabe hat, Hexen zu erkennen.) – Ngozi weiß davon und bestätigt es. Kurz davor erwähnte sie, dass Chuka mental war. Aber durch die Behandlung der Mission sei er geheilt.

Unter den Anhängern der Mission gibt es eine Reihe ehemaliger Hexen, die Ngozi gegenüber Geständnisse abgelegt haben.

("Kenne ich einige von ihnen?")

Ja, Alberts Mutter war eine Hexe. Sie gehört nun zur Mission.

("Wie wird man eine Hexe?")

Ngozi weiß es nicht. Wenn der Vater oder die Mutter Hexen sind, geben sie dem Kind etwas, damit es auch eine Hexe wird. Vielleicht um das Kind zu schützen. Das Kind weiß zunächst nichts davon. Erst später wird es eine Hexe.

Unsere Plauderei über Hexen und die Bosheit ihrer Cousins findet erst am Donnerstag Abend statt, in entspannter Atmosphäre. Wir liegen in meinem Bett, haben gerade einen Videofilm angeschaut. Ngozi zeigt sich nicht genant. Schon am Dienstag Vormittag, bevor ich zur Uni fuhr, zeigte ich ihr mein Schlafzimmer und sagte ihr, dass sie sich dort ausruhen könne. Für die Nacht war verabredet, Videos anzuschauen. Als ich kurz vor 22 Uhr wieder daheim bin, frage ich, ob ich Fernseher und Video ins Wohnzimmer schaffen soll. – Nein. – Wir gehen also in mein Zimmer. Ngozi legt sich gleich auf mein Bett. Ich lege die Kassette ein und suche mir einen Platz auf der anderen Seite des Bettes. Wie selbstverständlich bleiben Ijeoma und Emmanuel im Wohnzimmer, schlafen.

Den Film Living in Bondage kennt sie bereits. Deshalb wählen wir Nneka – the Beautiful Serpent. Zu Beginn sieht man die skyline von Lagos Island. Ich erläutere, dass der Film in Lagos spielt. Sie kennt die Hochhauskulisse nicht, obwohl sie schon mal in Lagos war, auf Einladung eines reichen Mannes. Er hatte sie im Auto nach Lagos gebracht, damit sie in seinem Haus für ihn betet. Nach dem Beten wurde Ngozi gleich wieder zurückgebracht.

In dem Film machen die Männer keine gute Figur. Sie betrügen die Frauen, verstoßen ihre Ehefrauen. Ngozi bestätigt lebhaft, wie gemein sich die Männer verhalten. Für sie zeigt der Film die reine Wirklichkeit. Nachdem er zu Ende ist, bleibt Ngozi im Bett liegen, am Fußende. Ich lasse eine Kassette mit Popmusik laufen, kümmere mich nicht weiter um Ngozi, sondern lese in einem Geschichtsbuch über das Spätmittelalter, um meinen Videokurs für Mittwoch Abend vorzubereiten. Ngozi leicht bekleidet, nur mit BH und weißem Unterrock. Ich dagegen, anders als sonst, liege mit Hose und Hemd im Bett. Ihr Schnarchen stört mich. Außerdem mag ich nicht in der Hitze der Nacht voll bekleidet im Bett liegen bleiben, bis ich einschlafe. Deshalb wecke ich Ngozi kurz vor dem Zubettgehen auf und sage ihr, dass ich jetzt schlafen möchte. Sie steht umgehend auf und geht brav wie ein Lamm ins Wohnzimmer, legt sich auf die Couch. Sie fragt noch nach einer Decke. Dann schließe ich die Zimmertür. Solange sie bei mir im Zimmer war, hatte ich die Tür stets offengelassen, so dass Ijeoma und Emmanuel nicht irgendwelche Intimitäten behaupten können. Und so halte ich es auch am Mittwoch und Donnerstag.

Für Mittwoch Nacht einigen wir uns wieder auf einen Film. Als Ngozi hört, dass ich ihren Film The Abolition of Adoro da habe, möchte sie ihn sehen. Doch dann entscheidet sie sich für Living in Bondage. Nach einer halben Stunde ist sie eingeschlafen. Ich schalte TV und Video aus, blättere in meinen Kleist- Aufzeichnungen, lese schließlich die Novelle mit der Geschichte von Toni. Dazu Pianokonzerte von George Winston, sanfte, einschläfernde Musik. Ngozi wacht öfter auf, wälzt sich hin und her. Später schmiegt sie sich an mich, hält meine Beine umschlungen. Zu müde, um weiterzulesen, gegen 1 Uhr morgens wecke ich sie. Sie kommt langsam zu sich und bemerkt, dass sie mich umschlungen hält. Wieder legt sie sich zum Schlafen aufs Sofa im Wohnzimmer.

<118>

Am Donnerstag haben wir den ganzen Abend für uns. Ich suche zwei Filme aus der Reihe The Germans aus. Schon am Mittwoch Nachmittag hatte Ngozi zugeschaut, als ich die Folge übers Spätmittelalter angesehen hatte: gotische Kathedralen, Heiligenbilder und Reliquien aus dem Palast Karls IV. Die biblischen Motive interessieren sie. Am Donnerstag Abend zunächst die Folge über Luther, dann Bismarck, mit Illustrationen der preußischen Kriege gegen Österreich, später Frankreich. Die Kriegsdarstellungen machen auf Ngozi einen unerwarteten Eindruck. Sie fühlt sich ermuntert, ihren Krieg weiterzuverfolgen. Man müsse Krieg führen, um ans Ziel zu kommen. Es klingt fast so, als seien ihr durch eine Fügung Gottes die Kriegsbilder vorgeführt worden, um sie zu ermahnen, den Kampf fortzuführen. Ngozi gibt also eine Interpretation des Films, und es klingt leise die Frage an, ob sie die Zeichen richtig deutet. Ngozi fragt sogar ganz direkt, was sie tun soll. – Ich möchte keine Verantwortung auf mich nehmen, denn es wäre schlimm, wenn die Anhänger der Mission den Eindruck bekämen, dass Ngozi unter meinem Einfluss steht. Was immer ihnen nicht passt, würden sie auf meine Intrigen zurückführen. Nichts könnte besser erklären, warum sich Ngozi ihnen entfremdet.

Außerdem habe ich nicht die mindeste Vorstellung, was zu tun ist. Nicht einmal die Ziele sind mir klar. Den chief matt setzen? Mit Hilfe der Polizei? Verhandeln? Deshalb erkläre ich unverblümt, dass ich den Konflikt in Alor Uno nicht verstehe. Aber Ngozis Lehre aus dem Geschichtsvideo, dass die Zeit zum Kampf gekommen sei, mag ich nicht unwidersprochen lassen: Die meisten, die an jenen Kriegen des 19. Jahrhunderts teilnahmen, haben den Krieg bereut.

Es ist klar, dass ich am nächsten Morgen verreise. Anfangs hatte ich dazu geneigt, meine Gäste nicht übers Wochenende allein im Haus zu lassen. Ngozi hatte am Dienstag selbst erklärt, dass sie mich in zwei Tagen wieder verlassen würde, deshalb wartete ich auf ihre Ankündigung zu gehen. Doch am Donnerstag spricht sie davon, übers Wochenende zu bleiben. Emmanuel soll am Freitagmorgen wieder die Situation erkunden, und dann wolle sie entscheiden. Vielleicht sei es am besten, dann gleich wegzureisen, nach Kano oder Onitsha. Aber es sei auch nicht gut, immer zu fliehen. Überall, wo sie hinkomme, werde gekämpft. Macht es Sinn wegzurennen? Alor Uno ist ihre Stadt: "Dort bin ich geboren." Sie spricht wieder von Krieg und kündigt an, Leute aus Onitsha zu holen, um in Alor Uno zu kämpfen. Dann ganz unvermutet: Ich soll ihr einen Rock und eine Bluse kaufen, damit sie mich auf der Fahrt nach Enugu begleiten kann. (Sie trägt weiterhin nur den Unterrock). Ich lehne ab: In Enugu bin ich zu sehr beschäftigt, um Begleitung mitzunehmen.

Aber ich hatte ihr schon angeboten, im Haus zu bleiben, wenn ich verreise. Am Freitagmorgen, vor dem Weg zur Uni, drücke ich Ngozi ein Bündel Geldscheine in die Hand. Die Zeit ist zu knapp, das Geld zu zählen. Es dürften 500 bis 1000 Naira sein: genug, um nach Kano zu kommen, und selbst für Ijeoma und Emmanuel bliebe einiges übrig. Aber Ngozi sagt nun, sie werde nicht reisen, sondern dableiben, bis ich zurückkomme. Wohlweislich habe ich mich nicht festgelegt, wann ich zurück bin. Ich rechne, dass es Montag wird. Aber es ist besser, sie im Ungewissen zu lassen. Außerdem habe ich mit Victoria ausgemacht, dass sie auch am Wochenende ins Haus kommt. Schließlich hat mir Ngozi noch versprechen müssen, dass sie niemanden sonst ins Haus lässt.

Wie ernst meint sie ihren Vorschlag, mit mir nach Deutschland zu reisen? Dass sie sich stundenlang Videos über deutsche Geschichte anschaut, soll wohl ihre Bereitschaft dokumentieren, sich auf meine Kultur einzulassen. Sie setzt sich sogar eine Stunde lang neben mich, um mir zuzuschauen, wie ich am Computer arbeite. Gleichzeitig verweist sie immer wieder darauf, dass Emmanuel und Ijeoma, im Unterschied zu ihr, nichts von meinem Essen zu sich nehmen, dass sie vor diesem und jenem Angst haben.

Sie drängt mich auch nicht, an den Bußübungen teilzunehmen. Nur am Dienstagmorgen, als die drei niederknien und auf Ngozis Anweisungen beten, beteilige ich mich unaufgefordert, knie neben ihnen, bete einige ‘Vater Unser’. Später sehe ich sie noch zwei, drei Mal beten, während ich gerade im Haus beschäftigt bin. Aber ich werde nicht dazu gerufen. Am Mittwochmorgen, als ich das Frühstück bereite, überrascht mich Ngozi mit der Ankündigung, dass sie und ihre Begleiter fasten: also kein Brot, nicht einmal Tee. Ich lasse mich dadurch nicht stören und löffele mein Müsli. Meine Selbstdarstellung ist also nicht die eines frommen Menschen. Jeder Igbo hätte Ngozis Anwesenheit genutzt, um für sich beten zu lassen, das Haus gesegnet zu bekommen.

Vielleicht achtet sie darauf, sich mir gegenüber nicht allzu tyrannisch aufzuführen. Anderen hat sie offenbar Gebetsübungen aufgegeben, aber mich bedrängt sie nicht. Sie gibt sich völlig liberal, als wolle sie mir zeigen, dass ich mit ihr in Deutschland oder anderswo keinen Ärger haben werde.

51. Beverly Hills, 17. März 96

<119>

Am späten Nachmittag aus Enugu zurückgekehrt. Trotz der langen Abwesenheit (zwei Tage im Hotel) finde ich in meinem Haus alles in Ordnung. Ngozi hat sich nicht an meinen Soft Drinks vergriffen, die Vorräte in der Kammer sind nicht angetastet. Nur zwei Tage später vermisse ich die Bibel, die ich Ngozi ausgeliehen habe.

Es gibt wenig Zeit zum Plaudern. Ich muss Hausarbeiten korrigieren. Erst nach 21 Uhr schauen wir uns den zweiten Teil von Nneka – the Beautiful Serpent an. Mir ist anfangs nicht klar, dass Nneka kein Mensch ist. Doch Ngozi ist rasch im Bilde. Sie klärt mich darüber auf, dass Nneka ein Geist ist, der Männer in ihr Verderben lockt.

Nach dem Film, als wir weiter im Bett miteinander plaudern, erwähnt Ngozi, dass einige Bewohner von Alor Uno von ihr glauben, dass sie ein Geist sei. Dieses Renommee hat sie sich dadurch erworben, dass sie in Momenten der Gefahr immer verschwunden sei. Im Dezember 1995, als 40 Polizisten sie verhaften wollten, sei sie ihnen rechtzeitig entwischt. Gott habe sie gewarnt, und so sei sie vor dem Morgengrauen davongegangen. Als Anfang 1995 die gang von Studenten ihr nach dem Leben trachtete, war es genau so. Am letzten Montag sei sie wieder davongekommen, jedesmal mit Gottes Hilfe. Manche glauben jedoch, dass sie wie ein Geist verschwinden könne. Ngozi lacht über diese Ignoranz: "Dabei kennen mich diese Leute genau. Sie wissen, dass ich in Alor Uno geboren wurde, und sie kennen sogar meine Eltern."

Am nächsten Morgen, als ich reichlich spät aufstehe, ertönt vom Wohnzimmer her großes Palaver. Ein halbes Dutzend Leute hockt um Ngozi, unter ihnen Brother Joe. Ich dusche zunächst, komme dann missmutig ins Zimmer. Brother Joe grüßt mich erfreut, mit Dankbarkeit. Daniel ist zufällig auch zu Besuch und sitzt am großen Tisch. Während des Frühstücks lasse ich den Lärm noch über mich ergehen, doch dann werde ich resolut: Ich brauche Ruhe zum Arbeiten. Deshalb sollen alle, falls sie weiter debattieren wollen, vors Haus gehen. Wenig später, Daniel ist immer noch bei mir, verabschiedet sich Ngozi mit ihren Getreuen. Sie will nach Alor Uno, wo die Polizei aus Lagos eingetroffen ist. Gegen Abend, wenn ich von der Arbeit komme, werde sie wieder dasein. Als ich zurückkomme, ist das Haus leer. Keine Nachricht von Ngozi.

52. Alor Uno, 23. März 96

<120>

Als ich in der Dämmerung Richtung Marktplatz fahre, weiß ich nicht, was mich erwartet. Muss ich damit rechnen, dass mein Wagen angegriffen wird? Angestrengt schaue ich, ob irgendwelche Zeichen eine Bedrohung verraten. Auf dem Marktplatz entstehen gerade neue Hütten: Bambusgestänge, über denen Dächer errichtet werden. Daneben ein Haufen Gräser oder Palmwedeln, um die Dächer zu decken.

Auf dem Gebetsplatz sind die Trümmer immer noch nicht beiseite geräumt. Gleich neben den Überresten des zerstörten Heilerzentrums stehen rund 20 Anhänger der Mission, erkennbar an ihren weißen Hauben. Sie winken mir zu. Ngozi ist leider am Mittwoch Richtung Lagos entschwunden, zum Glück nicht in Polizeigewahrsam, sondern freiwillig. Aber es gehe darum, in Lagos Aussagen zu machen. Die komplette Nsukka-Polizei sei gegen die Mission eingestellt. Die Polizei aus Lagos wurde dagegen von Anhängern der Mission eingeschaltet. Ngozis Cousin Emeka, der Gebrauchtwagen aus Deutschland verschiebt, und sein Bruder Ejiofor, der den Volvo fährt, haben das FIIB mobilisiert.

Das Land, auf dem das Heilerzentrum errichtet werden sollte, gehört Alberts Familie. Man hat es der Mission als Geschenk gegeben. Ich nahm dagegen fälschlicherweise an, dass Ngozi einfach öffentliches Land okkupiert hatte. Ihre Mission schien den Marktplatz sozusagen zweckentfremdet zu haben. Doch nur dort, wo die Marktstände wieder errichtet werden, befindet sich das eigentliche Marktgelände. Dagegen gehört der Gebetsplatz zum Familienbesitz Ngozis. Früher stand dort das Haus ihres Vaters.

("Wer hat das Land nach dem Tod des Vaters in Besitz genommen?") – Niemand, denn der Vater starb durch Adoro. All sein Eigentum fiel also an den Schrein. Das Haus ist schon in den 70er Jahren verfallen. Ngozi hat genau dort ihren Gebetsplatz errichtet.

("Hat sie den Boden gesegnet, der zuvor verflucht war?") – Ja.

53. Beverley Hills, 26. März 96

Gespräch mit Daniel.

<121>

Ich habe erst heute von Victoria erfahren, dass während meiner Abwesenheit in Enugu sieben Anhänger der Mission aus Lagos angereist kamen und sich in meinem Haus mit Ngozi trafen. Victoria war anwesend, als sie sich berieten, und auch Daniel:

Ngozi diskutierte mit Brother Joe, mit dem Volvo-Mann (Ejiofor), mit Emeka und anderen. Sie sagten Ngozi, dass sie mit ihren Äußerungen sehr vorsichtig sein müsse, da es sich jetzt um einen Polizeifall handele. Es sei nicht nur eine religiöse Angelegenheit. Falls sie von der Polizei vernommen werde, solle sie sich strikt darauf berufen, dass sie nur die Dörfer reinige. Die Gegenseite behaupte nämlich, sie sei über spirituelle Dinge hinausgegangen, als sie den Markt zerstörte.

Die Leute aus Lagos berichteten über ihre Bemühungen, die Lagos-Polizei einzuschalten. Nun seien die Gegner gezwungen, mehrmals nach Lagos zu reisen. Das werde für sie sehr teuer, zumal ihnen niemand aus der Alor-Uno-Community in Lagos Unterkunft gewähren dürfte. Der Prozess in Lagos werde für die Gegner so teuer, dass sie gezwungen sein könnten, Land zu verkaufen. Einer der Besucher erwähnte sogar, es werde eine gute Gelegenheit sein, von den Gegnern in Alor Uno Land aufzukaufen.

[Daniel:] "Der Häuptling und sein Kabinett könnten gute Gründe haben, dich anzugreifen. Sie könnten glauben, dass du für die gegenwärtige Eskalation verantwortlich bist, dass du die Polizei aus Lagos gebracht hast und dass Ngozi so selbstsicher auftreten kann, weil sie weiß, dass du sie unterstützt. Vielleicht glauben die Leute des chiefs, dass du Alor Uno christianisieren möchtest."

("Was könnte mir passieren?") – "Sie könnten Jujus benutzen, damit dir ein Verkehrsunfall zustößt. Aber Ngozi wird dich beschützen. Es wäre eine Schande für sie, wenn irgendeiner ihrer Gefolgsleute verletzt würde. Sie behauptet, dass ihre Kraft stärker ist als schwarze Magie. Bevor ein Unfall passiert, wird sie das in einer Vision vorhersehen, und dann kann sie das Missgeschick durch Gebet oder Fasten abwenden."

Letztes Jahr gab es an dem Hügel bei Alor Uno einen Ritualmord. Daniel sah die Leiche am Straßenrand, durch Machetenschläge entstellt: "Die Genitalien konnte ich nicht sehen. Ich nehme an, sie wurden weg geschnitten. Die Leute erzählten, dass einige Körperteile für Rituale entfernt wurden. In Nigeria ist jeder wohlhabende Mann in diese Art Geldmacherei involviert. Da Geld durch die Weißen nach Afrika gebracht wurde, kann es in Europa nicht völlig anders sein. Durch harte Arbeit allein kann niemand so viel Geld anhäufen. Mir wurde erzählt, dass die weißen Techniker, die bei uns Brücken über die Flüsse bauen, den Wassergeistern Opfer bringen. Keine Menschenopfer, aber Hühner und Ziegen. Sonst würden die Menschen Verkehrsunfälle haben. Frag die Weißen bei Julius Berger [der größten Baufirma in Nigeria]."

Ich erzähle Daniel von Chuka: dass er nach Auskunft von Ngozi verrückt war. – Aber Ngozi war selbst verrückt. Frag die Leute in Alor Uno. Daniel ist überrascht, dass ich nie davon gehört habe. Ganz Alor Uno weiß das, denn die Menschen sahen, dass sie wie eine mad woman ziellos umherirrte. Sie war geisteskrank.

Daniel kommentiert schließlich noch einige Bemerkungen von Victoria. Sie hatte erzählt, dass Ngozis spiritueller Lehrer Chima [ein anderer Prophet und Kirchenbesitzer] in mein Haus zu Besuch kam. Er brachte Ngozi Essen, doch sie lehnte das Essen ab und beschied ihm: Emmanuel und Ijeoma könnten das Essen nehmen. Sie selbst dagegen werde essen, was Victoria ihr kocht. Victoria war schockiert: Warum lehnte Ngozi das Essen ab? Befürchtete sie, dass das Essen vergiftet war? Als Prophetin hätte sie in der Lage sein müssen, durch Visionen zu erkennen, ob es vergiftet ist oder nicht. Außerdem dürfte ihr als Prophetin das Gift nichts anhaben. Später vertraute Ngozi ihr Folgendes an: Chima sei eifersüchtig, weil sie ihren früheren Lehrer überflügelt habe. Daniel erläutert, dass Chima Ngozi gedrängt haben soll, ihn zu heiraten. Sie wollte es jedoch nicht.

54. Beverly Hills, 29. März 96

Gespräch mit Victoria und Daniel.

<122>

("Wenn Chima Gift ins Essen getan hat, wie kommt es, dass dieses Essen nur für Ngozi gefährlich ist und nicht für Emmanuel und Ijioma?") – Weil es sich nicht um eine giftige Substanz handelt, sondern um einen Zauber. Mehrere Personen können von der Speise essen, aber nur eine stirbt.

Ngozi hat Angst vor Chima. Sie ging einmal zum Beten auf einen Hügel, aber Chima schickte einen schweren Regenschauer. Die beiden hatten schon früher gestritten, wer von ihnen mehr Kraft besitzt. Ngozi war damals mit einigen ihrer Anhänger auf dem Hügel, und sie mochte sich nicht vor dem Regen in Sicherheit bringen. Aber der Regen wurde so heftig, dass sie von dem Hügel herabsteigen und in Chimas Haus Zuflucht suchen musste.

Nach Nsukka kommen viele Igbo, die anderswo gescheitert sind, denn die Menschen hier sind sehr rückständig. Andere Igbo nennen die Bewohner von Nsukka ‘Hausa’, weil sie so dumm sind. Um anderen Menschen einen Gefallen zu tun, würden die Menschen hier Nachteile auf sich nehmen, genau wie die Hausa. Wenn ein Hausa zum Beispiel eine Karotte in der Hand hat und du ihn um ein Stück davon bittest, kann es passieren, dass er dir die ganze Karotte gibt.

("Dann sind die Hausa also gute Menschen?") – "Ja." – Victoria: "Sie sind besser als die Igbo."

Daniel: "Igbo-Händler gehen in den Norden Nigerias, weil es leichter ist, Hausa zu betrügen. Sie erzählen einem Hausa, das hat 10 Naira gekostet, und der Hausa glaubt es. Ein Hausa dagegen sagt dir: ‘Ich habe das für 4 Naira gekauft, und ich verkaufe es für 5 Naira, um ein wenig zu verdienen.’ Und das wird stimmen. Wir hassen die religiösen Sitten der Hausa, dass sie ihre Frauen einsperren und ihre Kinder zum Betteln auf die Straße schicken. Aber wir schätzen es, dass sie ehrlich sind. Wenn ein Hausa sieht, dass ein anderer Hausa in einen Streit verwickelt ist, wird er sofort für seinen Bruder Partei ergreifen. Die Igbo dagegen haben lauter Tricks und Gemeinheiten im Kopf."

