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Emilie an Eltern und Geschwister:

über die Tage auf dem Schiff vor der Abfahrt und dann das Auslaufen

(Bremerhaven, 5. Nov. 1863)

M1, 63 Em 91

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Immer noch sind wir aufs Warten verwiesen, worüber wir aber gar nicht unzufrieden sind. Morgen (Fr) sinds 8 Tage, daß wir auf unsrem Schiff logiren ganz nahe am Land, so daß wir vermittelst eines Brettes an dasselbe kommen können. Meinen Brief von Bremen aus werdet Ihr erhalten haben, Ihr habt daraus ersehen, daß wir auch da länger zu bleiben hatten als wir glaubten. Hauptsächlich wegen Unwohlseins unseres Kapitäns; es kam uns das unerwünscht, seit einigen Tagen sehen wir aber ein, daß dies Unwohlsein uns gut bekam, denn wir haben gegenwärtig sehr starken Sturm, in der gestrigen Weserzeitung hieß es, daß bei 20 Schiffe verunglückt seien im Kanal, in dem wir uns jetzt auch befinden würden, wenn wir nicht aufgehalten worden wären. Unser Kapitän ist ein frommer Mann, der uns alle erdenkliche Liebe erweist; er hat ein Harmonium gekauft, mit dem wir uns schon recht ergözt u erquickt haben, da unsere ganze Reisegesellschaft singlustig ist, nach u nach lerne ichs auch wieder, es ist eine geraume Zeit, seit ich die Harfe an die Weiden Babylons hängte. Wir haben nun recht Zeit, uns in dem engen Plätzlein, das unser eigen ist, einzurichten, rings um mein Bettlein her habe ich an die Wand Nägel geschlagen, u dran gehängt was möglich war, so daß mir oft vorkommt, ich liege in einer engen Speißkammmer, wenn ich im Bett sitze, dann stößt mein Kopf an das obere Bett, in dem Rebekka Bienzle aus Möhringen b.St. (eine der Bräute) ihre Lagerstätte hat; die andere Braut ist Chatrina Höllerath aus Kornthal, sie hat ihr Lager ungefähr 1 1/2 Ellen breit weg von uns u sagt, wenn sie zu uns herüber sehe, dann komm's ihr vor, wie in einer Menagerie, wo jedes Stück einen besonderen Käfig hat. Der eine der Brüder heißt Hauser u ist ein Schweizer, ein ernster Christ u guter Sänger, er war früher Lehrer; der zweite Bruder heißt Bohner, ist aus Reihnpreußen (=Rhein-preußen); der hat einen kurzen Fuß, ist auch nicht der allerwiefste, aber nicht unverständig, doch haben sich die Bremer Frauen gewundert, daß unsere Gesellschaft in Basel ihn nach Afrika schickt, er geht als Schuhmacher; den Tag über halten wir uns in der großen Kajüte, die den mittleren Raum des Schiffes einnimmt, auf; diese ist etwas kleiner als die untere Speisekammer, in der Wand ist eine Bibliothek so angebracht u ein kleiner Ofen, was beides uns wohl bekommt.

