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Johann Gottlieb Christaller (und Steinhauser) an Joseph Josenhans

(London, 1.(-4.) Dez. 1852)

BM: BV 357 I 12

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Theuerster Herr Inspector!

In dem sitting-room der drei Brüder Gerst, Kefer und Maser beginne ich diesen ersten Brief an Sie, um Ihnen das Nähere über meine und Bruder Steinhausers Reise mitzutheilen.

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Am Do den 25. v. M. früh, nachdem Sie und die ganze Missionshausfamilie uns vier Brüder mit ihren Segenswünschen und Gebeten entlassen hatten, brachte uns der Omnibus rechtzeitig nach Haltingen. Dort bezahlten Brutschin und Plessing für ihr Gepäck bis Frankfurt, wir beide bis Mannheim, erstere nahmen Stehwagenbillette bis Carlsruhe, wir bis Freiburg, da uns ein Bruder der Stehwagen belehrte, und auch das Sizen auf die eine oder andere Weise nicht unmöglich war, nahmen wir zwei in Freiburg und alle vier in Carlsruhe abermals Stehwagenbillette bis zum Ziel der Reise dieses ersten Tages; vor Wind und Wetter ist man in den Stehwagen ebenso sehr geschüzt als in den nicht geschlossenen Wägen III. Classe, (die Plessing und ich auf unserer lezten Rückreise nach Basel wegen Verspätung durch den Pforzheim-Carlsruher Omnibus hatten benüzen müssen).

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Das Wetter war recht gut. Am Bahnhofe in Dinglingen wartete Bruder Steinhausers Vater und Bruder ihn nochmals zu begrüßen und ihm Küchlein, Fleisch und eine Flasche Wein zu übergeben, was er brüderlich mit uns theilte.

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Sonst begegnete uns auf der Eisenbahnfahrt nichts Erwähnenswerthes, außer etwa daß oberhalb Carlsruhe ein Jude zu uns einstieg, der mich für einen Angehörigen seines Volkes hielt, und als ich dies verneinte, dagegen sagte, ich sei ein Freund der [...] (hebr. Buchstaben), meinte er, ich wolle meine israelitische Herkunft nur verläugnen; als ich sodann um ihm zu zeigen, daß ich als geborener Christ das Hebräische erlernt, den Anfang des 1. Psalms nach unserer Aussprache sagte, dann aber auch nach der Betonung und Aussprache der Aschkanasim, wurde er seiner Meinung, daß ich ein Israelit sei, ganz gewiß, sonst könnte ich nicht Halach (=hebr.) sagen, und wollte zwei Kronenthaler, dann 200 fl wetten und sich gar den Hals abschneiden lassen, wenn es nicht so seie. Ich konnte ihm an dieser Täuschung zeigen, daß er sich in seinen Ansichten von Religion, besonders jüdischer und christlicher, vom Messias usw ebenso täuschen könne, aber auch was Bruder Steinhauser mit ihm redete, konnte ihn nicht davon abbringen, ich mußte ihn in meinen Gedanken ohne der Liebe für Israel Eintrag zu thun, eben auch noch zu den 'Halsstarrigen und Unbeschnittenen an Herzen und Ohren' rechnen. Seinen Hals hätte er sich noch einmal abschneiden lassen, eher als beugen vor dem Gekreuzigten.

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In Heidelberg trennten sich die Brüder Brutschin und Plessing, wir kamen um 1/2 5 Uhr in Mannheim an, bis wir aber unser Gepäck hatten und uns in einem Omnibus, der mehrere Male anhielt, endlich zu Eyssen und Claus, dem Spediteur unserer großen Kiste, dessen Namen uns Herr Meulen gegeben hatte, geführt wurden.