("Die Igbo könnten doch ebenfalls ehrlich sein, wenn sie diese Art Verhalten schätzen.")

"Nein, das geht nicht. Es liegt ihnen im Blut, unehrlich zu sein."

("Dann liegt die Unehrlichkeit auch dir im Blut?")

"Nein, ich bin wiedergeboren."

Victoria: "Als Ngozi und ihre Begleiter in Chimas Haus Zuflucht suchten, sagte er zu Ngozi, dass der Regen seine Überlegenheit beweise."

Ich äußere Zweifel, ob man Regen machen kann. Daniel ist überrascht: "Das glaubst du nicht? Ich kann dich zu einem Regenmacher bringen, allerdings nur in der Regenzeit. Sie haben keine Mühe damit. Schwieriger ist dagegen, Regen zu vertreiben. Man muss ein Feuer machen, so dass der Rauch in die Luft aufsteigt und sich verflüchtigt. Dann kommt ein Wind auf und vertreibt die Wolken."

("Zurück zu Chima. Wenn er wirklich so mächtig ist, hätte er wissen müssen, was Ngozi über ihn denkt.") – "Wir sind auch irritiert. Sein Verhalten ist schwer zu verstehen."

55. Lagos, 1. April 96

<123>

Um Ngozi zu finden, hatte ich die Adresse eines Händlers in Idomota, Lagos Island, gleich an der Carter Bridge. Nicht leicht, ihn in dem Gewirr von Gassen zu finden. Er brachte mich nach Orili-Coker, in die Alafia Street, um mich Ephraim vorzustellen. Eine Wohngegend für den nigerianischen Mittelstand, meist Igbo-Händler. Mir ist schleierhaft, wie man mit Vespa-Ersatzteilen so viel Geld machen kann. Als X. mich in Ephraims Zimmer führt, sitzt ganz überraschend Ngozi vor mir, in Begleitung von vier, fünf Männern. Von den jungen Männern kenne ich nur Emeka, Ngozis Cousin, der zuweilen in Deutschland ist. Das Zimmer ist knapp 20 Quadratmeter groß, vollgestellt mit Wertsachen: TV, Video, Stereo, Kühlschrank, Staubsauger und sogar Air Conditioner. Der Raum ist blau gestrichen und unterkühlt. Die Klimaanlage läuft mit voller Kraft, dazu bläst uns noch ein Ventilator die kalte Luft ins Gesicht. An den Wänden Heiligenbildchen, auf dem Teppichboden eine Bibel, vier Kanister mit heiligem Wasser, halbabgebrannte Kerzen. Ich sitze auf der Bettkante, gleich neben Ngozi.

Emeka erzählt ein wenig über Deutschland: dass die Menschen nicht fromm seien. In den Kirchen sehe man nur alte Frauen. Für Ngozi ist das eine Neuigkeit. Ich relativiere ein wenig: Die meisten glauben an Gott, aber sie beten lieber zu Hause als in der Kirche.

56. Lagos, 2. April 96

<124>

Auf dem Badagry Expressway gerate ich in einen endlosen Stau. Dabei ist es schon nach 20 Uhr. Bis Mitternacht staut sich hier der Verkehr, nur weil der Stadtverwaltung ein paar Tausend Naira fehlen, um einige Schlaglöcher zu stopfen. Sobald die Regenzeit beginnt, wird sich Lagos in einen Alptraum verwandeln.

Nach 21 Uhr treffe ich bei Ephraim ein. Ngozi ist wieder nur in Begleitung junger Männer. Sie scheint bei der Arbeit. Ein junger Mann spricht zu ihr wie ein Patient zu seinem Arzt. Ich unterbreche nur kurz: Ngozi soll mit mir ins Restaurant; ich will ihr zeigen, wie man in einer Art Buch blättert, um das Essen zu bestellen. Ngozi hatte es, als sie in Alor Uno davon erfuhr, nicht glauben wollen. Emeka jedoch bestätigt es jetzt. Er hat Speisekarten in Deutschland gesehen. Damit wir noch etwas zum Essen bekommen, müssen wir bald aufbrechen. Als wir im Wagen sitzen, bin ich noch unschlüssig, wo wir essen gehen sollen: Ganz feudal im Eko-Hotel? Oder exotisch, beim Chinesen in Apapa? Zum Glück hat sich Ngozi ein weißes Gewand samt Haube angezogen – nicht eben ideal fürs Eko, aber besser als Unterrock und BH. Am Tag zuvor hatte ich ihr schon gesagt, dass ich sie nur mitnehmen werde, wenn sie proper gekleidet ist.

Als wir kurz nach 10 beim Chinesen neben dem 'Goodies Super Market' eintreffen, hat das Restaurant gerade geschlossen. Zum Glück ist der Libanese ‘Safari’ noch geöffnet. Wir sind die einzigen Gäste. Ngozi hat vermutlich nie zuvor ein solches Ambiente gesehen: Kellner in Uniformen, Tischdecken und Servietten, diverse Teller, Messer und Gabeln vor uns ausgebreitet. Ngozi lässt sich die Speisekarte reichen. Doch als der Kellner ihre Bestellung aufnehmen will, erklärt sie ihm, dass sie nichts essen will. Nicht einmal ein Getränk akzeptiert sie. Ob die Preise sie erschreckt haben?

Ich frage sie, ob sie gerade fastet. – Sie verneint. Doch rührt sie nichts von meinem Humus an. Auch das Fladenbrot und das überbackene Gemüse mag sie nicht. Dafür ist sie sehr gesprächig, wiederholt allerdings vieles, was ich schon von ihr gehört habe: Als sie nach Alor Uno kam, um mit ihrer Mission zu beginnen, wusste sie nicht, dass ihr Onkel Vater und Mutter getötet hatte. Erst Gott hat es ihr offenbart.

("Aber das ganze Dorf war damals, vor 25 Jahren Zeuge!")

Ihre Brüder wussten auch davon.

("Warum nicht sie?")

"Ich war damals, bevor ich die Arbeit anfing, nicht normal."

("Warum kam sie nach Alor Uno? Um den Besitz ihrer Familie zu übernehmen?")

Der Tod der Eltern wurde so dargestellt, als seien sie Opfer von Adoro. Darum verfiel der Hof, als läge ein Fluch darauf. Aber in Wirklichkeit war es die Tat des Onkels. Es geschieht häufig, dass man Morde als Strafe Adoros ausgibt. Der Mörder nimmt etwas Sand oder andere Objekte aus dem Schrein und plaziert sie ins Haus des Opfers. Der Besitz ist dann verdammt, die Angehörigen des Opfers haben dadurch alles verloren. Auch Ngozi und ihre Geschwister wurden durch die Intrigen des Onkels mittellos. Der Onkel wollte, dass Ngozis Familie nichts hat, dass aus den Kindern nichts wird: "Schau dir meine Brüder an." (Sie sind Versager.)

("Warum bekämpft Eze so sehr die Mission?")

"Er hat den Überfall der 'Black Axe'-Studenten organisiert, zusammen mit seinem Bruder, dem Dicken. Sie haben gesagt, dass ich innerhalb von ... Jahren sterben würde, und jetzt versuchen sie mich zu exekutieren."

("Aber der Grund?")

"Er hat es selbst gesagt: Ich habe seinen Vater umgebracht, weil sein Vater meinen Vater getötet hat." (Ngozi schaut triumphierend: Das ist der Beweis.)

("Aber der Bruder Ezes, der in Nsukka lebt, ist nicht gegen die Mission?")

"Er ist auch gegen mich."

("Er soll ein Christ sein.")

Ngozi lacht abfällig: "In welcher Kirche? Er hat gesagt, dass er Christ wird, wenn ich tot bin."

Gleich auf der Fahrt im Auto hatte mich Ngozi gefragt, ob ich sie mitnehmen könne, wenn ich nach Hause gehe. Ich erkläre, dass ich, wenn ich denn gehen müsse, nicht nach Deutschland geschickt werde, sondern in ein anderes afrikanisches Land.

"Anfangs, als ich nach Alor Uno kam, hatten" – so behauptet Ngozi – "alle Angst vor mir."

("Warum?")

"Weil sie nicht wussten, was ich will. Aber jetzt sind alle mit mir zufrieden."

Nirgendwo in Nigeria kann sie wirklich sicher sein vor den Nachstellungen, auch hier in Lagos nicht. (Es klingt durch, dass sie den Kampf satt hat, dass sie müde ist. Vielleicht würde sie deshalb gerne nach Deutschland.) Doch dann besinnt sie sich: Gott wird sie schützen, so wie er den Propheten Micha geschützt hat. Dann erzählt sie mir in allen Details, wie Saul (?) die Warnungen Michas missachtet hat, wie Micha gefangen gehalten wurde und wie er letztlich triumphierte. Sie hat alles genau studiert.

57. Alor Uno, 7. April 96

Ostersonntag.

<125>

Nach der Rückkehr aus Lagos gab’s nicht viel Neues zu erfahren. Die Lage habe sich beruhigt, denn die Zahl der area boys [der jugendlichen Schläger, die für die Traditionalisten kämpfen] sei zusammengeschmolzen. "Sie haben jetzt Angst vor uns." Trotzdem wurde mein Wagen nachts, während ich am Abendgebet teilnahm, sorgfältig bewacht. Passanten, die vorbeikamen, wurden mit der Taschenlampe angeleuchtet.

58. Alor Uno, 8. April 96

<126>

Von Thompson höre ich, wie sich die lokale Kabale weiter entwickelt hat. Die Bewohner von Alor Uno haben sich durch die Schlägerbande des chiefs einschüchtern lassen. Als die area boys die Mission und später die Schule angriffen, mussten viele Bürger fliehen. Die boys beherrschten den ganzen Ort. Sie errichteten drei Straßensperren, durchsuchten die Autos und zogen Gebühren ein. Auf diese Weise kassierten sie 20.000 Naira. Dieser Terror dauerte bis zum Freitag, als die Polizei aus Lagos eintraf.

Thompson hielt sich nach seiner Entlassung aus der Polizeihaft im Carolina-Hotel versteckt. In der Nacht schlich er sich ins Haus seiner Mutter, um einen Brief an den Divisional Police Officer zu schreiben. Doch der DPO war nicht bereit einzugreifen. Er hat übrigens gedroht, er werde mich in Polizeihaft stecken, sobald er mich erwischt: "Was hat der Weiße in Alor Uno zu suchen? Er handelt mit Antiquitäten."

Die drei Polizisten aus Lagos hat Ephraim, Fabians Bruder, geschickt. Sie sollten 15 Personen, die die Mission ihnen genannt hatte, verhaften, haben das aber nicht getan. Thompson und Ejiofor haben sich um die Polizisten gekümmert, sie bei Laune gehalten, Essen für sie gekauft. Thompson hat auf diese Weise 1500 Naira ausgegeben, und er fand keine Gelegenheit, sich um sein business in Enugu zu kümmern. Sein Engagement für die Gemeinde in den letzten sechs Jahren hatte nur zur Folge, dass er jetzt verarmt ist.

Während wir auf der Hauptstraße stehen, an meinen Wagen gelehnt, und eine Cola trinken, ist es draußen duster. Fast alle Geschäfte haben schon geschlossen. Der Platz ist menschenleer. Nur zuweilen taucht eine Gestalt aus der Finsternis auf, und Thompson schaut angestrengt, ob es ein Freund oder Feind ist. Er sieht schlecht, besonders nachts, und deshalb sieht er sich immer wieder nervös um, ob Gefahr droht. Wenn ein Schlägertrupp auf uns zugeeilt käme, hätten wir sowieso keine Chance mehr. Während der Krise, als die Mission gestürmt wurde, ließ er zwei, drei boys aus dem Dorf bei sich Wache halten. Sie kommen, wann immer er sie braucht, nachts gegen 22 Uhr, und er gibt ihnen etwas Geld. Nur jetzt hat er kein Geld.

59. Beverly Hills, 10. April 96

Gespräch mit Daniel.

<127>

Dass Ngozi die Marktstände zerstört hat, war ein kapitaler Fehler. Daniel wurde Zeuge, wie die Leute in Nsukka darüber sprachen. In einem Shop, in dem Alkohol verkauft wird, ist einer der Verkäufer ein Anhänger der Mission. Die Gäste hänselten ihn: Es sei richtig, dass Ngozis Missionsgebäude zerstört wurde. Ngozi habe viel für Alor Uno getan. Aber den Markt zu zerstören, wo einfache Leute ihre Existenz behaupten, sei Grund genug, gegen sie vorzugehen.

(Vielleicht hat Ngozi keine Lust, nach Alor Uno zurückzukehren, weil ihr der Fehler bewusst geworden ist. Sie hat sich selber Ärger eingebrockt. Was kann sie in Alor Uno noch gewinnen? Die Gegenpartei lässt sich bestenfalls in die Defensive drängen, einschüchtern. Wahrscheinlicher gibt es ein monatelanges Hin- und Hergezerre. Man nervt sich gegenseitig, zermürbt sich, schleift sich aneinander ab.)

60. Alor Uno, 11. April 96

<128>

Gegen 20.30 Uhr fahre ich direkt zu Thompson, um Arrangements zu treffen für einen Ausflug zu einem Nachbardorf, wo er einen ‘Freund’, einen Lokalpolitiker besuchen will. Er erhofft sich davon einen Auftrag, denn das Geschäft in Enugu läuft nicht gut. Beim Arbeitsministerium hatte er Waren verkauft, aber die Anweisungen an die Kasse, ihn auszuzahlen, waren noch nicht fertig. Beim Buchladen der Enugu State University of Technology hatten sie einen Teil seiner Papierwaren verkauft, aber angeblich auf Kredit. Thompson reagierte sauer: Er habe ihnen nicht die Waren überreicht, um sie auf Kredit weiterzugeben. Beim Treffen am Osterdienstag mit der Federated Alor Uno Progressiv Union wurde Geld gesammelt, um den Kampf gegen den chief zu finanzieren. Thompson erhielt den Auftrag, sich in Enugu an den State Security Service zu wenden, und das tat er auch. 2000 Naira, und die SSS versprach im Gegenzug, in Alor Uno zu patrouillieren und area boys aufzugreifen. Einige der Jugendlichen treiben sich nachts in der Marktgegend herum, bewaffnet mit Messern, und belästigen Passanten.

("Soll mit dem Geld noch eine andere Polizeieinheit geschmiert werden, abgesehen vom SSS?") – Nein. Für die Polizisten aus Lagos hat man nichts mehr ausgegeben, weil sie sich nicht haben blicken lassen.

Als er wieder klagt, dass ihn der Einsatz für seine Heimatgemeinde arm macht, frage ich ihn, warum er all die Mühe auf sich nimmt. Wäre es nicht besser nach Enugu zurückzukehren, wo er geboren ist? – Doch er hat gute Gründe zu bleiben: In Alor Uno gebe es ein leadership vacuum. Er wolle in die Politik einsteigen. Dafür sei Alor Uno ein gutes Terrain. Sobald politische Parteien gegründet seien, würde er mit den big shots Kontakt aufnehmen. [3] Er könne für die betreffende Partei Wählerstimmen mobilisieren, und dafür könne er viel Geld bekommen.

("Für welche Partei?") – Weiß er noch nicht.

61. Alor Uno, 14. April 96

<129>

Mit den Polizisten aus Lagos hat Thompson keine guten Erfahrungen gemacht.

("Warum haben sie nicht, wie versprochen, die Leute des chiefs verhaftet?") – Weil sie von der Gegenseite ebenfalls Geld bekommen haben. Das ist es, was sie üblicherweise machen: Geld kassieren und nichts dafür tun. Einer der drei Polizisten hat es Thompson anvertraut, dass die Partei des chiefs ihnen 100.000 Naira geboten hat.

("Aber der chief hat gar nicht so viel Geld.") – Es war der Holzunternehmer, der soviel geboten hat.

Ngozi ist aus Lagos zurück. Aber Thompsons Versuche, kurz mit ihr zu sprechen, führen zu nichts: Wir sollen warten, sie habe gleich mehr Zeit für uns. Wir sitzen im Hof, wie viele andere Bittsteller, und warten. Ngozi ist belagert. Von ihren Getreuen lässt sie sich berichten, was während ihrer Abwesenheit geschehen ist, und bei dieser Gelegenheit ist sicher von den Verfehlungen einzelner Mitglieder die Rede. Im Hof sind mehr Menschen als sonst versammelt. Wir sitzen auf Holzbänken. Ngozi tritt aus einem der Zimmer in den Hof, holt aus einer Ecke eine alte Pauke, genauer gesagt: den schweren Metallring, der von der Pauke übrig geblieben ist, denn von den Membranen ist nichts mehr vorhanden. Sie stellt die Pauke mitten auf den Hof ab, schreit laut "Gloria!". Die Dicke kommt, Ngozi gibt ihr Order, die Pauke zu tragen und mit ihr zum Hoftor zu gehen, dann wieder zurück, hin und her. Gloria müht sich ab. Erst langsam wird mir klar, dass es sich um eine Strafe handelt. Nachdem sie den Auftrag erfüllt hat, wirft sie sich zu Boden, liegt rücklings auf nacktem Beton und beginnt mit Zungenreden, unaufhörlich, fast eine halbe Stunde. Ngozi macht sich währenddessen an den anderen zu schaffen. Sie winkt einer der Weißgekleideten, hervorzutreten und niederzuknien. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, kommt sie mit einem Stöckchen in der Hand und schlägt sie, boxt sie mit der Faust auf den Rücken, dann Fußtritte. Als nächstes muss ein junger Mann vortreten und niederknien. Ngozi schreitet um ihn herum und zieht dabei mit einem Fuß eine kreisförmige Figur in den Sand, etwa zwei Meter im Durchmesser. An einer Stelle des Kreises unterbricht sie die Linie und zeichnet einen kleineren Kreis, 40 bis 50 Zentimeter, und in dessen Mitte ein Kreuzzeichen. Dem Mann geschieht nichts weiter.

Sie kommt auf die Bank zu, auf der ich sitze, fasst einen Mann links von mir an seinem blauen Kittel. Der rutscht von der Bank auf die Knie. Sie zerrt ihm mehrere Meter am Kittel hinter sich her. Der Mann steht aber nicht auf, sondern robbt auf den Knien hinter Ngozi her. Ngozi schlägt ihn mit dem Stöckchen, aber recht milde. Sie geht auf eine Frau zu, fasst ihren weißen Umhang in Höhe der Brust, zerrt sie einige Meter entfernt auf den Boden. Wieder Schläge auf die Innenflächen der Hände und mitten ins Gesicht, auf den Kopf, die Fußsohlen. Es ist nicht sehr schmerzhaft; Ngozi schlägt nicht mit voller Gewalt zu. Aber die Misshandelten müssen Unterwürfigkeit lernen. Wenn sie versuchen, die Hände schützend vors Gesicht zu legen, zerrt Ngozi die Hände weg und schlägt sie mitten ins Gesicht. Sie geht in die Ecke des Hofes, kehrt mit einem schweren Stein zurück und legt ihn der knienden Frau aufs Haupt. Bis zum Ende der Strafaktion muss die Kniende den Stein auf ihrem Kopf ruhen lassen.

Fedeco ist dran. Wieder geschieht es völlig wortlos. Ngozi zerrt ihn einige Meter vor. Fedeco kniet nieder. Ngozi holt ein altes Tuch und wickelt es um die Fußgelenke, verschnürt es mit einem Knoten. Fedeco muss aufstehen und mit gefesselten Füßen zum Hoftor hüpfen. Wieder zurück, zum Hoftor, zurück ... Er bietet einen lächerlichen Anblick, und die Beobachter sind belustigt. Alles starrt angespannt auf Ngozi und ihre nächsten Schritte. Niemand weiß, wen es als nächsten trifft und was Ngozi mit ihm anstellt. Die Betroffenen tragen es meist gelassen, ohne zu murren. Manche grinsen, es fallen witzige Bemerkungen. Doch meist ist alles still. Ngozi spricht kein lautes Wort. Aber sie grimassiert stärker als sonst, grinst diabolisch, schaut finster entschlossen drein, als wolle sie jeden Widerstand brechen. Vor allem die Männer zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Strafen klaglos ertragen und selbst bei Schlägen nicht mit der Wimper zucken.

<130>

Antonia wird ebenfalls geschlagen. Ngozi geht zu der Küche im Freien, wo Palmöl gepresst wird, holt eine Schale Palmöl oder ein Abfallprodukt davon, gießt es Antonia über den Kopf, so dass die klebrige Flüssigkeit ihr auf den weißen Kittel heruntertropft. Die Zuschauer zeigen sich entzückt. Antonia, nach einigem Knien, verfällt in Trance, springt auf, taumelt, fällt zu Boden, wälzt sich im Sand. Der ölverschmierte Umhang saugt sich mit Dreck voll. Auch die fette Gloria wälzt sich träge unmittelbar vor mir. Eine dritte Frau, ebenfalls von Ngozi gestraft, zeigt sich außer Kontrolle, rollt wild über den Boden. Einige Weißgekleidete springen auf, achten darauf, dass niemand zu Schaden kommt, rücken die Kleider der Geistermedien zurecht, bedecken die Beine, damit die private parts nicht sichtbar werden. Ngozi schreckt auch nicht davor zurück, ihre Brüder zu misshandeln. Amobi kommt glimpflich davon. Chijioke dagegen erhält Stockschläge. Ngozi holt eine alte Konservenbüchse, die sie ihm auf den Kopf setzt. Dann hängt sie ihm einen verdreckten Lappen über die Schulter, schließlich kommt noch ein leerer Plastiksack über den Kopf. Chijioke rührt sich nicht. Er sieht nichts, wartet ergeben, was als nächstes passiert. Ngozi bringt zwei Becher Palmöl und gießt es über ihn.

Für einen besonders athletischen Burschen denkt sich Ngozi eine spektakuläre Strafe aus. Sie schleppt mit viel Mühe ein leeres Fass herbei, legt es dem Knienden auf den Kopf. Er verzieht keine Miene. Dann holt Ngozi brennende Holzscheite aus dem offenen Herd und legt sie in das offene Fass. Mit dieser Last, die er mit den Händen mühsam ausbalanciert, kriecht er auf den Knien langsam vorwärts, zieht Kreise um die anderen bestraften Personen herum. Einem anderen Mann hat Ngozi eine Holzbank auf den Kopf gelegt. Er kriecht auf Knien Richtung Hoftor und zurück.

Als mehr und mehr Personen hervorgezerrt und abgestraft werden, wird mir unbehaglich zu Mute. Ich zähle bereits über 30 Personen, die Ngozi herausgegriffen hat. Will sie die Demonstration ihrer Macht damit krönen, dass sie auch den onyeocha schlägt und in den Staub zwingt?