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Morgens 8 Uhr ist Frühstück u Andacht, um 12 Uhr Mittagessen, 2 Uhr Kaffee, Abends 7 Uhr Nachtessen u Andacht u nachher Singen, bei dem wir an allen Bekannten herumkommen. Mittags von 1 bis 4 Uhr ist Lesestunde, wo Stillings Lebensgeschichte (gegenwärtig) von Bruder Hauser vorgelesen wird, wenn wir aus dem Kanal sind u die Seekrankheit vorüber ist, gehts ans Englischlernen, auch sollen wir Lieder auswendig lernen, nach Aufgaben, diese Ankündigung kam mir etwas spanisch vor, u ich dachte, der Bruder Hauser beginnt ein Herrschertalent zu entfalten, was mir aber durchaus nicht unlieb ist, ich werde so, ehe ich nach Afrika komme, der Worte eingedenk: der Mann ist des Weibes Haupt, u kann mich drin üben, daß ich meinem Mann ein 'gehorsames Gemahl' sei. Ich schrieb oben, daß wir vermittelst eines Brettes ans Land kommen können, daß dies ein gefährlicher Weg ist, sahen wir vorgestern Nacht, 9 Uhr, als wir noch singend beisammen waren; wir hörten Geschrei, es war auf dem Schiff neben uns, das morgen von Neujorg her in den Haven gekommen war, ein Mann auf dem Weg vom Land ans Schiff daneben getreten u hinunter gefallen, man kam ihm zu Hülfe, aber zu spät, nach einer halben Stunde zog man ihn todt aus dem Wasser. Dieser Mann hatte in Amerika ein kleines Anwesen seit längerer Zeit, u hätte nun sollen Soldat sein, das wollte er nicht, verkaufte alles u kam mit seiner jungen Frau u einem 2-jährigen Kind, um sich in seiner Heimath anzusiedeln, erreichte noch glücklich den Haven, er brachte gleich nach der Ankunft seine kranke Frau, die er unterwegs mit viel Liebe verpflegt hatte, in einen Gasthof, u wollte nun von dort aus noch einmal aufs Schiff, u kam so ums Leben; ich mußte unwillkürlich an Jonas denken. Gestern u heute war die Mutter u Schwester unseres Kapitäns an Bord, sie wohnen ungefähr 18 Stunden von hier, die gute Frau schien sehr gedrückt; ihren Mann, auch Kapitän, erwartet sie jeden Tag von Ostindien zurück, seit er fort ist, starb ihr eine verheurathtete Tochter an der Auszehrung, u 1 Jahr früher ein Sohn. Unser Kapitän ist ihre einzige Freude, sagte sie, weil er so fromm u gut ist, er ist unverheurathet, aber nicht mehr so jung; seinen Vater sah er seit 7 Jahren nicht. Gestern kam das Schiff, Dahome, auf welchem ich von Afrika herausreiste, von dort zurück, u liegt nun in unserer Nähe im Haven, ich möchte gern hingehen u die Stätte meiner damaligen Erfahrungen wieder beschauen, aber eine Frau könne nicht beikommen, sagte der Kapitän, man müsse förmlich hinaufklettern, darum begnügte ich mich, von unserem Verdeck aus hinüberzusehen.

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d. 8. Nov. Heut waren wir in Luhn, eine halbe Stunde von hier enfernt in der Kirche, vormittags, diesen Mittag benutzen wir zum schreiben u lesen; ist uns oft eigen zu Muthe, da wir hier in der Fremde so lange warten sollen, u wären so gerne noch länger daheim geblieben, ich muß oft an das Verschen denken: Er hat noch niemals was versehen in seinem Regiment, nein, was er thut u läßt geschehen, das nimmt ein gutes End.

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Wenn Ihr diesen Brief gelesen habt, so schicket ihn auch nach Gmünd, daß Fr.Merkle weiß, wo ich bin u meinem Theodor einen Kuß in meinem Namen geben kann, u dann möge sie den Brief an meine Freundin Nana Heller in Stuttgart, Calwer Haus, schicken, damit diese mit meinen anderen Freunden von meiner 'Wartens Aufgab' in Kenntnis gesetzt ist.

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An Gottreich in Basel schrieb ich von Bremen und von hier, u schickte ihm eine Ansicht von Bremerhaven. Am 11. Nov. ist der Geburtstag meines lb Ernst, am 19. der meine lb Mannes, am 10. Dez. Gottreichs, am 2. Jan. Theodors, die ich voraussichtlich auf dem Schiff feiern werde, vielleicht auch den der lb Martha, am 27. Jan; dies werden mir aber schmerzliche Tage sein. Wenn ich so durch die Straßen gehe u sehe ein Kind, dann wird mirs immer wohl u weh ums Herz, ich mache dann Vergleiche, u da ist aber selten eins so herzig wie die meinen, könnt ich sie doch einmal noch sehen.

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9. Nov. Seit 1/2 Stunde ist unser Schiff im Lauf, diesen Brief wird der Lotse mitnehmen, der das Schiff aus der Weser leitet; eben komme ich vom Verdeck, wo man jetzt das Land immer mehr aus den Augen verliert; ach Ihr Lieben, alle, lebet wohl, droben in der ewigen Heimath sehen wir uns gewiß wieder, wenn wir den Weg dahin nicht scheuen; er ist eine Kreuzesgestalt, das hab ich in reichem Maaß erfahren, aber ein wunderbar segensreicher Weg, ich möchte ihn um das höchste Weltglück nicht vertauschen.

In herzlicher Liebe Eure Emilie Christaller.

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