Die zu strafenden Personen werden höchst ungleich behandelt. Am übelsten ergeht es jener etwas eitlen jungen Frau, die mit mir nach Lokoja unterwegs war. Als Ngozi sie schlagen will, windet sie sich, duckt sich, hält sich die Hände schützend vors Gesicht. Ngozi lässt sich diesen Widerstand nicht gefallen, schlägt ihr mit dem Stöckchen unerbittlich ins Gesicht, tritt sie mit den Füßen in den Bauch. Die Frau liegt auf dem Boden, Ngozi drückt ihren Fuß in Siegerpose in ihren Bauch. Albert dagegen, der als einer der letzten hervorgeholt wird, findet milde Behandlung. Ngozi legt ihm einen eisernen Reif über die Schulter. Später steht er auf und rollt den Ring wie ein Kinderspielzeug vor sich her, beschreibt dabei Kreise um die knienden Personen.

Ich frage Thompson, wann er dran ist und was Ngozi mit ihm vorhat. – Er zuckt die Schulter: "Ich weiß nicht." – Ich spüre, dass er sich nicht wohl fühlt. Zugleich wird deutlich, dass er sich nicht auflehnen würde. Und ich hätte mir wohl auch einiges bieten lassen.

62. Alor Uno, 16. April 96

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Bei der Gerichtsverhandlung morgens um 9 müssen wir mehr als eine Stunde warten. Der Anwalt des chiefs beginnt damit, dass er keine Gerichtsakte habe. Bei der Polizei in Nsukka hatte er angeblich beantragt, die Dokumente zu kopieren, doch die Akte war nirgends auffindbar. Es hieß, die Akte sei in Enugu. Doch das sei zweifelhaft. Die Richterin reagiert missgelaunt, stellt den Vertreter der Polizei zur Rede, der die Darstellung des Anwalts dementiert. Die Richterin bäfft beide Seiten an: Sie sollen gefälligst die Akte auftreiben, sonst heißt es wieder, das Gericht würde das Verfahren hintertreiben. Der Anwalt verspricht sein Möglichstes zu tun. Man vereinbart einen neuen Termin für den 17. Juni.

Nach dem Prozess lade ich den Wagen voll mit den Angeklagten. Wir beschließen zu Ngozi zu fahren, die bei ihrer Großmutter ist. Sie befindet sich aber nicht im Haus der Großmutter, sondern in einer kleinen strohgedeckten Hütte im Hof, wo gekocht wird. Man kann kaum darin aufrecht stehen, sondern nur vor dem Feuer hocken. Sie lädt mich ein, hineinzukommen und mich am Feuer zu wärmen. Doch mich stört der Regen nicht. Ein Peugeot 504 fährt vor, und sechs Männer steigen aus. Sie möchten Ngozi sprechen, weil im Haus ihres Bosses in Nsukka etwas gestohlen wurde. Durch Ngozi wollen sie den Dieb ermitteln. Ngozi, in ihrer Hütte sitzend, hört sich den Fall an. Einer der Männer hockt vor dem Eingang der Hütte, im Regen, schildert das Problem. Da ich Ngozi nicht sehen kann, weiß ich nicht, ob sie irgendwelche Riten veranstaltet, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Nach einer Viertelstunde gehen die Männer wieder. Ngozi, mit Freude im Gesicht, erwähnt kurz darauf 200 Naira.

Thompson und ich sitzen im Wagen, plaudern. Neben dem Hauptpriester gab es noch weitere Priester, die für Adoro zuständig waren, zum Beispiel Fedecos Vater. Er war der älteste Mann in Alor Uno, 120 Jahre alt. Als Adoro-Priester hatte er in seinem Dorf einen kleinen Adoro-Schrein. An ihn wandten sich all jene Adoro-Anbeter, die aus einem der Osu-Dörfer stammen.

("Fedeco ist also ein Osu?") – "Ja. Aber wir nennen die Osu nicht so."

Thompson erinnert sich, dass der eigene Vater sich früher auch an Adoro gewandt hat. Der Nachbar war ein Dieb. Eines Nachts hat er der zweiten Frau des Vaters eine Nähmaschine gestohlen. Damals erklärte das Orakel, dass der Nachbar, falls er schuldig sei, innerhalb einer Woche sterben werde. Der Nachbar fiel tatsächlich von einer Palme, war aber nicht gleich tot. Als er sich dem Tod näherte, verriet er die Stelle, wo er die Nähmaschine vergraben hatte. Nach seinem Tod verfiel der gesamte Besitz. Der Tote selbst erhielt kein anständiges Begräbnis, sondern wurde in den Busch geworfen, dort wo die vielen Erdhügel verraten, dass noch mehr Opfer Adoros unter der Erde liegen. Die Kinder aber sind heute Christen.

63. Beverley Hills, 30. April 96

Gespräch mit Daniel.

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Daniel hat an dem Pass-over-Festival in Alor Uno nicht teilgenommen. Aber er hörte von einem Bekannten, dass es ein Erfolg war. Der Bekannte war als Videofilmer angeheuert worden, um das Festival aufzuzeichnen. Er filmte, wie Ngozi versuchte den Regen zu stoppen. Es funktionierte. Der Regen hörte auf, das Festival konnte ungehindert weitergehen. Aber dieses Ritual sollte nicht in den Videofilm aufgenommen werden, weil Ngozi sich zum Zweck der Regenmagie nackt ausgezogen hatte.

64. Alor Uno, 3. Mai 96

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Viel Ärger an der Uni. Das Gehalt wurde nicht ausgezahlt. Mit übler Laune traf ich in Alor Uno ein, fuhr direkt zu Thompson. Während wir in ein Restaurant essen gingen, berichtete er die jüngsten Kabalen: Beim Prozess vom letzten Dienstag kam wieder nichts heraus. Die Anklagevertretung musste der Richterin gegenüber einräumen, dass man die Prozessakte nicht vorliegen habe. Sie sei beim Director of Public Prosecution in Enugu. Thompson weiß es freilich besser. Die Akte existiert nicht mehr. Vor zwei Jahren hat er sie zusammen mit einem Polizisten vernichtet. Er gab dem Polizisten dafür Geld; der wiederum meldete, dass die Akte zum DPP nach Enugu gegangen sei. Beim DPP stapeln sich Tausende von Akten. All jene Häftlinge, die seit Jahren ohne einen Prozess in den Staatsgefängnissen schmachten, haben ihre Akte dort liegen. Unterlagen dort zu finden ist mehr als schwierig. Der chief, der sich für das Verfahren gegen Thompson extra einen Anwalt geheuert hat, müsste erst einmal 10.000 Naira zahlen, damit man ihm beim DPP die Akte raussucht. Sollte er so viel Geld investieren, wird er eine Enttäuschung erleben: Die Akte gibt es nicht mehr.

Gleich nach dem Gerichtsverfahren traf Thompson, nach Hause zurückgekehrt, auf den nächsten Ärger. Der jüngere Bruder seiner Mutter kam zu Besuch, um für Adoro zu opfern. Er lebt in einem Ort nicht weit von Alor Uno. Er hatte dort Streit wegen einem Stück Land. Deshalb wandte er sich an den Priester von Adoro. Der besorgte ihm aus dem Adoro-Schrein einen kleinen Fetisch. Der Onkel vergrub den Zauber auf dem umstrittenen Land, und sein Widersacher, der das Land beansprucht hatte, starb. Thompson suchte den Onkel zu überreden, nicht Adoro ein Dankesopfer zu bringen, sondern stattdessen zu beten und Geld für die Mission zu stiften. Doch der Onkel glaubt, dass der Zauber ihm das Land verschafft hat.

("Er sieht sich also als Mörder, der den Rivalen beseitigt hat?")

"Ja."

("Hat er deswegen ein schlechtes Gewissen?")

"Nein. Er hat nur Angst vor dem Zorn Adoros, falls er das Opfer nicht darbringt."

65. Alor Uno, 5. Mai 96

<134>

In der Buschbar, wo Thompson eine Zigarette kauft, deutet sich Ärger an. Der Besitzer – so belehrt mich Thompson – sei sehr gefährlich. Er hänge mit den area boys zusammen. (Vor drei Wochen hieß es noch, der Besitzer sei neutral.) Gerade gestern hatte man ein Treffen, bei dem Thompson Informationen über den Barbesitzer bekam. Bei dem Treffen war ein Lokalpolitiker anwesend. Es ging darum, wie man den Angriff auf seinen Bruder rächen kann. Man kam überein, eine Truppe von fünf Mann zusammenzustellen, um mehrere Leute der Gegenpartei zu attackieren. Die Einsatztruppe soll Gewehre mitbringen, aber sie soll die Zielpersonen nicht töten, sondern nur verletzen: ‘to hospitalise them’, so wie der Bruder des Politikers jetzt im Hospital ist.

Thompson soll sich bei der Vorbereitung des Einsatzes um den finanziellen Aspekt kümmern. Die boys wollen bezahlt werden. Zu diesem Zweck hatte er sich heute Nachmittag um 16 Uhr mit Brother Joe und Ejiofor verabredet. Ejiofor ist reich. Er hat sich gerade einen zusätzlichen Wagen gekauft, einen Land Rover. In Onitsha handelt er mit Autoreifen.

Ein Anschlag auf Onyeka, Ezes Bruder, war bereits erfolgreich. Vor mehr als zwei Wochen (ich war gerade nach Lagos gefahren) traf man Arrangements, ihn in Nsukka auf dem Busbahnhof anzugreifen. Ihm wurde ein Bein gebrochen. Onyeka weiß jedoch nicht, dass der Überfall von Thompson & Co. ausging, weil der Ort des Geschehens mit Bedacht nach Nsukka gelegt worden war.

All diese Arrangements machen Thompson arm. Für die Polizisten vom FIIB hatte man 20.000 Naira zu zahlen. Ejiofor gab ... Tausend Naira, Joe gab ... Tausend Naira. Außerdem hat man die Polizisten eine Woche lang im Hotel untergebracht und ihnen das Essen bezahlt: weitere 10.000 Naira, aber alles ohne greifbares Ergebnis. Thompson ist nun völlig abgebrannt. Er müsste morgen nach Enugu reisen, um Schulden einzutreiben. Aber er hat kein Geld für den Bus. Zu allem Überfluss gibt’s auch kein Essen für die Kinder mehr, denn seine Mutter hat das Haus verlassen und sämtliche Lebensmittel mitgenommen, selbst das Palmöl – aus Protest dagegen, dass der Sohn den Onkel beleidigt hat, als er ihm die Opferziege wegnahm. Thompson fragt mich, ob ich ihm 300 Naira leihen könne, rückzahlbar, wenn ich aus Lagos zurückkehre. Aber ich habe nun selbst kein Geld. Frühestens morgen bekomme ich mein April-Gehalt ausgezahlt.

Im Moment erwägt Thompson, seine beiden Söhne nach Enugu zu bringen, damit sie geistig mehr gefördert werden: TV schauen und Englisch sprechen. Seine Brüder raten ihm auch, eine Frau zu finden, die sich um die Kinder kümmert. Es sollte eine junge Frau sein, um die 20. Bei dieser Gelegenheit verrät er mir, dass die jungen Frauen in der Mission alle auf Männersuche sind. Aus diesem Grund seien sie überhaupt der Mission beigetreten. Es sei zwar nicht der einzige Grund, aber doch ein wichtiges Motiv. Joe habe seine Künftige auch in der Mission gefunden.

("Akzeptiert Ngozi die vorehelichen Abenteuer ihrer Anhänger?") – Nein. Sie spricht sich immer wieder dagegen aus, und sie weiß natürlich, was passiert. Die Jugendlichen der Mission haben häufig Affären miteinander. Dass sie bei ihrer Rückkehr aus Lagos jene Strafen verhängt hat (die Quälereien im Hof), geschah auch aus diesem Grund. Ein Mädchen der Mission ist sogar schwanger. Sie will abtreiben, aber Ngozi sprach sich dagegen aus. Thompson selbst zeigt sich nicht als Eiferer in Sachen Sexualmoral: Der Brautpreis für junge Leute ist hoch, bis zu 15.000 Naira, da kann man verstehen, dass viele sich nicht bis zur Ehe gedulden möchten.

Thompson kann nur mühsam den Anschein aufrechterhalten, ein Mann von Welt zu sein. Seine Weltläufigkeit, die guten Kontakte, seine vielen ‘Freunde’ an der Universität haben nicht verhindert, dass er fast verlumpt ist. Mit 50 Naira in der Tasche kann man nicht mehr selbstsicher auftreten. Würden wir zu zweit ein Bier trinken gehen, er könnte nicht mehr zahlen, er stünde gedemütigt da. Peinlich, dass sein jüngerer Bruder, nur weil er ein bisschen mehr Geld und Erfolg hat, ihm Vorhaltungen machen kann. Es fällt Thompson sicher schwer, noch in frisch gewaschenen Kleidern aufzutreten. Sein heutiger outfit wirkte schäbig: Dem Vorsitzenden der Lokalverwaltung [den wir gerade besuchten] muss es gezeigt haben, dass seinem Gast das Wasser bis zum Hals steht.

Thompson kam als Bittsteller. Er bettelt um einen Auftrag, damit er seine Schreibwaren an die Lokalverwaltung verkaufen kann. Er hoffte auf einen Auftrag über 50.000 Naira. Seinem ‘Freund’, dem chairman, gegenüber wirkte er befangen, fast schüchtern. Nicht eine Spur seiner vorlauten Art war geblieben. Unter den Dörflern der Mission mag er sich feiern lassen für seine (Wort)Gewandtheit. Beim chairman dagegen konnte er nicht imponieren. Er wirkte steif, hölzern. Seine Sprüche waren so schmierig und langweilig, dass der chairman Mühe hatte, höflich zu bleiben. Immer wieder wandte er sich ab, während Thompson sprach, und begann eine Konversation mit mir.

Der chairman eröffnete mir, dass er nicht nur Gouverneur werden will, sondern auch Präsident von Nigeria. Keine leichte Aufgabe – er weiß; aber er gibt sich zuversichtlich. Vom derzeitigen Militärgouverneur in Enugu muss er sich freilich einiges bieten lassen. Er war zusammen mit den anderen chairmen in den Regierungssitz geladen. Der Gouverneur hatte 180.000 Naira aus Abuja angewiesen erhalten, um damit die chairmen zu bezahlen. Doch statt Geld gab’s nur folgende Information: 100.000 Naira zieht der Gouverneur für sich ein. Die Versammelten mussten aber quittieren, den vollen Betrag erhalten zu haben. Selbst die restlichen 80.000 Naira hat er nicht ausgezahlt. Das Geld soll später kommen. Die chairmen sind dagegen machtlos. Keiner hat es gewagt, wegen dieser Affäre den Gouverneur in Abuja anzuschwärzen.

66. Onitsha, 8. Mai 96

<135>

Ngozi war nicht in Alor Uno aufgetaucht, und deshalb begleitet mich Amobi nach Awkuzu. Unterwegs Probleme mit dem Wagen. In Enugu bei der Mercedes-Fabrik stellt sich heraus: Motorschaden. Der dritte Zylinder läuft nicht. Bis Lagos – so heißt es – dürfte es keine Probleme geben. Aber es ist nun ein angespanntes Fahren.

Ngozi und ihre Gruppe befinden sich in dem Gehöft ihres früheren Mannes. Als wir mit dem Wagen einrollen, werden wir mit großem Jubel begrüßt. Zwei, drei Dutzend Weißgekleidete tummeln sich auf einem Sandplatz. Ngozi führt mich abseits in ein Yams-Feld, ihr Rückzugsgebiet. Sie berichtet von den Kämpfen der vergangenen Tage. Es herrsche Krieg. Für sie gehe es um Leben oder Tod, aber sie wolle nicht weichen, auch wenn sie das mit dem Leben bezahlen müsste. Ihr Ex-Mann weigert sich, den Brautpreis zurückzunehmen: 550 Naira, die bei ihrer Heirat bezahlt wurden.

("In den 80er Jahren?") – Nein, in den 90ern. Das Geld ging an ihre Angehörigen (den Hexenonkel?). Solange der frühere Ehemann das Geld nicht annimmt, ist Ngozi nicht frei; sie kann nicht wieder heiraten. – Victoria, die bei uns sitzt, nickt zur Bestätigung. – Dabei hat der Mann längst wieder eine Frau genommen. "Sie war bei der Heirat im neunten Monat schwanger – nicht von ihm! Ein paar Tage nach der Hochzeit brachte sie das Kind zur Welt. Der Mann hatte ihr Ngozis Kleider gezeigt und gesagt: Das alles gehört dir. Aber Ngozi hat all diese Kleider genommen, dazu die Schuhe und alles andere, was ihr gehörte, und hat es verbrannt. Auch das Haus, in dem der Mann wohnt, gehört Ngozi. Dazu das ganze Land. Nun zerstört sie alles, was auf ihrem Land steht."

Das eheliche Haus ist freilich noch bewohnbar. Ich kann keine Spuren der Zerstörung erkennen. Aber auf anderen Teilen des Geländes sieht man Trümmer. Der Mann hat das Haus längst verlassen und ist in das Haus seines Bruders geflüchtet, nicht weit weg im selben Ort. Er weigert sich, zurückzukehren und mit Ngozi zu verhandeln. Ngozi hat ihn überhaupt nicht zu Gesicht bekommen, denn er ist gleich davongerannt. Aber seine Leute aus dem Dorf haben sie angegriffen, geschlagen und ihr die Kleider heruntergerissen, bis sie nackt war. "Die Menschen in diesem Dorf sind sehr böse. Aber ich werde alles zerstören. Ich werde bleiben, bis er das Geld zurücknimmt." – Victoria stimmt ihr zu: "Wenn Ngozi jetzt geht, muss sie wieder ganz von vorne anfangen." "Ngozi hat schon drei Mal eine Delegation aus Alor Uno geschickt, um mit dem Mann zu verhandeln. Unter ihnen waren alte Männer mit grauen Haaren. Aber wie wurden sie behandelt?"

("Kann sie nicht den chief des Ortes einschalten?") – Ngozi deutet über die Mauer, jenseits des Yamsfeldes, auf einen postmodernen Marmorpalast, etwas düster, wuchtig, einschüchternd: "Das ist der chief!" (Zwecklos, bei so einem Kerl vorzusprechen.)

("Kann sie nicht mit dem Priester der Kirche sprechen, die der Mann besucht?") – Ngozi weiß von keiner Kirche, zu der ihr Ex-Mann gehört: "Er besucht dieses und jenes." (Gemeint ist wohl: seine vielen Geliebten) Die Leute in den umliegenden Gemeinden aber unterstützen Ngozi, denn was der Mann tut, ist böse. Sobald die Krise durchgestanden ist, will Ngozi nach Lagos kommen, nicht nach Alor Uno. Über das Landleben äußert sie sich mit wegwerfender Geste. In Lagos gefällt es ihr viel besser, mit Klimaanlage im Zimmer.

Ngozi bittet mich, von Onitsha aus gleich zurückzukehren. Ich möge den Abend mit ihr und der Mission verbringen. Nicht weit weg könne ich im Joneb-Hotel übernachten. Wir brechen auf; ich mache im Hotel halt. Die Rezeptionistin rät mir, nicht in der Dunkelheit nach Awkuzu zurückzukehren, sondern besser über Nacht in Onitsha zu bleiben.

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Auf der Suche nach Victorias Bruder haben wir gleich Erfolg. Ich springe ins Auto; es ist noch hell, etwa 18 Uhr 40, also Zeit genug, um noch Awkuzu zu erreichen. Gleich nach der Maut-Station am Stadtrand dann ein Raubüberfall. Vor mir wenden plötzlich mehrere Fahrzeuge, fahren mit Aufblendlicht auf mich zu. Wollen sie mich stoppen und ausrauben? Es stellt sich heraus, dass sie selbst auf der Flucht sind. Ich reiße das Steuer herum, wende auf dem Mittelstreifen und fahre zurück. Im Nigerian Heritage Hotel rät man mir, möglichst nicht mit meinem Wagen durch Onitsha zu fahren. Also mit dem Moped-Taxi zu Brother Joe. Er wohnt in Nkpor, in einem der vierstöckigen Betonblöcke. Im Treppenaufgang ist es duster, keine Glühbirne. Der Stromgenerator dröhnt zwischen den Betonmauern. Als sich die Wohnungstür öffnet, eine gespenstische Szene: In dem düsteren Wohnzimmer die Schemen von fünf oder sechs nackten Männern. Nur Tücher um die Hüften gewickelt, die massigen Körper verschwitzt. Brother Joe tritt aus dem Hintergrund hervor, begrüßt mich überschwänglich. Bei seiner letzten Tour nach Alor Uno ist er ebenfalls fast unter die Räuber geraten. Kurz hinter Awkuzu hatten sie nachmittags zwischen 3 und 4 eine Straßensperre errichtet.

Es bleibt leider nicht viel Zeit zum Plaudern. Der Taxi-Fahrer wartet unten. Ich schicke ihn weg und mache mich zu Fuß auf die Suche nach Chuka. Joe hatte ihn noch morgens an einer Tankstelle gesehen, nur weiß er nicht, wo Chuka wohnt. Mit Joes Bruder bin ich fast eine Stunde in den Gassen von Onitsha unterwegs, bis ich vor Chuka stehe. Er wohnt bei seiner Mutter, die wiederum mit einem älteren Mann zusammenzuleben scheint. Im Wohnzimmer läuft ein Schwarz/Weiss-Fernseher – bis der Strom ausfällt und eine Kerosinlampe geholt wird. Chuka lässt für mich und Ike Coca Colas holen. Als ich von Ngozi erzähle, zeigt er sich nur mäßig interessiert. Er wusste nicht, dass sie seit zwei Wochen in Awkuzu ist. Dass sie sich in eine Fehde mit dem Ehemann verstrickt hat, missfällt ihm: Es wäre besser, sie würde die Leute in Awkuzu meiden, denn das bringt nur Ärger: "Unsere Leute in Alor Uno sind schlecht. Aber wenn sie nur ein wenig schlecht sind (er zeigt auf seine Fingerspitze), dann sind die Awkuzu-Leute richtig schlecht (er deutet auf den ganzen Arm)." Chuka will mir die Adresse seiner Kirche geben. Falls ich ihm nach Onitsha schreiben wolle, könnte ich das über den Priester tun. Aber ich winke ab: Es ist zwecklos, Briefe mit NIPOST [der staatlichen Post] zu verschicken.

Auf der Fahrt von Awkuzu nach Onitsha gab mir Victoria noch ein paar Informationen, damit ich den Konflikt zwischen Ngozi und ihrem Mann besser verstehe. Der Mann hat schlicht Angst, das Brautgeld zurückzunehmen. Denn falls er es tut, nimmt Adoro an seiner Familie Rache. Er oder seine Angehörigen könnten sterben.

67. Awkuzu, 9. Mai 96

<137>

Trotz Benzinmangel noch einmal zurück nach Awkuzu. Ngozi zeigt ihr Missvergnügen darüber, dass ich gestern Abend nicht mehr aufgetaucht bin. Sie befindet sich nicht unter ihren Anhängern, sondern hat sich auf die Felder zurückgezogen. Sie mag keinen Lärm, und deshalb geht sie ins Freie.

Einige hundert Meter von ihrem Grundstück entfernt ist sie freilich nicht allein. Vier oder fünf Personen sind um sie herum. Sie geht mit mir voran durch die Felder; die anderen folgen so, dass sie uns nicht verstehen können. Nachdem wir die Schnellstraße überquert haben, kommen wir in ruhigeres Terrain. An einem Teich macht Ngozi halt. Das Wasser ist klar, von hohen Bäumen umstanden. Aber es ist nicht naturbelassen, vielmehr ist am gegenüberliegenden Ufer eine Art Bambuszaun in den Sandboden gerammt. Dahinter gleich üppige Vegetation. In dem seichten Wasser sind kleine Fische zu sehen.

Ngozi erklärt mir, dass es sich um eine heilige Stelle für die Heiden handele. Sie schreitet langsam ins Wasser, legt sich dann vorsichtig rücklings hinein, bis selbst ihr Kopf kurz mit Wasser bedeckt ist, taucht wieder auf. Der nasse Unterrock, den sie sich bis über die Brüste gezogen hat, klebt am Körper. Den weiten weißen Umhang, der ihr bis zu den Knien reicht, hatte sie zuvor ausgezogen. Die anderen stapfen ebenfalls vorsichtig ins Wasser. Keiner nimmt freilich ein ganzes Bad. Ich bleibe am Ufer stehen, suche etwas Schatten und entdecke dadurch zwei Limonade-Flaschen, die in eine Schüssel gelegt, halb im Wasser liegen. Ich zeige den anderen die Flaschen. Sie geben mir jedoch keine Erklärung dazu.

Ngozi hält, wieder am Ufer stehend, eine Rede oder Predigt: Gott habe diesen Platz mit Wasser geschaffen, und das Wasser mit den Fischen darin sei gut. Erst die Menschen, die Götzendiener, hätten daraus eine Stätte des Bösen gemacht. Aber die Kraft der Geister sei nun gebrochen: "In Jesus’ name!" – "Amen". Und die Kraft der Geister wird gebrochen bleiben: "In Jesus’ name!" – "Amen".

Ohne dass Ngozi Anweisungen gäbe, betritt ein junger Mann der Mission das Wasser, füllt einen blauen 25-Liter Kanister. Eine Frau in Weiß stapft ebenfalls hinein, füllt einen Metalleimer mit Wasser. Beide machen sich dann wortlos davon. Während wir uns entfernen, gibt mir Ngozi Erklärungen: Es sei tabu, in dem Teich zu baden. Aber sie habe es getan. Und was passiere? Nichts stoße ihr zu. Andere Personen, die das Tabu brachen, seien wahnsinnig geworden. Verboten sei außerdem, das Wasser mit Sandalen oder Plastikschlappen zu betreten. Und eben das hätten ihre Anhänger getan. Sie hätten sich sogar die Füße darin gewaschen. Tabu ist ebenfalls, das Wasser zum Kleiderwaschen zu benutzen. Aber ihre Begleiter seien mit Eimer und Kanister in den Busch gegangen und würden die weißen Gewänder der Mission waschen.

Nicht einmal hundert Meter vom Teich entfernt laufen wir an zwei Männern vorbei, die in einem Yamsfeld arbeiten. Ich frage Ngozi, ob sie die Leute kennt. – Nein. Aber sie spricht die beiden an. Es folgt ein kurzer Wortwechsel. Sicher bemerken die beiden, dass Ngozis Kleider noch nass sind. Wahrscheinlich haben sie auch unsere Begleiter mit den Wasserbehältern gesehen. Der Zauber des Weihers sei nun zerstört.

("Ist der Geist dort ein Mami Wata Spirit?") – Ngozi sagt weder ja noch nein. Sie versichert vielmehr, es sei der Geist, den die Leute in Ukpomachi [dem Dorf bei Awkuzu] anbeten: "Sie werden weinen, wenn sie erfahren, was ich getan habe." Einer der Begleiter sagt mir, der Teich sei ein Schrein so wie der Adoro-Schrein. Ngozi hatte sogar, am Wasser predigend, einen Fluch gegen die Götzendiener ausgesprochen: Wer an dieses Wasser gehe und zum Geist bete, um dieses oder jenes zu erreichen, soll krank werden. Und wenn er Probleme hat, sollen diese noch Probleme schlimmer werden. (Die Entweihung des Schreins ist also Teil ihres Rachefeldzugs. Sie setzt den Ehemann indirekt unter Druck, indem sie die ganze Gemeinde gegen ihn aufbringt. Aber von dieser Strategie erwähnt sie kein Wort.)

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Zurück im Gehöft ihres Mannes folge ich Ngozi bis ans hintere Ende, an die Mauer. Dort sind Steine aufgeschichtet, so dass sie eine Art Klause bilden. Ich setze mich neben Ngozi. Sie lässt Tee kommen, dazu Milchpulver und Zucker. Wann immer sie jemanden zu sprechen wünscht, ruft sie laut den Namen über den Platz. Die Gerufenen kommen auf der Stelle, manche knien auf der Schwelle, über die man die Klause betritt, nieder. Nach dem Tee folgen gebratene Yamsstücke in rotem, scharfen Öl, dann bitter leaf soup mit Cassava.

Mir wird genauer erklärt, was ich gestern nicht recht verstanden habe: Jene Szene, als Ngozi attackiert und entkleidet wurde hat sich vor vier, fünf Monaten zugetragen. Sie war damals nur in Begleitung einer jungen Frau aus Alor Uno. Damit sich eine solche Szene nicht wiederholt, ist Ngozi diesmal mit 41 Brüdern und Schwestern angetreten.

Die 150.000 Naira, die sie in dieses Gelände investierte, kamen durch Spenden zusammen, die ihr Gläubige zu den Gebeten gebracht hatten. Mit all den Steinen, die seit mehr als zwei Jahren hier aufgeschichtet liegen, wollte sie ihre Mission aufbauen. Doch dann gab es den Konflikt mit ihrem Mann.

("Warum hat sie einen so schlechten Menschen geheiratet?") – Sie wusste damals nicht, wie schlecht er ist.

(Der Ex-Mann ist sicher zu verschreckt, um das Brautgeld zu akzeptieren. Er hat Angst zu sterben. Deshalb wird ihn die Verwüstung, die Ngozi anrichtet, nicht umstimmen können.) – Aber Ngozi meint drohend-trotzig. "Ich habe noch gar nicht richtig mit der Zerstörung angefangen." Sie lamentiert, wie bösartig die Menschen sind. Nigeria sei das schlimmste Land auf Erden. Sie will weit weg, zu mir nach Deutschland. In Nigeria könne sie bestimmt nicht zur Ruhe kommen, keinen Frieden finden. Schon gestern hatte sie verbittert erzählt, dass die Leute in Ukpomachi sie damals ‘Sklavin’ genannt haben. (Meinten sie Osu?)

Wir besprechen meine Reise nach Deutschland. Was kann ich ihr mitbringen? Ngozi bringt das Gespräch auf eine Videokamera. Wann immer sie einen Kameramann mit Videokamera engagiert, kostet es 2000 Naira pro Tag. Sie will lieber selbst filmen. – Ich erkläre, dass eine Kamera zu teuer ist, und sie insistiert nicht weiter. Später schlägt sie einen Walkman mit Aufnahmetaste vor. Ich akzeptiere. Später, bevor ich aufbreche, verkündet Ngozi ihren Leuten, dass ich ihr einen Walkman bringen werde und dass ich für meine Abschiedsfeier in Alor Uno eine Kuh schlachten werde. (verhaltener Applaus) Außerdem möchte Ngozi für drei Tage in meinem Haus wohnen, dabei noch einen Videofilm schauen. Ich sage zu: Ende Juni.

68. Alor Uno, 12. Juni 96

<139>

Vier Wochen in Deutschland, am 7. Juni zurück in Lagos, und drei Tage später gleich in einen Raubüberfall verwickelt, der dritte innerhalb eines halben Jahres. Froh, wieder in Nsukka zu sein, unter den Igbo. Aber wieder kein Strom, wie schon bei der letzten Rückkehr aus Lagos.

Ngozi ist noch nicht aus Awkuzu zurückgekehrt. Seit fast zwei Monaten verfolgt sie dort ihren Ehemann. Übermorgen werde ich sie wohl besuchen.

69. Awkuzu,14. Juni 96

<140>

Ngozi lebt nicht mehr in dem ehelichen Gehöft in Ukpomachi, sondern etwa einen Kilometer entfernt in einem anderen Dorf. Sie wurde Ende Mai von den Bewohnern des anderen Hauses vertrieben, dabei hat man sie und ihre Anhänger angegriffen: "Sie haben mich geschlagen wie eine Ziege." Leider seien ihre Begleiter vorwiegend ‘Mädchen’, die nicht kämpfen können. Unter dem linken Arm hatte sie eine Verletzung, die aber schon gut verheilt ist. Ihre Anhänger hatten ihr zwei Kapseln mit Schmerzmitteln gekauft; die Arznei liegt neben ihrem Bett, aber sie mochte das Medikament nicht nehmen.

Sie lebt allerdings 300 bis 400 Meter getrennt von ihren Anhängern. Als wir vor das Haus treten, in dem Ngozi beherbergt wird, bin ich überrascht: Es ist eine Villa mit protzigem Metalltor. Ngozi erzählt später, sie sei hierher gezogen, weil es ihr unter den vielen Anhängern und Klienten zu laut war. Zunächst wohnte sie in der Villa selbst, aber auch dort war es ihr zu unruhig. Deshalb residiert sie jetzt in dem Wachhäuschen gleich neben dem Eingangstor. Der erste Raum des Häuschens ist so geräumig, dass eine breite Matratze hineinpasst. Abgesehen von der Matratze findet sich dort aber kein Mobiliar. Die Behausung ist ganz leer; an den kahlen, frisch verputzten Wänden gibt’s nicht einmal ein Bild oder Foto. Auch persönliche Habseligkeiten sind nicht zu sehen. Keine Decke, kein Kissen oder Bettlaken. Nur einige 20-Naira-Scheine liegen neben der Matratze. Das Nebenzimmer ist mehr eine Besenkammer. Etwas Geschirr und ein Kerosinkocher stehen auf dem Boden.

Nachdem sie mich draußen im Hof begrüßt hat, fragt sie ziemlich bald, ganz unverblümt, nach dem Geschenk für sie. Ich erkläre, dass ich den Walkman für sie besorgt habe. Aber ich führe ihn nicht bei mir, bewahre ihn vielmehr in meinem Haus auf. Ngozi bespricht sich ausgiebig mit Amobi und Chijioke. Es geht um Geld, um Gerichtstermine und um area boys. Nachdem das Geschäftliche besprochen ist, ruft sie ihre Dienerin. Es ist diesmal Patty (Patricia). Sie soll Geld holen. Patty kommt mit einem Bündel 20-Naira-Scheinen aus dem Wachhäuschen, und Ngozi steckt ihren Brüdern einige Scheine in die Hand.

Danach soll ich sie auf einem Spaziergang begleiten. Ngozi, ich und der Verwalter der Villa flanieren die Hauptstrasse auf und ab, ohne Ziel, ohne Hast. Mir scheint, Ngozi möchte den Weißen in ihrem Gefolge der Welt vorführen. Der Verwalter zeigt mir einen Videoshop, der mir acht Tapes von Ngozi überspielen kann. Allerdings müssen die Bänder zum Überspielen nach Onitsha gebracht werden, in eine Filiale des Videoshops, denn in Awkuzu gibt’s keinen Strom. In der Dämmerung versinkt die Stadt in Dunkelheit; nur einige Kerosinfunzeln erleuchten die Geschäfte entlang der Hauptstrasse.

Ich parke den Wagen auf dem Hof, wo Ngozi wohnt, denn ich soll über Nacht in der Villa bleiben. Ngozi gibt noch Anweisung an Patty, für mich Spaghetti zu kochen. Den Rest des Abends und die Nacht über kümmert sie sich nicht weiter um ihre Anhänger. Es gibt kein Abendgebet, kein gemeinsames Mahl. Stattdessen flanieren wir nochmals die Hauptstraße entlang. Viele Menschen kennen Ngozi und grüßen sie ehrerbietig. Von ferne hören wir Musik. Sie ist Teil eines Christian Crusade gleich neben der Hauptstraße auf einem Rasenplatz. Die Holy Ghost Action Band und zwei Prediger mit Mikrophonen. Ein Generator sorgt für Neonlicht und gute Akustik. Ein professionelles Arrangement: die Musiker, samt Instrumenten, unter einer Plane (für den Fall, dass Regen fällt), die beiden Prediger auf einem schmalen Podest. Der eine spricht Englisch, der andere übersetzt Satz für Satz ins Igbo. Wir stehen noch nicht lange, da steckt uns bereits ein junger Mann ein Faltblatt zu: "Die 12 sichersten Wege, in die Hölle zu kommen." Gedruckt ist das Pamphlet in Alberta, Kanada.

Ich frage den Hausverwalter, woher der Prediger stammt, ob er Amerikaner sei? – Nein. Er ist Igbo, so wie der Dolmetscher. Beide kommen sogar aus Awkuzu und arbeiten für die Disciples of Christ Church. Das Kirchengelände ist nur ein paar Meter entfernt. Ich bin verblüfft. Wozu die komplizierte Prozedur, in zwei Sprachen zu predigen? Es sind ohnehin kaum mehr als 100 Zuschauer versammelt; die Hälfte von ihnen Kinder. Äußerst unwahrscheinlich, dass außer mir noch jemand kein Igbo versteht.

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Für die ärmlich gekleideten Zuschauer wirkt die Veranstaltung übertrieben aufwendig: die große Band, die Lautsprecheranlage, die schicke Kleidung der Prediger (weißes Hemd und Krawatte). Beide imitieren bis in die Gestik hinein die amerikanischen Fernsehprediger. Ngozi wiederum mag einiges von diesen Igbo-Kollegen imitieren. Jedenfalls mustert sie ein wenig amüsiert, was ihre Konkurrenten zu bieten haben. Das Arrangement, der Show-Charakter der Botschaft ist sicher von professionellem Interesse. Ngozi wirkt distanziert, schaut beinahe spöttisch. Sie betrachtet mich genau, um meine Reaktionen auf die Gospel-Show zu lesen – und lacht, als sie bei mir nicht viel Begeisterung spüren kann. Sie fragt nach, ob es mir gefällt oder ob wir besser gehen sollen. Mir gefällt eigentlich nur die Musik, nicht die langweiligen Predigten.

Zwischendurch werden andere ‘Männer Gottes’ vorgestellt, die im Hintergrund die Ehrensitze eingenommen haben: als erstes der Gründer der Kirche, dann noch vier Prediger, unter ihnen ein Kollege von der Grace of God Church, offenbar eine befreundete Kirche. Der Verwalter erklärt, dass die Grace of God und Assemblies of God ebenfalls crusades auf dem Rasenplatz veranstalten. Jener Mann auf dem Ehrenplatz, der als erster vorgestellt wurde, sei der Besitzer der Kirche.

Zum Abendessen sind Ngozi und ich allein, ungestört in ihrer Kammer. Wir essen dasselbe: Spaghetti mit Trockenfisch, dazu Tee, frisch zubereitet in einer Thermoskanne, denn "white people like it hot". Wir sitzen oder liegen bis nach Mitternacht auf der Matratze, und die Initiative, von sich zu erzählen, geht von Ngozi aus. Ich muss gar nicht viel fragen. Ihr Ehemann hat den Brautpreis immer noch nicht zurückgenommen. Aber Ngozi ist zuversichtlich, das Problem zu lösen, denn sie hat jetzt einen Anwalt eingeschaltet, damit ein Gericht die förmliche Scheidung herbeiführt. Im Mai hat sie den Mann auch persönlich gesehen. Ngozi wollte wissen, warum er sie nicht in Frieden ziehen lasse. Der Wunsch des Mannes, sie solle zurückkehren, erscheint ihr abwegig: "Ich als Prophetin! Was soll ich den Menschen predigen? Dass Christen mehrere Frauen heiraten sollen?" Sie wolle nicht mit den Menschen streiten. Aber sie habe all die Hohlblocksteine in dem Gehöft ihres Mannes zerstört, denn sie konnte nicht akzeptieren, dass der Mann einfach behauptete, sie gehörten ihm. Es ging ihr nicht um den Besitz, vielmehr sah sie sich genötigt zu zeigen, dass Gott mit ihr ist, dass Gott durch sie wirkt, dass Gott auf ihrer Seite ist, wie damals bei den Israeliten.

Als sie mit ihrem Mann in Kano lebte, besuchte sie manchmal Gottesdienste der Deeper Life Bible Church. Gelegentlich ging auch ihr Mann zu Deeper Life. Auch in der Bibel hat sie gelesen. Trotzdem bezeichnet sich Ngozi im Rückblick auf diese Zeit als ‘Götzenanbeterin’. Christin wurde sie erst 1994, durch ein Erweckungserlebnis. Sie war in ihrem Haus in Awkuzu, beim Yamskochen, als eine Stimme sie rief: "Ngozi! Ngozi!" Sie ging aus dem Haus, schaute gen Himmel und hatte eine Vision. Sie sah Musikinstrumente, die sie nie zuvor gesehen hatte, ähnlich wie Trompeten. Und sie sah ein Pferd, mit Jesus darauf sitzend. Sie wusste zunächst nicht, wer sie gerufen hatte. Sie war nur überwältigt von der Vision. Die Yams, die sie kochte, hat sie nie gegessen. Sie hat überhaupt nichts mehr gegessen und getrunken. Sie war außer sich, konnte nicht normal sein für 21 Tage. Damals wurde sie sogar in Ketten gelegt.

Ngozi schildert nun ausführlich die Zerstörung des Schreins. Es gibt zwei Götter namens Adoro. In dem zweiten Gebäude lebte eine Schlange. Sie war sehr groß, schwarz. Die Frauen, die dem Schrein gewidmet waren, nahmen die Schlange und schmückten sie, malten ihr Farbe auf den Mund. Die Schlange wurde auch gebadet.

("Wieder von den Frauen?") – Nein, vom Hauptpriester. Und sie wurde gefüttert. Die Schlange verließ auch das Gebäude und ging zu den Häusern der Dorfbewohner. Niemand wagte es, sie zu verscheuchen. Die Schlange wurde verwöhnt. Sie erhielt Essen, und man bat sie zu gehen.

("War die Schlange Adoro?") – Nein, aber sie arbeitete für Adoro. Deshalb ging sie zu den Häusern. Sie wurde dahin geschickt.

("War sie giftig?") – Ja. Sie hat sogar Leute getötet. Als Ngozi den Schrein zerstörte, tötete sie auch die Schlange. Ihre Leute gingen zuerst in das falsche Gebäude. Dort wurden sie von Bienen angegriffen und vertrieben. Sie kamen in das zweite Gebäude. Darin befindet sich ein Lehmpott mit einem Deckel. Die Schlange schläft darin. Man öffnet den Deckel, wenn die Schlange davon will. Ngozi setzte sich auf den Deckel und betete zu Gott, etwa fünf Minuten. Dann stand sie auf. Ihre Anhänger öffneten das Gefäß und töteten die Schlange mit einem Messer. Zunächst hatten sie Angst und wollten zurückweichen. Doch Ngozi befahl ihnen, das Werk zu vollenden.

("Wie hat sie gewusst, wie sie die Schlange töten muss?") – Gott hat es ihr gesagt.

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Ngozi erzählt, dass sie schon seit Monaten nicht mehr in Kano war. Aber sie hat für ihre Gemeinde dort einen fähigen Vertreter eingesetzt. Es sei schade, dass ich die Kirche in Kano nicht mehr zu sehen bekomme, denn man habe eine neue Kirche gebaut. Auch jener Prophetenkollege aus Bendel sei mittlerweile nicht mehr in Bompai Rock tätig. Er habe eine Kirche in der Stadt.

("Hat er viele Anhänger?")

Er hat vor allem unverheiratete Mädchen um sich, denn er ist selbst nicht verheiratet.

("Aber er ist nicht mehr jung.")

Er dürfte Ende 40 oder Anfang 50 sein. Ngozi kichert, dass die Mädels ihn trotzdem heiraten wollen.

Ngozi möchte nach Deutschland und jemanden von dort heiraten. Ich soll ihr einen Mann finden. Gleich bei der Begrüßung versicherte sie, dass ich erholt aussehe: "fresh like an egg". Nur einige Wochen weg aus Nigeria, und es gehe mir gleich besser. Ich liege mit dem Rücken zur Wand gelehnt, den Kopf auf die linke Hand gestützt. Sie sagt, ich solle mich schlafen legen. Ich versichere, dass ich bequem liege. Aber sie will, dass ich mich richtig zur Ruhe begebe, den Kopf nicht länger auf die Hand gestützt. So könne man nicht einschlafen. Ich solle mich neben sie legen und bis zum Morgengrauen bei ihr schlafen. "Feel free. When I was at your house, you also felt free." Sie schläft rasch ein, schnarcht leise, wacht wieder auf. Zwischendurch ein verschrobener Ritus, fast neurotisch: Sie legt einen Löffel auf die Matratze, parallel dazu einen Kugelschreiber. An das eine Ende von beiden eine Zwiebel. Dann sucht sie aus einem Haufen von Erdnussschalen zwei Hälften mit Bedacht aus, so als sei es höchst bedeutsam, welche Schalen sie ergreift, und legt sie neben die Zwiebel. "It shows you that we are one."

Mir erscheint es nicht sinnvoll, allzu lange in Ngozis Kammer zu bleiben, auch wenn ich mich ganz gerne dort schlafen gelegt hätte. Ihre Anhänger hätten sich ihre eigenen Gedanken gemacht. Ngozi wirkt irritiert, ratlos, nachdem ich mich nicht füge. Schließlich sagt sie: "Lass uns beten. Ich sehe dich nie beten." Ich erkläre ihr, dass ich auf Deutsch bete und murmele dann ein 'Vater Unser'. Dabei geht mir durch den Kopf, dass es eine lange Betübung werden könnte. Doch nach dem Gebet, als ich verstumme, insistiert sie nicht weiter.

Gleich darauf bitte ich sie, mir mein Zimmer im Haus zu zeigen. Mit einer Kerze in der Hand gehen wir ins Haus. Mir wird ein komfortables Schlafzimmer angewiesen. Der Hausverwalter bezieht das Bett, gibt mir ein Tuch zum Zudecken. Währenddessen legt sich Ngozi neben das Bett auf den Fußboden. Was der Verwalter darüber denken mag? Nach dem Zähneputzen sage ich zu Ngozi, dass ich nun schlafen möchte. Sie nimmt es als Aufforderung zu gehen und erhebt sich vom Boden.

Noch tief in der Nacht pocht der Verwalter gegen meine Tür. Ngozi lässt mich rufen. Draußen auf dem Hof brennt Licht, der Generator dröhnt. Tausende von Termiten umschwirren das Licht, sammeln sich an der Hauswand, krabbeln und flattern über den Boden. Wir sammeln zwei Eimer voll ein. Dann darf ich mich wieder schlafen legen.

70. Awkuzu, 15. Juni 96

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Zum Frühstück bin ich wieder in Ngozis Häuschen geladen. Alle sind längst wach. Ngozi sagt, sie schlafe nicht viel. Es gibt wieder Tee, dazu trockenes Brot. Ob ich sie bei der Arbeit begleiten möchte? Ich folge ihr, ohne zu wissen, was mich erwartet. Als Erstes geht’s zu ihren Anhängern. Von dem Haus an der Straße erschallen bereits Trommeln und ein wenig Gesang. Ngozi, auf dem Hof eingetroffen, bespricht sich nicht lange mit den Anwesenden, sondern beginnt gleich eine Performance. Mich erinnert ihre Show an Joseph Beuys, nur ist sie längst nicht so gut. Sie kritzelt Zeichen in den Sand, läuft hin und her, bewegt sich rückwärts, geht mit entschlossenen Schritten Richtung Feuerstelle, wo gerade die Termiten zubereitet werden, kramt in dem Unrat, zerrt ein Eisengestänge hervor, trägt es mitten auf den Hof, holt weitere Stücke Holz, dann wieder ein ähnliches Eisenteil, gruppiert die Gegenstände zu einer Art Kunstwerk.

Wenn ich’s recht sehe, gibt sie niemandem eine Erklärung, was das Arrangement zu bedeuten hat. Es ist nicht Symbol für etwas, sondern einfach nur fremd, rätselhaft. Trotzdem, oder gerade deswegen, schauen ihre Anhänger interessiert zu. Aus der Nachbarschaft haben sich Dutzende von Kindern eingefunden, die ebenfalls beeindruckt zuschauen. Ngozi kritzelt Zeichen in den Sand, gleich neben jene Objekte, die sie in der Mitte des Hofes zusammenträgt und wie zu einem Muster gruppiert. Von der Kochstelle entwendet sie eine Plastiktüte Salz, streut einiges davon in Form von Linien auf den Boden. Einem ihrer Anhänger lässt sie Salz aufs Haupt rieseln. Ein anderer erhält einige Schläge. Zwischendrin wieder tanzende Schritte, aber keine Ekstase. Zuweilen hält sie in ihren Bewegungen ein, erstarrt in einer Pose: Hand und Zeigefinger ausgestreckt. Auf mich wirkt das Eine-Frau-Theater ziemlich abgeschmackt, fast peinlich. Religiöses mischt sich nicht ein, auch keine Predigt.

Unvermittelt bricht sie die Show ab, wendet sich zum Gehen. Mir ist nicht recht klar, dass sie mit ihrer Vorführung bereits am Ende ist. Deshalb muss sie mir zuwinken, mich zu erheben und ihr zu folgen. Es geht etwa zwei Kilometer weit an Häusern und Hütten vorbei, bis wir vor einem bescheidenen Anwesen Halt machen. Zwei Frauen begrüßen Ngozi. Sie legt ihren weißen Umhang ab, steht in Unterrock und BH da. Sie winkt mich und den Hausverwalter in ein enges Zimmerchen. Auf der Matratze am Boden liegt eine alte Frau. Die Matratze ist mit einem festen Plastikbelag abgedeckt, damit der Schaumstoff nicht durch Exkremente besudelt wird. Die Frau hatte einen Schlaganfall. Ngozi bemüht sich um die Heilung. Mit einem Besen fegt sie irgendetwas Unsichtbares von dem siechen Körper weg. Es ist die einzige Handlung, die für mich Sinn macht, weil sie sinnfällig vor Augen führt, was ihr Ritual bezweckt: etwas Böses, Krankmachendes zu entfernen. Alles, was mir sonst geboten wird, erscheint mir wenig überzeugend, beinahe konfus. Ngozi folgt offenbar keinem erprobten Ritual, sondern lässt sich von Einfällen leiten. Zuweilen sieht sie sich suchend im Zimmer um, bis ihr irgendein Gegenstand ins Auge fällt, den sie in ihr Ritual einbauen kann.

Am Abend des nächsten Tages frage ich sie, wo sie gelernt hat, wie sie die alte Frau zu behandeln hat.

("Wer hat es ihr gezeigt?")

"Niemand. Gott hat es mir gesagt."

("Wenn sie mit der Heilung beginnt, weiß sie also noch nicht, was sie tun wird?")

Genau. Sie folgt ihrer Inspiration, lässt sich nur von Gott leiten.

Die alte Frau muss notgedrungen alles über sich ergehen lassen. Als Ngozi Anweisung gibt, sie von der Seite flach auf den Rücken zu drehen, stöhnt die Alte. Ihre neue Position ist alles andere als bequem. Ngozi setzt sich zum Beten auf den Bauch der Alten, den Rücken dem Gesicht der Patientin zugewandt. Später gibt sie einer der beiden Frauen Anweisung, die Alte etwas aufzurichten. Aus einer Plastiktasse wird ihr Brei in den Mund gelöffelt. Wieder kommt die Nummer mit dem Salz: Ngozi breitet ihr weißes Gewand auf den Boden aus und streut auf das untere Ende Salz. Später kratzt sie eine Prise Salz davon auf, um es in eine Tasse Wasser zu streuen. Bevor sie das Wasser der Kranken reichen lässt, blickt sie sich suchend im Zimmer um. Ihr Blick fällt auf ein Fläschchen mit Olivenöl. Sie mischt einige Tropfen davon ins Wasser, lässt die Flüssigkeit dann der Patientin einflößen.

71. Awkuzu / Nsukka, 16. Juni 96

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Aus Osinna zurück, will ich rasch aufbrechen: "Wait short time." Doch Victoria und ich warten stundenlang, bis Ngozi zum Aufbruch bereit ist. Ich bin genervt; denn ich mag nicht in der Dunkelheit fahren. Der letzte Raubüberfall liegt gerade eine Woche zurück. Ganz unvermutet lässt sie mich rufen: Was sie mir zum Essen kochen soll? Ich sage, dass wir besser jetzt aufbrechen, ohne zu essen. Sie nickt, will nur noch schnell ein Bad nehmen. Eine Stunde später steht Essen auf dem Tisch, für mich und Victoria. Ich rühre nichts davon an, bin kurz davor, Ngozi anzukündigen, dass ich in zehn Minuten aufbreche, ob mit oder ohne sie. Vermutlich spürt sie, dass sie es zu weit getrieben hat. Jedenfalls geht plötzlich alles sehr schnell. Wir sitzen im Wagen, ziehen los.

Zu Hause ist alles in Finsternis getaucht. Kein Strom, kein Video-Schauen. Wir sitzen bei Kerzenschein im Zimmer, ich räume meine Papiere auf. Ngozi drängt mich, ihr endlich das versprochen Geschenk zu präsentieren: den Walkman mit Mikrophon. Wir machen eine Probeaufnahme. Sie zeigt sich höchlich zufrieden.

72. Nsukka, 17. Juni 96

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Nachdem ich zum Frühstück Essen für sie bereitet habe und ihr den Teller reiche, sagt Ngozi, sie möchte mich heiraten und mit mir nach Deutschland gehen. Ich erkläre, dass ich überhaupt nicht heiraten, sondern Junggeselle bleiben möchte. – Dann soll ich ihr einen anderen Mann aus Deutschland besorgen.

Offenbar traut sie sich nicht recht, mir Kommandos zu geben, denn erst im Nachhinein stellt sich heraus, dass sie morgens um 9 Uhr den Prozess ihrer Mitbrüder besuchen wollte. Für den heutigen Montag sind gleich drei Gerichtstermine angesetzt. Ich hatte geplant, um 12 Uhr beim Magistrate’s Court zu sein. Deshalb lasse ich mir Zeit, bereite das Frühstück, räume die Wohnung auf. Ngozi sitzt am Esstisch und schaut mir zu. Erst um halb 11 erwähnt sie, dass sie gerne zu dem früheren Gerichtstermin gehen wolle: Wie viel Uhr es sei?

Wir brechen gleich auf, und es stellt sich heraus, dass der Gerichtstermin um 9 Uhr geplatzt ist. Fabian, Albert, Amobi und sechs, sieben andere kauern geduldig im Gras und warten auf die nächste Verhandlung. Aber der Richter ist noch nicht erschienen, und so kommt die gesamte Gerichtsmaschinerie ins Stocken. Dutzende von Menschen warten. Unter ihnen eine Handvoll Anwälte in ihren schäbigen schwarzen Kitteln. Auch der Anwalt der Mission ist zu sehen, im Gespräch mit anderen Mandanten. Amobi spricht ihm sein Vertrauen aus: "Er ist ein sehr guter Christ."

("Welche Kirche?") – "Römisch-katholisch."

Ich fahre zum Campus. Es ist vereinbart, dass Ngozi, falls der Gerichtstermin abgesagt wird, nicht nach Alor Uno fährt, sondern vor dem Gerichtsgebäude auf mich wartet. Als ich wiederkomme, sitzen alle weiterhin auf demselben Fleck. Aber in der Zwischenzeit ist der Richter eingetroffen. Es beginnt jedoch zunächst ein anderes Verfahren. Niemand weiß, ob heute noch in der Sache Alor Uno verhandelt wird. Die Brüder und Schwestern in ihren weißen Gewändern kauern sich zusammen wie eine Herde Schafe. Statt den Beteiligten mitzuteilen, wann gegen sie verhandelt wird, oder statt ihnen gleich einen neuen Termin zu geben, lässt der Richter sie stundenlang warten. Er selbst kam mit fast vier Stunden Verspätung.

Ich lade Ngozi zum Mittagessen ins Restaurant. Ihre Anhänger bleiben zurück und warten weiter auf den Richter. Bei unserer Rückkehr zum Gericht hat sich immer noch nichts getan. Unterwegs begegnen wir einem Bekannten, dem Chef der KfZ-Zulassungsstelle. Ich biete ihm an, ihn ins Büro zu fahren. Mit Blick auf Ngozi fragt er, ob das meine Frau sei, ob meine Frau Muslimin sei und aus dem Norden stamme. Ngozi sieht in der Tat fremdartig aus, mit einem weißen Tuch, das sie sich um den Kopf geschlungen hat, dazu jenes silbrig glitzernde Beduinentuch, das ich 1990 im Yemen gekauft habe. Sie mag das Tuch sehr.

Ansonsten bringt der Tag viel Ärger. NEPA [die staatliche Elektrizitätsgesellschaft] hat den Strom abgeschaltet, obwohl ich alle Rechnungen bezahlt hatte. Ich bin in Rage, verkünde der NEPA-Bande, dass der gütige Gott dieses ganze nichtsnutzige Nigeria vom Angesicht der Erde vertilgen werde, wie einst Sodom und Gomorrha. Auch mein Nachbar, Reverend Father Akwanya, dem ebenfalls der Strom abgedreht wurde, hält ihnen eine Predigt. Abends kommt tatsächlich ein NEPA-Fahrzeug und stellt den Anschluss wieder her. Ich bleibe im Haus, doch Daniel drängt mich, den Beamten zu danken und ihnen etwas Geld zuzustecken, was ich widerwillig tue. Ngozi fragt: "Bist du jetzt glücklich?" – "Nein." – Daniel und Ngozi versuchen mich aufzumuntern. Ngozi fordert mich auf, Vergebung zu üben (was nicht gerade ihre starke Seite ist): Gott werde die Schuldigen zu bestrafen wissen. Sie werden leiden für ihre Sünden. Ich nicke und füge hinzu: Hoffentlich werde ich zuschauen können, wie sie in der Hölle schmachten.

Im NEPA-Büro, wo ich mir die Beleidigungen dieser Nichtsnutze anhören musste, kam mir der Gedanke, Ngozi auf sie zu hetzen, damit sie ihnen Tod & Teufel prophezeit. Schon im Restaurant hatte sich Ngozi sehr selbstsicher gezeigt. Da ich nicht erkennen konnte, ob die Kellnerinnen sie mit besonderem Respekt behandeln, fragte ich Ngozi: "Kennen dich diese Leute?" – Sie wusste es nicht. Aber für die Zurückhaltung der Menschen, die ein Zeichen von Respekt sein mag, nannte sie einen guten Grund: "Sie fürchten mich."

Abends hört Ngozi zu, wie ich mit Daniel über Politik palaver. Aber sie mischt sich nicht ein, lässt keine eigenen Ansichten erkennen. Überhaupt ist auffällig, dass sie sich nicht zur Politik äußert, abgesehen von düsteren Sentenzen über die Verderbtheit der Nigerianer.

Wir schauen uns ein Video made in Nigeria an: Evil Passion, Teil 1. Es geht um eine Kokotte, die durch Liebeszauber einen Mann hörig macht, dessen Ehe zerstört, ihn finanziell ruiniert. Ngozi fühlt sich nicht sonderlich inspiriert, bleibt einsilbig. Von sich aus geht sie ins Wohnzimmer hinüber, legt sich auf die Couch. Ich lade sie ein, in meinem Zimmer Musik zu hören: George Winston, wie beim letzten Mal. Wir liegen nebeneinander, bekleidet. Irgendwann in der Nacht stehe ich auf, putze mir die Zähne. Als ich zurück ins Zimmer trete, hat sich Ngozi bereits entfernt: Sie liegt auf der Wohnzimmercouch. Ich bringe ein Tuch und decke sie zu.

73. Nsukka, 18. Juni 96

<146>

Morgens, noch im Bett, höre ich Ngozi singen. Sie scheint schon lange wach zu sein. Ihre ersten Worte, als ich aus der Dusche komme: Sie sei in der Nacht aufgewacht, und als sie merkte, dass sie (auf der Wohnzimmercouch) allein war, wollte sie zu mir ins Zimmer kommen und bei mir schlafen "like a wife". Es habe ihr gefallen, als der Mann gestern im Auto zu mir sagte: "Ist das Ihre Frau?"

Zum Frühstück bereite ich ihr Reis, mit Tomatensauce und Trockenfisch, die Reste von gestern, die ich einfach nur aufwärme. Ich selber esse Salat, und Ngozi lässt keine Lust erkennen, etwas von dem Salat abzubekommen. Auch der chinesische Tee schmeckt ihr nicht. Es ist vereinbart, dass ich sie zum Busbahnhof bringe, damit sie einen Bus nach Awkuzu bekommt.

("Warum Awkuzu?")

Um dort für zwei Frauen zu beten.

("Warum hat sie so viele ihrer Anhänger in Awkuzu zurückgelassen?")

Sie will alle fürs Wochenende nach Alor Uno bringen, damit sie an den Feierlichkeiten teilnehmen. Ngozi bestätigt, dass Gloria prophetische Fähigkeiten besitzt.

("Wird Gloria ihre eigene Kirche gründen?")

Nein. Es ist vereinbart, dass man sich nicht spaltet, so wie zur Zeit von Jesus, als alle Jünger ihm folgten und keiner sich von ihm lossagte. Ngozi will Gloria und andere als Prediger in verschiedene Gemeinden senden, sobald diese Gemeinden etabliert sind.

Während wir unser Essen löffeln, erinnert Ngozi an das Video von gestern Abend: Die bösartige Frau habe dem Mann Liebeszauber ins Essen getan, später sogar Gift. Das geschehe häufig im Igboland. Viele Frauen benutzten love charms, um Männer an sich zu binden, oft nur zu dem Zweck, sie zu töten und ihren Besitz an sich zu nehmen. Es sei auch üblich, dass sie Männer vergiften. Besonders in Imo State (also bei den anderen Igbo) geschehen solche Verbrechen. Auch die Menschen in Awkuzu seien sehr böse. Sie hätten kein Interesse zu arbeiten, sondern wollten nur durch Betrug und Zaubermittel reich werden. Die Igbo nördlich von Enugu, also in der Nsukka-Region, werden ‘Hausa’ genannt oder ‘bush people’, weil sie so dumm sind. Sie sind nicht so schlecht wie die Leute von Awkuzu.

("Warum zieht sie sich nicht einfach aus Awkuzu zurück und überlässt die Menschen ihrer eigenen Bosheit?") – Sie wird schon bald Awkuzu verlassen, und sie wird es niemandem vorher sagen. Gott wird die Awkuzu people strafen. Diese Menschen haben geglaubt, dass jemand aus Alor Uno zu dumm ist, um sich durchzusetzen. Deshalb hat Ngozi gegen die Leute gekämpft, um ihnen zu beweisen, dass Gott in ihr ist. Wenn eine Frau heiratet, bringt sie Sachen für den gemeinsamen Haushalt mit, Kleider und anderes. All das hat sie zerstört, dazu einen Radiorecorder und einen Videorecorder.

Die Leute aus Awkuzu töteten einmal jemanden aus Nsukka. Sie schlugen ihm einfach den Kopf ab, so dass man alles sehen konnte, was im Innern ist. Sie deutet auf die Innereien und lacht unbändig, schüttelt sich vor Lachen, wirft sich vor Lachen zurück in den Stuhl.

Bevor wir aufbrechen, erhebt sich Ngozi zum Gebet: "... damit dieses Haus bedeckt werde mit dem Blut Jesu." Dazu etwas unschlüssig vorgetragene Ahnungen, dass wir uns lange nicht sehen werden. In vielen Jahren, wenn sie alt ist, werden wir uns wieder treffen, aber das trägt sie eher wie eine Frage an mich vor.

Auf dem Weg in die Stadt lauter Polizeikontrollen. Ein Polizist ist überrascht, einen Europäer am Steuer zu sehen. Fast reflexartig geht die Überraschung, ja der Schreck, in hektische Betriebsamkeit über. Er stürzt sich auf mich, will mich mit grober Stimme herumkommandieren, ausplündern, merkt aber innerhalb von Sekunden, dass er bei mir keine Chance hat und gibt auf. Ngozi schüttelt sich wieder vor Lachen. Zum ersten Mal hat sie aus meiner Perspektive erlebt, wie Polizisten auf den Anblick von Weißen reagieren. Ich bestätige ihr, was sie ohnehin erkannt hat: "Als der Polizist mich sah, dachte er, heute ist Weihnachten für ihn."

74. Nsukka, 19. Juni 96

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Morgens gegen 10 Uhr hole ich Thompson vor dem Gericht ab. Er hatte erneut einen Termin. Er begleitet mich nach Enugu, um Schulden einzutreiben. Als wir uns abends um 18 Uhr wieder treffen, um zurückzufahren, berichtet er von seinen Misserfolgen. Im Arbeitsministerium, wo ich ihn abgesetzt hatte, habe er zwei, drei Stunden warten müssen. Aber das Geld für ihn sei nicht freigegeben worden. An der Enugu State University of Technology ähnlich. Ein Teil der Schreibwaren, die er dort hinterlegt hatte, sei verkauft, doch die Beamten behaupteten, die Käufer hätten ihr Geld noch nicht bezahlt. Thompson ist ratlos. Seine Strategien, die finanzielle Misere zu überwinden, schwanken. Er überlegt, sich einige Haustiere anzuschaffen, vielleicht Kaninchen oder Schweine. Ziegen oder Hühner wären ihm freilich lieber. Er müsste dann hinter dem Haus der Mutter einen Stall anlegen. Neben der Aussicht, als Kaninchenzüchter Geld zu verdienen, hofft er noch auf eine politische Karriere. Zur Zeit ist er Mitglied im Nigerian Peoples’ Movement.

Als ich zu Hause eintreffe, ist alles finster. Schon wieder Ärger mit dem Strom. Vor lauter Missmut grüsse ich kaum zurück, als Ngozi mich begrüßt. Ich zünde die Gaslampe an, doch keine 5 Minuten später beginnen die Glühbirnen zu leuchten. Nach dem Abendessen bittet sie mich niederzuknien. Sie betet für mich und prophezeit, dass mir kein Missgeschick auf meinen Wegen begegnen wird, dass ich reich werde, dass mein Name überall in der Welt gefürchtet sein wird. Wir beten noch zusammen das ‘Vater Unser’, sie legt mir die Hand aufs Haupt – und damit hat sie mir ihren Segen erteilt. Die Zeremonie war zum Glück kurz. Wahrscheinlich spürte Ngozi, wie sehr ich litt, während ich auf dem Betonfußboden knien musste.

Wir setzen uns auf die beiden Sofas einander gegenüber, schauen uns im gleißenden Licht der 300 Watt Halogenlampe an. Ngozi mag das helle Licht, vielleicht weil es zu dem düsteren Kerzenlicht in ihren Wohnhöhlen im Gegensatz steht. Sie erzählt zum ersten Mal offen, dass sie verrückt war. Ihr Bekenntnis scheint ihr nicht schwer zu fallen. Es beginnt mit der Ankündigung, sie werde, wenn sie nach Alor Uno zurückkehrt, Krieg bringen. Sie habe in Awkuzu gebetet und Kraft gesammelt. Nun werde sie den Kampf weiterführen. Onyeka, ihr Rivale, habe einen von vier Wagen verkaufen müssen. Ejiofor dagegen, ihr Verbündeter, habe gerade zwei neue Wagen gekauft.

("Warum bekämpft sie ihre Cousins so heftig? Ich selbst habe keinen Streit mit meinen Cousins in Deutschland")

Ngozi wiederholt, dass es Onyeka und Jonathan waren, die sie aus Awkuzu nach Alor Uno riefen, um Hilfe gegen den Vater zu finden. Ngozi sei damals in das Haus von Onyeka gezogen (also zu dem Onkel, mit dem sie sich später den Schaukampf lieferte). Der Onkel habe offen erklärt, dass er Jonathan töten werde. Onyeka war damals Mitglied ihrer Kirche; er habe alles für sie getan, so wie Chijioke und Amobi: "Onyeka hat mich geliebt." Schon vor langer Zeit hat Ngozi in dem Haus des Onkels gelebt.

("War sie als kleines Kind nicht bei Chukas Vater?")

Ja. Aber sie wurde davon gejagt, weil sie nicht normal war: "Ich war verrückt."

("Seit wann war sie nicht normal?")

Schon immer. Seit der Geburt. Sie hat Stimmen gehört, die sie nicht verstand. Und sie hat den Leuten erzählt, dass sie Stimmen hört.

("Haben die Leute gedacht, dass sie Geister hört?")

Nein. Sie haben gesagt, sie sei verrückt. Und man hat sie geschlagen. Schon als Kind hatte sie immer wieder den Drang, in den Busch zu laufen.

("Um was zu tun?")

Gar nichts. Ich habe überhaupt nichts gemacht. Ich habe nichts gegessen, nichts getrunken. Einmal habe ich 21 Tage nichts gegessen und getrunken. Die Leute mussten kommen und mich suchen, um mich zurückzuholen. (Wie unter einem Wiederholungszwang inszenierte sie die Verstoßung und zugleich die Reintegration: Die Menschen suchten sie und wollten sie zurückhaben – ein Akt der Zuwendung.)

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Auch auf der Primarschule war sie verrückt: "Ich bin nicht in die Sekundarschule gegangen. Mein Englisch habe ich nicht in der Schule gelernt. Ich lernte es später." Nachdem Chukas Vater sie verstoßen hatte, kam sie zum Bruder der Mutter. Aber auch der wollte sie nicht: "Er gab mir keine Ausbildung." Denn seine Frau wollte nicht, dass er für die Nichte sorgt. Deshalb lebte Ngozi bei der Großmutter. Sie ging in den Busch, schnitt die Zweige bestimmter Pflanzen und fertigte daraus Besen, die sie verkaufte. Ihre ältere Schwester, die nun in Itchi verheiratet ist, wurde schon als junges Mädchen in die Ehe gegeben.

Chijioke und Amobi lebten ebenfalls bei der Großmutter. Sie haben sich schon früh als Farmarbeiter verdingt, haben mal hier, mal dort ausgeholfen. Der Onkel mütterlicherseits gab Ngozi weg nach Enugu, damit sie bei reichen Leuten als Haushaltsgehilfin arbeitet. Der Mann und seine Frau leben heute noch dort, es waren gute Menschen. Sie wollten Ngozi nach Amerika schicken, um dort ihren Kopf untersuchen zu lassen. In den USA kann man einen Blitz in den Kopf schicken und hineinschauen. Doch sie wurde zurückgeschickt zur Großmutter. Sie war geächtet. Niemand im Dorf ließ sie ins Haus, weil sie verrückt war.

("Konnte sie nicht zu Fabians Vater gehen, dort wo sie heute lebt?") – Sie wusste gar nichts von ihm.

Bei der Großmutter haben sich Chijioke und Amobi immer um sie gekümmert. Um sie zu heilen, brachten die Brüder sie zu diversen Heilern und Kirchen. (Sie kennt die Branche also aus der Patientenperspektive.) Nichts hat geholfen. Amobi und Chijioke haben viel für sie gelitten. Amobi sei schließlich davon gerannt, nach Bauchi. Um ihn zu suchen, reiste Ngozi ihm nach. Sie dachte damals, Bauchi sei ein Ort wie Alor Uno, wo man nach Amobi fragen kann. Hilflos irrte sie durch Bauchi [einen Bundesstaat in Nordnigeria]. Eine Igbo-Frau nahm sie zu sich. Die Frau hatte bereits mehrere Kinder. Ngozi musste für sie im Haushalt arbeiten und dabei auch die Fäkalien der Familie wegschleppen. Die Frau hat sie immer geschlagen. Bei dieser Frau hat ihr künftiger Mann sie entdeckt, und er fragte die Frau, warum sie Ngozi ständig schlagen muss. Um Ngozi aus dieser Qual zu erlösen, hat er sie nach Alor Uno zurückgebracht zu ihrem Onkel mütterlicherseits.

("Ihr Ex-Mann war also kein schlechter Mensch?") – Nein. Er ist nicht schlecht. Er fragte den Onkel, ob er Ngozi mitnehmen kann, um sie später zu heiraten. Der Onkel sagte, dass er das Mädchen umsonst haben kann. Das war 1986, vielleicht auch 1987 oder 88, jedenfalls in der Zeit von Präsident Babangida.

("Hat er nicht 500 Naira an den Vater von Onyeka gezahlt?") – Ja, aber das war viel später. Ngozi selbst hat darauf gedrungen, dass Geld für sie gezahlt wird. Ihr Mann, ein LKW-Fahrer, hat mit ihr in Kano gelebt, später in Awkuzu, wo die Leute sie immer dash genannt haben [etwas, das man umsonst erhält, z.B. ein Trinkgeld]. Ihr Mann hat darauf gewartet, dass sie gesund wird. Aber nichts wurde besser. Deshalb behandelte er sie schlecht.

("Ist ihr bewusst, dass LKW-Fahrer überall Geliebte haben?") – Ja, sie weiß es. Der Mann ist heute etwa 56 oder 57 (also 30 Jahre älter als sie). Als Ngozi eine Kirche in Awkuzu gründete, hielt der Mann sie weiterhin für verrückt. Er glaubte nicht, dass sie eine Prophetin sei. Ngozi aber weiß heute: Es war Gottes Wille, dass sie nicht normal war. Mittlerweile versteht sie die Stimmen, die zu ihr sprechen.

Ich frage sie nach anderen Erklärungen für ihre Verrücktheit. – Es war der Wille Gottes (also ihre Berufung).

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Ngozi schlägt vor, wieder Videos anzuschauen, und zwar irgendeine jener Kassetten, die sie aus Awkuzu mitgebracht hat. Ich lege eine der unbeschrifteten Kassetten ein. Es ist die Dokumentation des Feast of the Tabernacle in Alor Uno, am 24. Oktober 1996. Ngozi hat Gelegenheit, das eigene Auftreten sorgfältig zu studieren. (Eine Selbstreflexivität, die früheren Propheten nicht gegeben war. Das Augenmerk wird fast automatisch auf die Rezeptionsästhetik gelegt: Wie wirkt ihre Stimme, ihre Gestik? Wie kommt sie an? Kann sie die Zuschauer fesseln?) Ngozi scheint ganz mit sich zufrieden zu sein. Nur dass sie vor einigen Monaten so fett war, überrascht sie ein wenig. Besonderes Gefallen findet sie an der Musik, den Tänzen. Sie summt mit, wiegt sich im Takt der Trommeln. Ihr Entzücken – so scheint mir – erklärt sich vor allem daraus, dass sie selbst es ist, die jenes Fest organisiert hat, die alle Leute zusammengeführt und eine Gemeinschaft gestiftet hat. Dass die Menschen tanzen und fröhlich sind, ist ihr Werk. Es scheint dieselbe Freude zu sein, an der sich auch die big men berauschen: dass sich alles um sie dreht, dass sie Menschen an sich ziehen, Freude schenken können, dass um sie herum Leben ist, nicht Einsamkeit und Tod. Dieses Ideal akephaler Gesellschaften könnte auch erklären, warum die Kirchen sich spalten. Jeder will im Mittelpunkt der Gemeinschaft stehen.

Das Panorama der Gläubigen gibt Gelegenheit, über einzelne ihre Anhänger zu sprechen. Auf dem Video ist noch jener bärtige Prediger zu sehen, der früher in Sokoto lebte. Die Kamera zeigt ihn gleich hinter Ngozi, mit eigenem Mikrophon. Mittlerweile ist er zurück in Sokoto, wo er seine eigene Kirche gegründet hat. Ngozi ist nicht gut auf ihn zu sprechen. Er hat von den Gläubigen in Alor Uno Geld verlangt. Nach Ansicht von Ngozi ist es okay, wenn die Menschen einem nach dem Gebet oder der Behandlung Geld geben. Auch sie selbst nimmt solche Zahlungen entgegen. Aber sie sagt den Leuten nicht, dass sie Geld haben will. Noch ein weiterer Anhänger hat seine eigene Kirche gegründet, und zwar unter Ngozis Augen in Alor Uno. Sein Name ist Godwin. (Ngozi würdigt ihn nicht weiter eines Kommentars.)

Ich erkundige mich nach einer jungen Frau mit heller Haut: "Ist das nicht Chukas Schwester?" – Nein. Sie kommt aus Itchi. Ngozi ist wohl nicht entgangen, dass ich die Frau attraktiv finde. Sie erwähnt jedenfalls später, dass ihre Schwester in Maiduguri [ebenfalls] wunderschön sei: "very yellow." Ngozi selbst ist, so wie Chijioke und Amobi, sehr dunkel. Glaubt sie, dass ich aus diesem Grund so wenig erotisches Interesse an ihr zeige?

Nach dem Ende des Videos liegen wir weiter im Bett, hören Musik. Ngozi zeigt nun kaum noch Scheu. Sie schmiegt sich an mich, schlägt eines ihrer Beine über mich, so dass ihr Unterschenkel gleich neben meinen Genitalien zu liegen kommt. Wir sprechen nicht miteinander; auch Ngozi beginnt keine Kommunikation über das, was unsere Körper tun. (Ob sie versucht, mich zu verzaubern?) Nachts gegen halb 3 wache ich auf, bin unschlüssig, ob ich Ngozi bitten soll, ins Wohnzimmer zu gehen. Die gemeinsame Nachtruhe ist angenehm und friedlich. Mich stört nur die Aussicht, dass ich nicht genügend Schlaf finden werde. Ich bedeute Ngozi, dass ich mich nun allein betten will. Sie steht sogleich auf und eilt ins Wohnzimmer. Dort legt sie sich wieder auf das kleinere der beiden Sofas. Es ist zu kurz, um sich ausstrecken zu können. Aber sie sucht offenbar einen Platz, der sie einengt, umfasst, begrenzt. Eine Kammer wäre ihr sicher lieber als das weite offene Zimmer. Ich lege eine Decke über sie, so als wäre sie (m)ein Kind.

75. Nsukka, 20. Juni 96

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Beim Frühstück sind wir beide wortkarg. Sie lässt sich von mir bedienen. Ich wärme ihr Reis und Fischsauce auf. Sie hat wieder keine Bedenken, die Hälfte ihrer Mahlzeit auf dem Teller liegen zu lassen. Von meinem Rosinenbrot mag sie nichts anrühren.

Mit 43.000 Naira in einer Plastiktüte, dazu dem Walkman, fahre ich sie nach Alor Uno. Kurz bevor wir die New Anglican Road erreichen, schlägt sie vor, Chima, ihren Lehrer, zu besuchen. Ein Schild auf dem Weg zu ihm trägt die Aufschrift Foundation of Faith Spiritual Family. Zum ersten Mal sehe ich das Haus von Innen. Was auf den ersten Blick wie ein Wohnblock aussieht, entpuppt sich als Kirche. Das gesamte Erdgeschoss besteht nur aus einem Kirchenraum mit Holzbänken. Auf diese schmucklose Kirche wurde erst nachträglich ein weiteres Stockwerk aufgesetzt. Es gibt kein Treppenhaus, sondern nur eine Betontreppe, die außen, auf der Rückseite des Hauses, zu den Wohnräumen im Obergeschoss führt.

Der Prophet lässt uns in sein Arbeitszimmer rufen. Mir fallen als erstes zwei Bilder an der Wand ins Auge: Marx und Engels mit grauen Rauschebärten, daneben viele andere Porträts. Insgesamt 30 Bilder schmücken die kahlen, schlecht verputzten Wände. Es sind nur Weiße zu sehen: Mona Lisa, Jesus etc. Auch die selbst gemalten Poster mit frommen Sprüchen sind alle auf Englisch: "I love God" und dergleichen. In Bücherregalen und auf Verkaufsständen ist eine beeindruckende Menge von Büchern versammelt. Eine bunte Mischung, meist christliche Erbauungsliteratur verschiedener Kirchen, auch ein fernöstlicher Text von Brahmakrishna (?), dazu Kassetten mit Predigten im US-Stil – nach Angaben des Besitzers lauter Geschenke von Brieffreunden in den USA.

Der Prophet ist um die 30, mit Vollbart, sieht nicht sonderlich vertrauenerweckend aus. Er nimmt uns gegenüber hinter seinem Schreibtisch Platz. Er und seine Gehilfin sind stinkfreundlich, lachen säuerlich über jedes Späßchen von Ngozi. Was Ngozi ihrem Meister zu sagen hat, ist jedoch nicht sehr erfreulich. Sie bringt ihn von Anfang an in die Defensive: Er solle heiraten. Es geht um eine Freundin, die er zum Teufel geschickt hat. In Ngozis Ratschlag mischt sich Anklagendes. Chima wehrt sich gequält: "Ich kann nicht gegen meinen Geist handeln." "Ich habe sieben Tage in Schweigen verbracht, und am siebten Tag sagte ich ihr, …" Er fällt immer wieder ins Englische, während Ngozi das Igbo bevorzugt. Zunächst müsse er seine Examen hinter sich bringen, dann könne er ans Heiraten denken. Ngozi trumpft weiter auf, unter anderem mit ihren finanziellen Erfolgen: 43.000 Naira ... (Ich höre die Zahl aus den Igbo-Sätzen heraus). Mir scheint, dass auch von Ejiofors neuen Autos die Rede ist. Ngozi verschweigt auch nicht, dass sie in Awkuzu wie eine Furie gewütet und vieles zerstört hat. Dem Konkurrenten ist nicht wohl in seiner Haut. Wozu soll er sich all die Erfolgsmeldungen anhören? Immer wieder bestätigt er Ngozi: "God is wonderful."

Wieder im Auto erinnere ich Ngozi an ihre frühere Aussage, dass Chima ein schlechter Mensch sei. Sie mag es nun nicht bestätigen. Stattdessen berichtet sie Intimes: Vor einigen Jahren wollte er sie heiraten. Amobi war dagegen. Chima versprach Amobi, ihm einen Peugeot 504 zu schenken. Doch Amobi ließ sich nicht umstimmen.

("Warum?") – Weil unsere Leute jene nicht heiraten. Ngozi holt zu einer umständlichen Erklärung aus: Es gebe eine Trennung, weil einige Menschen als Sklaven für den Adoro-Schrein und andere Schreine bestimmt seien. Als ich nachfrage, ob sie von Osu spreche, ist sie überrascht, dass ich das Wort kenne. Sie hatte das Thema eher umgehen wollen, so als handele es sich um etwas Geheimes, fast Gefährliches.

("Chima ist also ein Osu?") – Sie nickt. Aber jener Disput zwischen Osu und Freigeborenen liege lange zurück. Heute wolle man die Spaltung überwinden.

("In Chimas Kirche sind also Osu?") – Ja, viele dort sind Osu. Auch in der eigenen Kirche habe sie Osu. – Ich sage zur Bestätigung: "Fedeco ist Osu". – Wieder überrascht fragt sie: "Wer hat dir das erzählt?"

("Jetzt könnte sie also Chima heiraten?") – Ja, aber sie mag nicht. Sie könnte mittlerweile mehr als 100 Männer heiraten. "If it is you, I will marry", die anderen dagegen nicht. Auch reiche Männer bemühen sich um Ngozi.

76. Beverley Hills, 22. Juni 1996

Gespräch mit Victoria. Daniel übersetzt.

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("Als Victoria zum ersten Mal nach Alor Uno ging, gab es da einen besonderen Anlass?") – Nein, sie hatte einfach von Ngozi gehört. Deshalb ging sie zu dem Marktplatz, auf dem die Jujus zusammengeworfen waren. Aber sie schaute sich den Haufen nur aus der Ferne an, weil sie Angst davor hatte. Später erwachte in ihr der Wunsch, mit Ngozi zu sprechen. Sie ging zu den Gefolgsleuten der Prophetin, um sich zu erkundigen, was man tun müsse, sie zu sehen. Sie wurde zu einem Mann geführt, der sie bat, ihren Namen auf ein Blatt Papier zu schreiben. Der Mann ließ sie und die anderen Wartenden in einer Schlange stehen, gleich auf dem Gebetsplatz. Währenddessen saß Ngozi 50 Meter entfernt im Busch und unterhielt sich mit irgendwelchen Leuten. Victoria erkundigte sich, warum Ngozi sich in den Busch entfernt habe, und es hieß, die Leute, die sie zu sprechen suchten, sollten sich leise verhalten, weil die Visionen der Prophetin nicht fließen, wenn sie Lärm hört. Victoria wartete damals drei Stunden; dann ging Ngozi davon. Niemand wusste wohin. Ihre Anhänger schlugen deshalb vor, am Abend wiederzukommen. Victoria kehrte abends tatsächlich zurück, aber es war vergeblich. Zwei Monate lang versuchte sie unzählige Male, vorgelassen zu werden, aber immer ohne Erfolg.

("Warum hat Ngozi sie nie empfangen?") – Es gab zu viele Bittsteller, und Ngozi war auch meist nicht da. Vielen ist es so ergangen wie Victoria; sie haben Ngozi nie zu sprechen bekommen. Selbst Leute, die drei Tage lang in Alor Uno gewartet hatten, wurden nicht vorgelassen. Sie beschwerten sich, dass die Leute um Ngozi andere Klienten vorzogen, die noch nicht so lange gewartet hatten. Einige Besucher wurden gleich am Tag ihrer Ankunft zu Ngozi geführt.

("Was hätte sie Ngozi gefragt, wenn sie Zutritt zu ihr erhalten hätte?") – Es heißt, die Treffen mit Ngozi beginnen nicht damit, dass man ihr die eigenen Wünsche und Probleme anvertraut. Ngozi fängt an zu sprechen und sagt ihren Besuchern die Zukunft voraus.

Victoria wollte erfahren, warum sie in beruflichen Dingen so viel Misserfolg hatte. Außerdem sah sie sich in Träumen von ihrem verstorbenen Freund verfolgt. In einem dieser Träume gab er ihr Geld.

("Ein böses Omen?") – Ja.

Sobald sie auch nur für eine halbe Stunde eingeschlafen war, erschien der Freund, und sie wachte mit Fieber und Kopfschmerzen auf. Der Freund versicherte ihr im Traum, dass er sie noch liebe, und deshalb hatte sie Angst, dass er sie in die Welt der Toten entführen werde. Von Ngozi wollte sie wissen, ob der Tote sie zu fassen bekommt, und was man tun kann, um das zu verhindern.

("Warum bist du nicht zu einem katholischen Priester gegangen?") – Die Priester haben meist keine Visionen.

Später, als Ngozi zu mir ins Haus kam, sprachen sie über das Geld für die Kuh, das ich ihr gegeben hatte. Ngozi meinte, es sei gut, dass ich nicht direkt mit einer selbst gekauften Kuh nach Alor Uno gekommen sei, sondern ihr das Geld überlassen habe, die Kuh zu kaufen. Sonst hätten die Leute gedacht, ich komme nach Alor Uno, um ihnen die Prophetin zu entführen. Vielleicht wollte Ngozi Gerüchten zuvorkommen, dass ich mit der Kuh für die Jujus zahle, die ich angeblich von ihr erhalten habe.

77. Nsukka, 23. Juni 96

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Bei meinen Besuch in Alor Uno trat ein, was ich befürchtet hatte. Ngozi war nicht, wie versprochen, aus Awkuzu zurückgekehrt. An ein großes Gelage mit Rindfleisch und Reis war nicht zu denken. Den Anwesenden war wohl klar, wie enttäuscht ich war. Man rief Amobi, damit er mit mir die Lage erörtert. Er versprach, dass morgen früh jemand nach Awkuzu reisen werde, um mit Ngozi zu sprechen. Abends würde mir Amobi Bescheid geben, und dann ließe sich Dienstag die Kuh kaufen.

Später bei Thompson stellte sich heraus, dass niemand offen zu mir war. Thompson frug mich, als ich ihn in seinem Haus besuchte, ob ich von Ngozis counter order gehört habe: Jehovah habe ihr gesagt, dass die Kuh nicht jetzt geschlachtet werden soll, sondern erst im September oder Oktober. Ich müsse also im Herbst anreisen.

Ich verhehle Thompson nicht, dass niemand mich darüber aufgeklärt hat. Er findet es beschämend, dass die Mission keine Abschieds-Party für mich veranstaltet. Vermutlich glauben wir beide nicht, dass Ngozi nur dem Willen Jehovahs gehorcht. Doch so weit reicht das Fraternisieren nicht, dass wir offen über dieses Schmierentheater lästern. Thompson nennt weitere Umstände, die mich und ihn misstrauisch stimmen: Ngozi ist unmittelbar, nachdem ich sie in Alor Uno abgesetzt hatte, nach Awkuzu zurückgekehrt.

Da wir bei mir am Esszimmertisch sitzen und Tee trinken, haben wir genügend Muße zum Plaudern. Ich halte Thompson durch Kekse und Bratkartoffeln bei Laune. Dazu gibt’s Käse, den er bis dato nicht kannte. "Ist das eine Frucht? Oder wie macht man das?"

78. Alor Uno, 8. Dez. 96

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Es ist mein erster Tag in Nsukka seit fast sechs Monaten. Daniel bringt mich kurz vor 20 Uhr ins Dorf; es ist finster, kein Mondlicht. Niemand beachtet mich, als ich vor dem Marktplatz stehe und auf Daniel warte, der mir eine Taschenlampe kauft. Als ich am Gebetsplatz vorbeilaufe, erkennen mich einiger meiner brothers and sisters, laufen auf mich zu. Herzliche Begrüßung, viel Händeschütteln, auch mit den Frauen, die sonst eher distanziert sind. Es sind die vertrauten Gesichter. Dass Ngozi verreist ist, hatte mir schon Daniel berichtet. Näheres lässt sich aber auch in Alor Uno nicht erfahren. Vor einer Woche habe sie die Gläubigen verlassen.

Ich frage Chuka, ob um 21 Uhr das Nachtgebet beginnt. Aber er verneint. Im Nachbarhaus ist eine junge Frau gestorben. Die Angehörigen klagen, und deshalb sei der Gottesdienst für heute nicht möglich.

Einige der Mitglieder legen sich im Sand schlafen. Auch ich soll über Nacht bleiben, in einem der Zimmer. Aber mir ist es zu unbequem. Jeder warnt mich, dass es zu gefährlich sei, im Dunkeln bis zum Campus zu laufen. Es gäbe Räuber, die an der Hauptstraße den Passanten auflauerten. Außerdem riskierte ich, von den area boys angegriffen zu werden. Sie kennen mich und würden die Chance gerne nutzen, mich zu überfallen.

Über die Dauerfehde in Alor Uno erfahre ich am meisten von Albert. Am 22. Oktober griffen die area boys an: wieder im Dunkeln, so wie im letzten Frühjahr, diesmal allerdings mit Gewehr(en). Wenn ich’s recht verstanden habe, mit Schrotflinten. Vier Anhänger der Mission wurden leicht verletzt, und Albert zeigt mir, wo die Kugeln getroffen hatten. Zum Glück gelang es, vier der Angreifer festzunehmen. Auf der Polizeistation gab’s Ärger mit dem Divisional Police Officer, der weiter gegen die Mission eingenommen ist. Er ging so weit, Ngozi und einige andere auf der Wache zu behalten, als sie Anzeige erstatten wollten. Unser Anwalt musste geholt werden, um die drei wieder frei zu bekommen.

Thompson und zwei Begleiter fuhren nach Makurdi zum Polizeihauptquartier und sorgten dafür, dass 14 Angreifer in Haft kamen, und zwar für vier oder fünf Tage. Die Gegenseite reiste jedoch nach Lagos, schaltete die dortige Polizei ein, die nach Makurdi reiste und sich dort die ‘Akte’ aushändigen ließ, mit dem Ergebnis, dass all die Festgenommenen ausgelöst wurden. Dafür musste der Holzhändler, der mit dem chief kollaboriert, 100.000 Naira zahlen. Der chief hat ihm zugesagt, dass er weitere Iroko-Bäume fällen kann, deshalb investiert er so viel in diesen Rechtsstreit.

Albert hofft auf eine Gegenoffensive. Die Mission müsste Geld leihen, um wiederum die Polizei auf die Angeklagten zu hetzen. Schon bei der letzten Aktion, als man die Polizei in Makurdi einschaltete, flüchteten viele der area boys. Einige rannten bis nach Kogi State oder weiter. Albert selbst ist völlig verarmt. Seit letztem Jahr ist noch kein Gehalt bezahlt worden. Mittlerweile warten er und andere Beschäftigte der Lokalverwaltung seit 14 Monaten auf ihr Geld. Vor zwei Tagen kam der neue Gouverneur von Enugu State zu Besuch, und man überreichte ihm eine Petition. Er versprach, die Angelegenheit zu prüfen, machte aber keine verbindlichen Versprechen. Albert meldet sich gelegentlich morgens zum Dienst. Aber Arbeit gibt es keine. Der Wagen, den er chauffieren könnte oder sollte, kommt nicht vom Fleck, weil das Geld fehlt, um zwei defekte Reifen zu ersetzen.

Wir sind bereits auf der Straße. Chuka und Festus begleiten mich, weil sie mich vor Angriffen schützen wollen. Nachdem sie mich nicht überreden konnten zu bleiben, fühlen sie sich verpflichtet, mir als Eskorte zu dienen. Zum Glück gelingt es uns, einen Okadafahrer anzuhalten. Bis zum Campus will er mich nicht fahren. Die Studenten seien zu gefährlich. Sie würden den Okadafahrern nachts die Motorräder rauben. Immerhin fährt er mich bis zu den Zik’s Flats.

79. Nsukka, 9. Dez. 96

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Daniel, Victoria und ein Fahrer aus dem Works Department der Universität. Er stammt aus der Gegend von Owerri und hat von den Ritualmorden gehört. Alle drei versichern mir, dass die Reichen Nigerias ihr Geld durch Ritualmorde erwerben. Der Fahrer glaubt nicht jene Geschichten, die die Reichen selbst erzählen: dass sie durch ‘Geschäfte’ in England, Deutschland oder China so reich wurden. Business – so übersetzt der Fahrer – sei nur ein Synonym für Betrug. Aber er glaube nicht, dass die Leute in Europa so dumm seien, sich stets aufs Neue von Nigerianern betrügen zu lassen. Die Geschichten über business in Europa kaschieren also nur, dass es im Grunde um Blutgeld geht.

Daniel stimmt zu. Dass der Reichtum der Nigerianer auf Kokain- und Heroinhandel basiere, glaubt er nicht: Die Dealer würden verhaftet, es gebe zu viele Kontrollen. Der Fahrer berichtet von der Frau eines Bruders, die Kokain nach Europa schmuggelte. All die Detektoren am Flughafen können die versteckten Drogen so gut aufspüren, dass Nigerianer kaum noch Chancen haben. Computer sowie Röntgenapparate lassen sich nicht durch Hexerei oder Jujus beeinflussen, denn es sind Maschinen, keine Menschen.

80. Alor Uno, 10. Dez. 96

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Bei dem Angriff am 22. Oktober schossen die area boys mit Schrotflinten. Es gab Krankenhausrechnungen und Gutachten von Ärzten. Die präsentierte man der Polizei in Makurdi. Sie schickte drei Polizisten. Bei dem Polizeieinsatz war Thompson dabei und identifizierte die Täter: ein Gefühl der Beglückung, des Triumphs. Er deutete auf Verdächtige; sie wurden umgehend festgenommen und in einen Polizeitransporter geworfen. Insgesamt 16 Personen schaffte die Polizei nach Makurdi. Thompson begab sich ebenfalls dorthin, um sicherzustellen, dass sie so schlecht wie möglich behandelt werden. Er ließ es sich nicht nehmen, die Gefangenen in ihrer Zelle zu besuchen, wo sie von Bettwanzen und anderem Getier gepeinigt wurden. Acht Tage lang in Haft. "They received a bitter pill." Thompson schüttelt sich vor Lachen. So vergnügt habe ich ihn selten erlebt.

81. Alor Uno, 11. Dez. 96

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Während des Abendgebets beobachte ich einen neuen Ritus. Sechs, sieben Personen formen einen Kreis, halten sich mit den Armen eng umschlungen, die Köpfe vorgebeugt, eng beieinander. Unklar, was sie machen: Ob sie gemeinsam beten? Plötzlich explodiert dieser Ring, die einzelnen Glieder werden nach außen geschleudert, beginnen zu taumeln, irren wie weiße Kometen in kreisförmiger Bahn um die Tanzenden. Ein weiß gekleideter Mann führt dabei seine athletischen Fähigkeiten vor, dreht sich ungeheuer schnell, kollidiert mit anderen, fällt zu Boden.

Ich warte nicht, bis alles zum Schlussgebet niederkniet, sondern gehe stattdessen zu Thompson. Beim Abendessen erzählt er viel aus seinem Leben. Dabei stellt er stillschweigend einiges richtig, was er falsch dargestellt hatte: Der chief hatte nie ein Verhältnis mit seiner Ex-Frau. Von Liebeszauber ist keine Rede mehr. Er zeigt mir Fotos aus seiner Zeit in Lagos: Thompson als elegante Erscheinung, im Gold glitzernden Jackett. Mit Schnauzer und Kinnbart, was ihn wie einen jungen Intellektuellen erscheinen lässt. Neben ihm auf dem Sofa ein junges Mädchen mit glattem Gesicht. Sie ist 1969 geboren; 1978 heiratete sie Thompson, mit neun Jahren!

82. Alor Uno, 13. Dez. 96.

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Auf dem Hof fährt Ngozis Peugeot ein, mit überhöhter Geschwindigkeit, so dass die Gläubigen auseinander spritzen. Hupen, Lärm. Aber ich bekomme sie nicht zu sehen. Erst gegen 22 Uhr werde ich in ihr Zimmer bestellt. Sie ist abgemagert, mit fiebrig glänzenden Augen. Vor vier Tagen wurde sie schwer krank, ließ sich von Zaria [in Nordnigeria] zurückbringen. Sie weiß nicht, was für eine Krankheit es ist, doch sie kennt die Ursache: "Ich habe gegen Gott gesündigt."

Sie bemerkt, dass ich an meinem neuen Wohnort ‘fett’ geworden sei. Es muss ein gutes Land sein. Sie will mit mir dorthin gehen.

Erfolg in Zaria: Mit 37.000 Naira hat Ngozi ein gewaltiges Grundstück für eine Kirche gekauft.

83. Alor Uno, 14. Dez. 96

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Thompson begleitet mich durch die Dörfer. Aus dem Gebüsch, links der Strasse, ertönt laute Musik, elektrisch verstärkt. Ein Osu-Dorf. Ein junger Mann hat dort, zum ersten Mal in den Annalen Alor Unos, eine Nicht-Osu geheiratet. Triumph und Freude unter den Osu. Die Eltern der Braut sind freilich gegen die Verbindung und beteiligen sich nicht an den Feierlichkeiten. Die Tochter hat sich über ihre Bedenken hinweggesetzt und den Bruch mit den Eltern in Kauf genommen, denn sie gehört, so wie ihr künftiger Mann, zu der Kirche Assemblies of God.

(Noch vor 20 Jahren, so hörte ich, hätten Osu und Freigeborene nicht mit einander gegessen oder getrunken, selbst in Restaurants nicht.) – In diesen Dörfern gab’s keine Restaurants. Aber man ist nicht in das Haus eines Osu gegangen und hat gegessen.

84. Alor Uno, 16. Dez. 96

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Ngozi und ich hatten verabredet, dass ich morgens früh vorbeikomme, um mit ihr nach Enugu zu fahren, zu einem deutschen Arzt. Unklar war nur, wie wir den Transport organisieren sollten.

Als ich morgens noch vor 9 Uhr bei ihr eintreffe, stellt sich heraus, dass der Toyota, mit dem sie aus Zaria gekommen ist, nicht fahrtüchtig ist. Erst soll die Batterie geladen werden. Ich versuche deutlich zu machen, dass wir noch vor Mittag in Enugu eintreffen müssen; aber es scheint, meine Erklärungen machen auf niemanden Eindruck. Als der Wagen aus der Werkstatt vorfährt, ist Ngozi noch nicht zur Fahrt bereit. Wir warten. Als wir uns in den Wagen setzen, erklärt der Besitzer, dass er zunächst einmal in eine Werkstatt fahren müsse. Die Batterie sei zwar ausgewechselt, aber die Strommaschine lade nicht. Ngozi und ich geben auf. Es ist fast 11 Uhr. Zwecklos, noch nach Enugu aufzubrechen. Mir kommen auch Zweifel, ob es angebracht ist, die Prophetin in ein katholisches Hospital einzuliefern. Die Gemeinde würde unweigerlich erfahren, dass sich ihre Heilerin in die Obhut katholischer Ärzte begeben hat.

Die lange Warterei gibt immerhin Gelegenheit, mit Chuka zu plaudern. Zu einer Cola lässt er sich nicht überreden, denn er muss von 6 bis 12 Uhr fasten. Irgendwelche Bibelverse sprechen davon, dass die Gläubigen wenigstens zwei Mal in der Woche fasten müssen. Ein fataler Tipp für Magenpatienten wie Chuka.

Er berichtet, dass Stimmen ihm kundtaten, wann er zu fasten habe. Die Geister gaben genaue Anweisungen: von 6 Uhr bis 18 Uhr, mehrere Tage lang. Aber während des Fastens fühlte er sich von spirits angegriffen. Sie fügten ihm Schnitte zu, wie mit einem Rasiermesser. Im Magen, manchmal auch im Herz. Er hatte ein Geschwür. Es waren diese Geisterattacken, die ihn schon in Onitsha in die Arme einer Prophetin trieben. Die Prophetin machte ihm gleich zu Anfang die Eröffnung: Das Werk des Heiligen Geistes könne erst beginnen, wenn er 500 Naira bezahlt habe. Er zahlte. Die Behandlung begann; er fühlte sich besser. Aber es wurde immer wieder erwartet, dass er für diesen und jenen Zweck zahlte. Dabei war er fast ohne Einkünfte. Schließlich sagte er der Prophetin, sie solle ihn auf Kredit behandeln, was sie aber nicht akzeptierte.

Wir beobachten die Marktfrauen. Mir fällt auf, dass fast keine Kunden zu sehen sind. Chuka bestätigt das: In Alor Uno ist kein Geld zu machen. Wer mit 2.000 Naira Kapital anfängt, hat mit der Zeit alles verloren. Statt sein Geld zu mehren, werde man es in Alor Uno nur los.

Kurz nach 12 Uhr schickt Ngozi ihren Cousin Emmanuel, um mich zu ihr zu rufen. Sie wirkt längst nicht mehr so krank wie in der Nacht zuvor. Trotzdem spricht sie langsam, unkonzentriert, in fehlerhaftem Englisch. Ich bringe das Gespräch auf den Skandal in Otokoto [wo ein Kartell von Ritualmördern entdeckt wurde]. Ihr Interesse erwacht. Die Schutzbehauptung christlicher Pastoren, man habe die abgehackten Köpfe nur deshalb in der Kirche aufbewahrt, um den Triumph über die heidnischen Praktiken zu dokumentieren, hält Ngozi für eine Lüge. Es sei eine Besudelung, Leichenteile in einer Kirche aufzubewahren. Wenn man den Heiden Jujus abnehme, müsse man sie öffentlich ausstellen (wie Ngozi es getan hat), damit gar nicht erst der Verdacht auftauchen kann, dass es einen heimlichen Rückfall in heidnische Riten gebe. Ngozi nimmt an, dass die Priester tatsächlich mit den Leichenteilen gezaubert haben.

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Ngozi hat eine denkbar schlechte Meinung von den anderen Christen, und sie besitzt intime Kenntnisse über deren magische Praktiken. Hat sie nicht persönlich deren Häuser durchsucht? Aus all den Häusern der Katholiken und Anglikaner hat sie Jujus hervorgezogen. Keiner war rein. Gerade von den Anglikanern weiß sie Übles zu berichten. Es war deren Tradition, die Toten bei der Kirche beizusetzen. Bei einer Gelegenheit zeigten sich Ameisen auf dem frischen Grab. Ein böses Omen. Aus dem Kreis der Adoro-Priester verlautete, dass der Tote ein Opfer Adoros sei. Die Anglikaner bekamen es mit der Angst zu tun, zerrten die Leiche aus dem Grab und warfen sie nicht weit von der Kirche in den Busch. In einem anderen Fall hieß es, eine alte Frau, gerade auf dem anglikanischen Friedhof begraben, sei eine Hexe. Wieder holte man die Leiche aus dem Grab hervor. Da man aber die Hexe nicht anrühren mochte, band man ihr einen Strick um den Hals und schleifte sie über den Sand, die Straße entlang, bis zum "bösen Busch" unweit des Schreins. Seit jenen beiden Episoden wird niemand mehr auf dem anglikanischen Friedhof zur Ruhe gelegt. Man bestattet die Toten wie in alten Tagen jeweils in der Nähe des Wohnhauses.

Das Gespräch dreht sich um Mitglieder der Mission: Gloria gab Anlass zur Enttäuschung. Ngozi hatte sie nach Kano gesandt, wo sie Gelder veruntreute. Nachdem Gloria viel Geld auf die Seite geschafft hatte, machte sie sich davon, zurück nach Awkuzu.

85. Nsukka, 17. Dez. 96.

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Eine fast klandestine Aktion. Der Geschäftsmann aus Zaria, mit dessen Auto wir gestern nach Enugu hätten fahren sollen, trifft gegen 11 Uhr morgens an meinem Gästehaus ein: Ngozi rufe mich. Aber er will nicht genau sagen, wo sie steckt. Angeblich weiß er den Namen des Dorfes nicht. Sein Auto hat er irgendwo zurückgelassen: Wir sollen mit Okadas zum Busbahnhof fahren, von dort weiter mit unbekanntem Ziel. Wir besteigen einen Peugeot 504 Richtung Enugu Ezike. Während ich mich irritiert frage, warum wir nicht Richtung Itchi oder Unadu abbiegen, versichert mein Begleiter: Das habe seine Richtigkeit.

In Enugu Ezike machen wir uns zu Fuß auf den Weg. Nach nur 200 Metern betreten wir ein blau getünchtes Haus. In einem der Zimmer liegt Ngozi, mit schweißbedecktem Gesicht. Es stinkt nach Kot; wahrscheinlich ist ihr Umhang kotverschmiert. Sie spricht mit matter Stimme, lässt sich aus dem Bett heben, wankt, an einem Arm gestützt, zur Toilette. Erst beim Hinaustreten bemerke ich, dass wir in einem Hospital sind. Ngozi ließ sich in der Nacht einliefern, nun soll ich sie nach Enugu schaffen.

Das Krankenhauspersonal ist ein nichtsnutziges Pack. Bevor Ngozi entlassen wird, soll der Arzt sie inspizieren. Aber er lässt uns warten. Ein mistiger Bursche. Läuft an mir vorbei, ohne zu grüßen. Die Krankenschwester lässt mir ausrichten, ich solle dem Arzt ins Büro folgen. Wohl oder übel muss ich ihm hinterherlaufen die Straße entlang, in ein moderneres Gebäude. Wieder kurz warten. Dem Kerl geht es nur ums Geld, mit der Patientin als Pfand: Er wolle die Kranke ungern gehen lassen, aber wenn ich insistiere.

Ich sage ihm ziemlich schroff, dass ich überhaupt nicht insistiere. Ich sei kein Arzt, verstehe nichts von der Sache. Die Patientin selbst habe den Wunsch geäußert, nach Enugu überführt zu werden. – Ich soll auf die Rechnung warten. – Aber ich erkläre, dass ich ohnehin kein Geld dabei habe und ziehe von dannen.

Der Mann aus Zaria erklärt mir später, der Doktor habe eine Rechnung von 1.800 Naira präsentiert [was dem Monatsgehalt eines Lehrers entspricht]. Warten auf die Rechnung. Der Zaria-Mann, Emmanuel und Ngozi beraten. Ich sitze draußen auf dem Hof und lese die ‘Genesis’: Joseph und seine Brüder. Schließlich wird es mir zu unbequem, und ich erkundige mich drinnen nach dem Stand der Dinge. Ngozi hat nur 500 Naira dabei. Ich selbst habe freilich auch nicht viel eingesteckt: Niemand habe mir gesagt, dass ich in ein Hospital gebracht werde. Der Mann aus Zaria erklärt, entschuldigend: Er wollte verhindern, dass Daniel im Gästehaus erfährt, dass Ngozi krank ist. (Eine Art Staatsgeheimnis, wie der Prostatakrebs von Präsident Mitterand.)

Auf Ngozis Bitte hinterlasse ich 300 Naira und verspreche, im Gästehaus auf sie zu warten. Sobald sie mit dem Wagen bei mir eintrifft, können wir uns auf den Weg nach Enugu machen. Kurz vor 17 Uhr. Der Wagen ist noch nicht eingetroffen.

Eine Überraschung, dass Ngozi doch noch kommt. Sie will aber vor der Reise nach Enugu noch in Alor Uno vorbei. Sie müsse zunächst noch, wie angekündigt, die Kekse und Soft Drinks an die Kinder verteilen.

("Kann sie das nicht auf dem Rückweg von Enugu machen?") – Nein. Die Behandlung im Krankenhaus Enugu werde nichts helfen, wenn sie zuvor nicht diese Pflicht erfülle. Schon in Enugu Ezike habe die Behandlung nicht gewirkt. Sie erhielt gleich nach der Einlieferung eine Injektion.

("Wogegen?") – Die Diagnose hieß Typhus-Fieber.

(Ich äußere mich abfällig über die dortigen Ärzte: Immer wenn man die Krankheitsursache nicht kenne, heißt es ‘Typhus-Fieber’.) – Ngozi widerspricht nicht. Entscheidend sei nun, zunächst die Voraussetzungen für die Krankenbehandlung zu schaffen. Erst müsse sie die Kinder speisen. Das lasse sich nicht ändern. Gott ziehe seine Anweisungen nicht zurück.

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(Ich schlage vor, sie solle Emmanuel, der mit uns im Auto sitzt, beauftragen, sich um die Kinderspeisung zu kümmern. Wir anderen könnten dann gleich weiterziehen.) – Doch das ist unmöglich. Ngozi erklärt, kein Geld zu haben. Kekse und drei Kästen Softdrinks kosten 1500 oder 2000 Naira. (Jetzt dämmert mir allmählich, warum ich mit im Wagen sitze.)

Ngozi erinnert mich nun anklagend: "Habe ich nicht gestern schon gesagt, dass ich die Kinder bewirten will?" (Was heißen soll: Ich hätte ihr das Geld dazu geben sollen. Nun klagt sie mich an, als sei ich für ihre Fieberanfälle verantwortlich: Hätte ich gestern schon das Geld gegeben, wäre Gott nicht strafend gegen sie vorgegangen, und jener Ausflug ins Krankenhaus wäre ihr erspart geblieben.)

(Ich erkläre ziemlich gereizt: Sie habe nichts davon gesagt, dass ich die Kinder füttern soll. Außerdem habe ich nicht viel Geld. Es sei schwierig, Geld zu tauschen. In Enugu habe es nicht geklappt.) – Ngozi gibt unverhohlen zu verstehen, dass sie mir nicht glaubt. In Onitsha könne man genug Naira tauschen.

Ich wende ein, dass ich nicht mit Dollars herumreise, um sie einzutauschen, sondern mit Schecks. Aber diese Art Streiterei ist Zeitverschwendung. Ngozi muss seit Jahren gewohnt sein, sich von Brother Joe und anderen Geldgebern solche Ausreden anzuhören.

Ich versuche nicht, unser Gespräch auf ein freundlicheres Thema zu lenken, sondern bleibe stumm. Auch Ngozi gibt bis zum Ende der Fahrt kein Wort mehr von sich, so als sei sie ungerecht behandelt worden. Ihr Verstummen mag noch einen anderen Grund haben. Wahrscheinlich überlegt sie, wie sie in Alor Uno auftreten soll. Sie heckt einen Plan aus, und mir scheint im Nachhinein, dass sie auf Mittel sinnt, wie sich das Gebot Gottes, die Kinder zu speisen, doch noch ausführen lässt. Als wir auf dem Hof halten, hat sie Schwierigkeiten, aus dem Wagen zu steigen. Trotz ihrer Schwäche begibt sie sich jedoch nicht in ihr Zimmer. Sie baut sich neben der Tür auf und fängt an zu predigen: Offenbar ruft sie zur Kollekte auf, denn ihre Anhänger treten einzeln vor, knien vor ihr nieder und legen ihr Geldscheine zu Füßen. Nur mit Mühe kann ich mich dazu durchringen, mich an der Kollekte zu beteiligen.

86. Alor Uno, 19. Dez. 96

<162>

Auf dem Fußmarsch zum Marktplatz überrede ich Thompson zu einem Ausflug zum zerstörten Schrein. Er ist nur einen Kilometer von seinem Haus entfernt. Vorbei an den Grabhügeln, dem bad bush, geht der Weg bald hügelan, durch einen wilden Hain mit zum Teil uralten Bäumen, romantisch verwildert. Als erstes begegnet uns rechts gleich am Weg der Schrein von Ngwu Adoro, dem Sohn der Göttin. Geblieben sind nur einige Holzplanken, verbeultes, staubiges Wellblech, Trümmer. 100 Meter weiter gelangt man zu einem weiteren zerstörten Schrein: für die Göttin selbst. Aber es ist der Schrein des ‘kleinen Priesters’, d.h. des Osu-Priesters. 50 Meter dahinter endet der Weg. Das dichte Gebüsch erlaubt es nicht weiterzulaufen. Hier stand bis vor zwei Jahren der Schrein des Hauptpriesters. Ebenfalls Planken, Wellblech. Zwei Eisenstangen stecken in der Erde. Um eine der Stangen ist ein zerschlissenes weißes Tuch gewickelt. Thompson warnt mich: Das Tuch habe jemand dort zur Abschreckung befestigt. Er wirkt zögerlich, folgt mir dann aber doch. Bei der Zerstörung war er dabei, so wie mehr als 100 andere Anhänger der Mission. Niemand der Traditionalisten habe sich ihnen entgegengestellt. Sie glaubten einfach nicht, dass die Prophetin so verwegen sein würde, den Schrein anzutasten.

Zunächst zerschlug man mit Äxten den Schrein des Sohnes, dann den Schrein des Osu-Priesters, schließlich das Hauptheiligtum. Thompson will mit eigenen Augen gesehen haben, wie die fünf Meter lange Python getötet wurde. Sie befand sich in einem gewaltigen Lehmtopf. Ngozi schüttete heiliges Wasser in den Behälter, sprang dann selbst hinein und trampelte auf der Schlange herum. Die Anhänger der Mission hackten schließlich mit Macheten auf das Tier ein und warfen es in den Busch.

Früher war die gesamte Anlage wohl gepflegt. Osu-Frauen kehrten den Sandplatz um den Schrein und auch den Weg dorthin. Thompson erinnert sich auch an Festivitäten: Frauen tanzten, während sein Onkel, der Hauptpriester, vor aller Augen die Python um sich geschlungen hatte. Die Python wand sich um seinen Körper, legte den Kopf um sein Haupt, wand sich wieder los.

Gleich neben dem abgerissenen Schrein befindet sich ein Baumstumpf. Der Durchmesser deutet auf einen gewaltigen Baum. Ngozi ließ ihn fällen, weil der Baum von Hexen genutzt wurde. Bei ihren nächtlichen Ausflügen sammelten sich die Hexen in der Baumkrone und bereiteten Angriffe auf die Opfer vor.

(Ich frage Thompson, ob Adoro nun getötet oder vertrieben sei.) – Er ist unsicher, nimmt aber das letztere an. Viele Heiden gehen nun nach Alor Agu, um dort für Adoro zu opfern. Auf meine Nachfrage betont Thompson, dass es sich dort um dieselbe Göttin handelt wie in Alor Uno. Nicht die Göttin selbst wurde zerstört, sondern ihr Aufenthaltsort. Es sei schwer, die Frage zu beantworten, weil Adoro unsichtbar ist oder war. Die Schlange war nur ein Agent der Göttin, nicht diese selbst.

Wir gehen Richtung Mission. Thompson würde gern direkt mit Ngozi sprechen, mit der er schon morgens anderthalb Stunden konferierte. Doch es heißt, dass niemand außer ihren Dienern Zutritt hat. Ngozi sei am Beten. Den ganzen Tag habe sie ihr Zimmer noch nicht verlassen. Resigniert bereiten wir uns zum Gehen, ziehen die Schuhe an, als sich die Tür auftut und Ngozi erscheint: die Brüste nackt, um die Hüfte nur etwas kurzes Weißes geschlungen. Im Mondlicht nur vage zu erkennen. Sie läuft unruhig auf und ab, beginnt zu predigen. Sie schickt uns an die Frontmauer des Hofes.

Wir sollen klagen: 30 Personen nebeneinander stehend geben lang gezogene, heulende Laute von sich, wie Klageweiber während einer Beerdigung. So wie die anderen halte ich die Hände am Kopf, als sei ich außer mir vor Schmerzen. Hinter uns bauen sich die Trompeter auf, Chijioke und sein Team: drei Trompeter, eine Posaune. Fanfaren, aber ohne alle Harmonie, schrill und heftig. Die Szene kommt mir so wahnhaft vor, dass ich mein Lachen nicht unterdrücken kann. Der infernalische Lärm zieht andere Dorfbewohner an; sie stieren durchs Tor auf die jaulende Meute. Einige gesellen sich dazu, jaulen mit. Nach knapp zehn Minuten hören wir Ngozis Stimme, schneidend wie selten. Sie stößt Worte hervor wie im Stakkato. Die Meute antwortet schreiend. Rede und Gegenrede. Ich verstehe nur einzelne Wörter: "Elias" und andere Propheten, "Holy Michael" ...

Wir kehren uns um, folgen Ngozi in eine andere Ecke des Hofes. Sie predigt nun mit sanfter Stimme. Thompson übersetzt mir Teile der Predigt: Ngozi sei bislang zu nachsichtig gewesen. Die Heiden hätten ihre Nachsicht als Schwäche ausgelegt, sie hätten sogar zu Gewehren gegriffen. Nun müssen sie lernen, dass Ngozi auch zerstören kann. In diesem Kontext rief sie den Namen von Elias an und erinnerte an Sodom und Gomorrha. Sie bete zu Gott, dass er Rache nehme. Von nun an werden plötzliche Tode auftreten.

Der Igwe hat in der Tat am selben Tag oder am Vortag seine Tochter verloren. Thompson meint, das könne bereits ein Zeichen sein, denn die Tochter war nicht krank, sondern starb überraschend. Ngozi kündigt an, dass in Alor Uno Zerstörung eintreten werde. Unser Klagegeschrei soll die Klage sein über das künftige Unglück, das bald kommt. Ngozi begibt sich in ihr Zimmer, aber spricht weiter zu den Gläubigen, die sich vor der leicht geöffneten Tür drängen. Plötzlich stimmt sie ein Lied an: ‘I will hold you tight’ (oder so ähnlich). Jeder soll seinen Nachbarn an die Hand nehmen und tanzen. Burleske Szenen entstehen: Ein Mädchen ergreift ein anderes, drückt es an sich und sagt laut: "I love you." Wie in einer Operette. Alles lacht. Thompson fasst meine Hand, will allen Ernstes mit mir tanzen. Ich hetze ihn auf eines der Mädel, er geht auf sie zu, sie rennt lachend weg. Einige Männer tanzen miteinander mit übertriebenen, parodistischen Gesten and Bewegungen.

Ich stecke die Hände in die Hosentaschen und weigere mich, dieser Albernheit zu folgen. Dann gibt Ngozi Order, wir sollen rennen. Nicht wie zwei Tage zuvor zum Tor, hin und zurück, sondern einfach rennen, wild durcheinander. Wieder kindisches Gelächter, während die Beteiligten sich ausweichen, beinahe kollidieren.

87. Alor Uno, 20. Dez. 96

Ngozi ist in ihrem Zimmer. Ich bekomme sie nicht zu sehen.

<163>

Chuka, der immer gegen die halbherzigen Christen predigt, die den Gebetsübungen fernbleiben, hat wieder nicht am Abendgebet teilgenommen. Ich finde ihn im Schlafzimmer der Männer, auf einer Matratze liegend. Es ist duster, nur ein wenig Mondlicht dringt ins Zimmer: Er habe kein Geld für Kerzen. Ich lege mich dazu, er dämmert weiter vor sich hin, wenig gesprächig. Mich interessiert, was jener Geist antwortete, als Chuka ihn rundheraus fragte, warum er ihn töten wolle. Der Geist war der Mond. Chuka deutete vor zwei Tagen auf den Halbmond über uns und eröffnete mir, dass dieser Geist ihn immer wieder attackiert hatte. Chuka kommuniziert mit diesem und anderen Geistern, aber sie bleiben oft vernünftige Antworten schuldig. Der Mond wollte keinen Grund geben, warum er Chuka zu töten sucht. Die Auseinandersetzung verschob sich stattdessen auf ein anderes Feld. Chuka wollte wissen, warum der Geist nicht das Wort Gottes akzeptiere, denn Chuka konfrontierte ihn immer wieder mit den Psalmen. Der Geist antwortete, dass er zu denen gehöre, die das Wort nicht anerkennen und achten, also – in Chukas Übersetzung – zum Reich des Teufels.

Während seines letzten Onitsha-Aufenthalts gehörte Chuka gleich zwei Kirchen an. Dienstags und freitags ging er bei der Christ Apostolic Church beten, sonntags bei den Charismatic Catholics. Chuka klagt darüber, dass Hilfesuchende in diesen Kirchen immer wieder abgewiesen werden: Man solle zur Sonntagsmesse kommen oder die Bibel lesen. Er hatte es auch bei Deeper Life Bible Church versucht. Aber dort fand nur dienstags geistliche Betreuung statt.

Chuka kommt wieder auf die Schwester des Vaters zu sprechen (jene Hexe, die er mir neulich zeigte). Sie hatte ihn beschuldigt: dass er in die Kirche gehe, um Zauber gegen die Familie zu treiben. Für diese Heiden sind Kirchen nämlich nichts anderes als Kräuterdoktoren. Man erwirbt dort Zauber. Die Tante glaubt mittlerweile, dass der christliche Zauber stärker ist als jene Mittel, denen sie früher vertraute. Deshalb ist sie nun Anhängerin der Mission. Sie kniete sogar vor Chuka nieder, um ihm zu versichern, dass Chukas Zauber stärker war.

Manche Dorfweiber glauben, dass der Weiße in Ngozis Gefolge ihr die überlegene Kraft verschafft.

("Glaubt das auch der Igwe?") – "Nein. Er dachte, ich würde die Jujus verkaufen. In Anambra State soll genau das passiert sein. Jujus wurden geraubt und nach Lagos verkauft. Als dann beobachtet wurde, wie die weiße Frau [Sarah] mit ihrer Videokamera die Objekte aufzeichnete, sahen viele ihren Verdacht bestätigt."

Chuka und ich laufen im Mondlicht durch das fast ausgestorbene Dorf. Über die Bewohner in diesen oder jenen Häusern weiß Chuka nicht viel Gutes zu berichten. Angewidert berichtet er über die Niedertracht der Menschen. Mit einem Anflug von Hochmut fügt er hinzu, er habe sich gegen die Anfechtungen seiner Feinde durchgesetzt. Die Feinde könnten ihm nichts anhaben. Im Moment fehle ihm nichts weiter als Geld. Seine spirituelle Kraft sei so stark, dass er mit seinem Wort Enormes bewirken könne. Wenn er es sage, werde eine Person krank. Wenn er es sage, gehe der Motor eines Autos kaputt.

88. Alor Uno, 21. Dez. 96

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Während des Marschs die Hauptstraße entlang stößt Thompson ständig auf Bekannte. Ein jovialer Bursche mittleren Alters, gut genährt, radelt uns auf einem Fahrrad entgegen. Thompson und er grüßen sich herzlich, als wären sie hoch erfreut, sich zu sehen. Der Mann – so erläutert mir Thompson – arbeitet auf dem Campus beim Sicherheitspersonal. Er hat zwei Leute vergiftet, hier in Alor Uno. Dem einen hat er Gift in den Palmwein getan. Das Opfer bekam Probleme mit dem Bauch, die allen Heilungsversuchen trotzten, und starb. Die Täter benutzen allerlei Tricks. Oft haben sie lange Fingernägel, und unter den Nägeln der linken Hand verstecken sie das Gift (mit der rechten essen sie bekanntlich). Manchmal könne man sehen, dass die Ränder der Fingernägel ganz schmutzig sind. Es genüge, dass sie die Fingerkuppe nur ein wenig in den Palmwein tauchen, und das Gift mischt sich mit der Flüssigkeit.

Thompson berichtet von dem Gerücht, dass der neue Richter [in Nsukka] am Morgen des Verfahrens verzaubert wurde. Leute hätten in der Frühe ein Mittel am Eingang des Gerichtssaales versteckt, so dass der Richter beim Eintreten darauf gestoßen sein müsse. Doch Thompson ist skeptisch. Der Richter muss mit Geld bestochen worden sein. Aber vielleicht hat man ihm den Zauber in die Geldbündel hineingetan oder hinein geblasen.

Vor dem Gebetsplatz treffe ich auf Albert: Zusammen mit seiner Gewerkschaft beteiligte er sich am Tag zuvor an einer militanten Aktion. Man stürmte zum Vorsitzenden der Lokalverwaltung, um ihn zur Rede zu stellen. Doch bevor man das Haus umringen konnte, waren schon Angehörige des Vorsitzenden durch die Hintertür entwischt und gleich auf dem Weg zur Polizei. Der Vorsitzende dagegen war in der Gewalt der Demonstranten. "We nearly killed him", sagt Albert stolz. Der Gefangene wurde genötigt, in einen Dienstwagen zu steigen und in Begleitung einiger Demonstranten nach Enugu zu fahren, um dort das Geld für die Beschäftigten der Lokalverwaltung in Empfang zu nehmen. In Enugu, vor dem Regierungssitz des Gouverneurs, gab’s natürlich keine Möglichkeit der Einschüchterung mehr. Die Gehaltszahlungen ließen sich nicht erzwingen, und so verlegte man sich aufs Betteln. Wenigstens das Gehalt von einem der 15 Monate solle er jetzt auszahlen. Natürlich umsonst. Nun stehe man kurz vor Weihnachten mit leeren Händen da.

Statt mich beim Abendgebet zu langweilen, nutze ich meine knappe Zeit, um direkt zu Ngozi zu gehen. Sie sitzt draußen am Feuer, wärmt sich an der Glut. Das Essen ist längst gekocht, die Töpfe sind beiseite gestellt, nur der leere Dreifuß steht über dem Feuer. Ngozi bedeutet dem Mann neben ihr, die Glut näher zu ihr hin zu schieben. Einfächer wäre es, die Holzbank an die Glut heranzurücken. Aber Ngozi steht nicht auf, rührt sich nicht. Alles wird auf ihr Wort hin gemacht. Wahrscheinlich ist ihr Hang, sich bedienen zu lassen, im Moment, da sie krank ist, besonders extrem. Als wir später in ihrem Zimmer sind, ruft sie immer wieder nach Emmanuel. Erst mit schwacher Stimme, dann lauter werdend, ungeduldig, fast erbost, dass er nicht gleich zur Stelle ist. Emmanuel tritt ein. Ngozi bedeutet ihm, er solle ihr eine Tasse Wasser reichen. Der Wassereimer befindet sich zwei Meter neben ihr an der Wand. Ngozi könnte sich leicht selbst behelfen. So arg krank wirkt sie nicht. Sie liegt nicht im Bett, sondern hat sich aufgerichtet, auf der Bettkante sitzend.

Über die Episode neulich im Krankenhaus erfahre ich Überraschendes: Der Arzt in Enugu Ezike hatte ihr eröffnet, sie müsse operiert werden.

("Was für eine Operation?") – Hat er nicht gesagt. Ngozi weigerte sich. Er versuchte sie zu zwingen, gab ihr gegen ihren Willen eine Injektion in den Bauch. Die Gehilfen hielten sie auf dem Bett oder Operationstisch fest, sie strampelte. Aber es waren acht Personen, die sie überwältigten. Deshalb schrie sie so laut, bis man sie los ließ. Dann versuchte es der Arzt wieder gütlich: Sie werde jetzt eine Infusion bekommen, wahrscheinlich für die Narkose.

Ngozis Misstrauen, das in unserer Kultur paranoid wirken würde, ist in Nigeria realitätsgerecht: ein Mittel zum Überleben. Angesichts dieser Kriminellen, die sich als Ärzte präsentieren: Kann man es sich erlauben, das Bewusstsein zu verlieren?

Ngozi bestätigt noch einmal, dass die Diagnose Thyphus-Fieber lautete. Ich verhehle nicht meinen Missmut. Wenn jemand wirklich typhoid fever hat, führt man keine Operation durch.

Thompson hatte unterwegs berichtet, was Ngozi sicher auch andere Anhänger hatte wissen lassen: In Kano habe sich der Prophet einer Kirche offen gegen Ngozi gestellt. Zwei Tage später war er tot. Ein anderer Prophet griff Ngozi sogar tätlich an, schlug sie mit einem Gegenstand, so dass ihr Kopf anschwoll. Er holte sogar die Polizei und ließ Ngozi auf die Wache verschleppen. Ngozi zeigte den Polizisten ihre Verletzung. Die Polizisten fragten, warum sie nicht Anzeige gegen den Täter erstatte. Aber die Prophetin antwortete: "Gott wird ihn strafen". Wenig später war der Mann tot.

Vermutlich wird Ngozi in Kano ähnliche Wunder aus Alor Uno berichten. Dass sie auch in der Ferne wirkt, kommt ihrem Charisma zugute, so wie auch Jesus hier und dort Wunder vollbrachte. Zur Legendenbildung trägt bei, dass Nachrichten von den fernen Begebenheiten nur gefiltert nach Alor Uno dringen: aus dem Mund der Prophetin selbst, eventuell noch bestätigt durch Anhänger vor Ort, die sich zu Augenzeugen aufspielen. Die Version der Gegenseite artikuliert sich dagegen nicht; sie ist ausgeblendet.

89. Alor Uno, 22. Dez. 96

<165>

In der Nachmittagshitze haben sich Ngozi und rund 35 ihrer Anhänger am Rand des Gebetsplatzes gelagert. Die meisten von ihren Mädels in weiß liegen träge ausgestreckt auf dem Sand, manche aneinander geschmiegt, wie eine Herde Lämmchen. Ngozi sitzt an die Tür einer Hütte gelehnt, wieder barbusig, nur den Rosenkranz über der nackten Brust. Ich setze mich hinzu, warte gelangweilt.

Später werde ich in Ngozis Empfangszimmer geladen, zusammen mit zwei Männern. Es stellt sich heraus, dass die beiden mich kennen: Ob ich mich nicht erinnern könne, dass ich ihre Kirche besucht habe? Es ist Ngozis Konkurrent [Chima], der Regenmacher, der sie vergiften wollte. Ngozi ist stinkfreundlich zu ihm. Wie bei früheren Gelegenheit versucht sie, ihm zu imponieren. Der Widersacher scheint in die Defensive gedrängt, aber er weiß sich zu wehren: Ob Ngozi nicht Licht anmachen könne, denn im Zimmer wird’s dämmerig? Ngozi muss umständlich erklären, dass der Stromgenerator nicht funktioniert.

Sie lässt mich mit den beiden eine Weile allein. Es stellt sich heraus, dass der Prophet Philosophie studiert, sein Begleiter Soziologie. Sein Interesse: Marxismus und klassenlose Gesellschaft.

Für eine Fahrt in die Stadt besteigen wir zu viert Fedecos alten Peugeot, schaukeln bis zum Gebetsplatz. Ngozi, fast nackt, eng neben mir. Doch dann lässt sie anhalten: Der Moment sei nicht geeignet für die Fahrt. Wir müssen alle aussteigen. Ich hatte gehofft, sie würde unser Tête-à-tête im Auto zu einer privaten Plauderei nutzen. Doch die letzte Gelegenheit ist vertan. Sie fragt, was sie noch für mich tun könne. Wahrscheinlich denkt sie an eine Segnung, Handauflegen oder dergleichen. Aber ich bin nicht in der Stimmung dazu. Deshalb ein ganz unzeremonielles Auseinandergehen.

90. Nachwort

<166>

Die Nachricht von Ngozis Tod erreichte mich im Januar 2000, als ich wieder in Deutschland lebte. Bei einem Besuch im Igboland, ein Jahr später, sah ich das Grab, das man ihr in Fabians Gehöft errichtet hatte. Eine Ecke des Innenhofs war durch eine niedrige Mauer abgetrennt; in der Mitte stand ein Plastikstuhl, mit einem weißen Tuch drapiert, darauf eine Bibel und daneben ein Plastikschwert. Der plötzliche Tod der Prophetin hatte in Alor Uno zu Spekulationen über die verborgenen Ursachen geführt, und die meisten Bewohner nahmen an, dass Ngozi durch Adoro getötet worden war. Doch ihre Brüder und andere Mitglieder der Kirche, die sie hinterlassen hatte, widersprachen: Ngozi habe ihren Tod vorhergesehen. Einige Monate, bevor sie starb, habe sie verkündet, dass sie eine Reise in ein fernes Land antreten werde. Niemand habe damals verstanden, was sie damit meinte. Deshalb war man schockiert und fassungslos, als Ngozi am Heiligabend 1999 erkrankte und noch in derselben Nacht auf der Fahrt ins Hospital starb. Drei Tage lang habe man sie nicht bestattet, in der Erwartung, dass sie wiederauferstehen werde, doch dann musste man sich in das Unabänderliche fügen.

Mich erstaunte, dass Ngozis Kirche noch existierte. Man hatte sogar begonnen, den Rohbau eines Kirchengebäudes zu errichten. Die Leitung der Kirche hatten Ngozis Brüder unter sich aufgeteilt. Amobi wirkte als ‘Pastor’, Chijioke als ‘Prophet’. Bei einem Besuch im März 2011 zeigten sie mir ihr Büro, gleich neben dem immer noch unvollendeten Kirchengebäude: zwei Schreibtische und ein Computer, aber noch kein Internet. Amobi hatte einen Theologie-Kurs an einem Bible Outreach College absolviert. Auf dem Schreibtisch lagen eine Missionsbroschüre und andere religiöse Traktate. Alles wirkte sehr nüchtern und geschäftsmäßig. Auch die Gottesdienste verliefen recht eintönig und hatten nichts, was mich fasziniert hätte.

Ngozi konnte ihr Publikum verzaubern und einen weiten Kreis von Menschen davon überzeugen, dass sie über außergewöhnliche spirituelle Kräfte verfügte. Ich habe allerdings bei meinen Besuchen in Alor Uno nie den Eindruck gewonnen, dass sie tatsächlich irgendwelche übernatürlichen, wunderbaren Dinge bewirkt hätte. Auch bei ihren Gegnern, den Anhängern der alten Religion und Zauberei, hatte ich nie das Gefühl, dass sie in der Lage gewesen wären, unsichtbare Kräfte zu manipulieren. Mein aufgeklärtes Weltbild hat also in der Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität keinen Schaden genommen. Woher mein tiefsitzender Agnostizismus rührt, ist mir nicht klar. Einige Bekannte, die so wie ich, aus Deutschland kommend, an eine afrikanische Universität oder Schule entsandt worden waren, begannen an Zauberei zu glauben (aber vermieden es, das Gespräch darauf zu bringen, so dass ich nur beiläufig davon erfuhr). Sie befürchteten, dass die Afrikaner ihrer Umgebung ihnen auf verborgene Weise Schaden zufügen könnten. In einigen Fällen flüchteten sie sich zurück nach Deutschland oder mussten sich in psychiatrische Behandlung begeben. Im Nachhinein scheint mir, dass ich mir die Gefahren, in die ich mich begab, nicht ausreichend klar gemacht habe. Niemand, der in eine fremde Welt eintaucht, kann absehen, wie die eigenen Gedanken sich verändern werden. Wahrscheinlich hat jeder der aus Deutschland entsandten Dozenten, Lehrer und Entwicklungsexperten unerwartete und irritierende Transformationen an sich beobachtet, aber darüber wurde kaum gesprochen. Europäer, die lange in Afrika gelebt haben, sind weitgehend auf sich allein gestellt, wenn sie reflektieren wollen, was die Begegnung mit afrikanischen Kulturen in ihnen verändert hat.



[1] Mein Haus lag am Stadtrand von Nsukka, in einer Siedlung auf einem Hügel, die in der Nachbarschaft ‘Beverly Hills’ genannt wird.

[2] Ein athletischer junger Mann, der Ngozi von Awkuzu nach Alor Uno begleitet hatte. Vor seiner Begegnung mit der Prophetin soll er als Straßenräuber gearbeitet haben.

[3] Der Präsident Nigerias, General Abacha, ließ 1996 fünf Parteien gründen, um die ‘Demokratisierung’ des Landes einzuleiten

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