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Mittlerweile war es bereits 5 Uhr geworden und völlige Nacht. Wir hatten dieses Haus gewählt, weil uns Herr Meulen, ein geborener Mannheimer, mit dem ich mich auf der Eisenbahn unterhalten hatte, (Papier verderbt, d. i. wissen) ließen, daß es ganz nahe dem Abfahrtsort des Dampfschiffes sei - was aber nur etwa für Fußgänger bei Tage (durch den Schloßgarten) nicht aber für die Hinbesorgung des Gepäcks der Fall war. Herr Reihlen wohnt 1/2 Stunde davon jenseits des Rheins in seiner Fabrik, sein Tochtermann Herr Butterfaß, an den wir zudem keine besondere Adresse hatten, wohnt zwar in der Stadt, aber auch etwas entfernt, so nahmen wir die Einladung von Herrn Claus bei ihm zu übernachten an, er führte uns in ein Zimmer, mußte uns aber wegen seiner Geschäfte wieder verlassen, wir berathschlagten weiter über unseren Reiseplan, bis seine Frau kam, aber aus einem Besuche etwa bei Herrn Butterfaß wurde es nichts mehr. Wir unterhielten uns mit der Frau beim The u hernach als Herr Claus gekommen war, redeten beim Abendbrod hauptsächlich über die Basler Mission. Es sind liebe christliche Leute, ein noch junges Ehepaar, die zwei Kinder unter vier Jahren zeigten sich recht anhänglich aneinander. Herr Claus hatte, als er wiederkam, bereits auf den anderen Morgen um 1/2 5 Uhr eine Droschke für uns bestellt, die uns bereit fand. Wir hatten unsere Koffer hinuntergetragen, aber um den Hausschlüssel zu bekommen, mußten wir Herrn Claus wecken, der nur wünschte, wir hätten es früher gethan. Wir mußten den Abschied kurz machen, ich ließ mir das geeignetste Gasthaus nennen für Jgf Diez, falls sie über Mannheim geht, er gab uns das 'Rheintal' an.

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Um 5 Uhr waren wir auf dem Dampfboot der Düsseldorfer Gesellschaft, das wir bis Köln bezahlt hatten (ein anderes der Kölner Gesellschaft sollte um 7 Uhr abgehen). Ein Rheinnebel verhinderte die Abfahrt um 1 1/2 Viertelstunden, nachdem es eine Strecke gefahren war, mußte es wegen weiterer Nebel wieder stille liegen, und zwar wiederholt oder doch langsamer fahren, oder gar ein klein wenig der Strömung entgegen rückwärts treiben. So wurde der Lauf desselben bis unterhalb Worms etwa drei Stunden verzögert, so daß ich bange war, wir möchten an diesem Tage nicht weit kommen. Doch endlich verschwanden die Nebel, das Wetter war hell und schön und um 12 Uhr waren wir in Mainz, von wo es keinen Aufenthalt mehr gab als den des Ausschiffens oder Aufnehmens von Leuten und Waaren. Ich hielt mich aus Besorgniß mein Halsübel zu verschlimmern, meist in der Kajüte auf, wo ich mit ein paar Auswanderern aus Württemberg und anderen Leuten in Berührung kam, denen ich mitunter Tractate und Missionsschriften zu lesen gab. Letzteres erregte die Aufmerksamkeit einiger katholischer Herren, die glaubten, ich wolle geschenkt bekommene Schriften den Leuten verkaufen (dies that ich nicht) und nach einigen hin und her gewechselten Reden zeigte sichs, daß auch sie mich für einen getauften Juden hielten, was mich nicht wenig ergözte, die Leute so in ihrer selbstgemachten Einbildung befangen zu sehen. Daß ich aber, sobald genügend Veranlassung gegeben war, frei heraus sagte, wer wir seien, habe ich nie bereut, es hat uns im Gegentheil mitunter Gefälligkeiten z. B. Mittheilung von Adressen oder guten Rath zuwege gebracht. Vom Binger Loch an bis zum Loreley Felsen waren wir fast immer auf dem Vordeck mit einem artigen katholischen Studenten, der uns über die selbst im Winter so schönen und sehenswerten Ufer dieser Strecke des Rheines mit ihren geschichtlichen und geographischen Merkwürdigkeiten manches sagen konnte. Bei Coblenz giengen wir nochmals aufs Verdeck, um diese Stadt u die Festung Ehrenbreitstein besser zu sehen, so viel dies die Dunkelheit der Nacht zuließ. Vor Neuwied [...] (die Ecke des Briefes ist nicht lesbar) [...] der bei ev. Christen einen guten Klang hat, blickte ich durch ein Fenster der Cajüte, sobald das Schiff hielt und gedachte der dortigen Brüdergemeinde. Von Bonn, wo uns jener St(udent) verließ, kam ein Gastwirt aus Köln ins Schiff, der den oben erwähnten Auswanderern einen großen Dienst erwiesen hatte, indem er ihnen durch seine Weisungen wieder zu ihrem Reisegeld nach Bremen verhalf, um welches ein Mannheimer Wirth sie geprellt hatte, so daß sie von Köln wieder dahin hätten zurückkehren müssen. Er gefiel uns mit seinem etwas bramarbasierenden Reden nicht ganz, doch daß er jene Auswanderer gut berathen und behandelt hatte, war offenbar, und es war uns dann doch lieb, daß wir bei der Ankunft in Köln, etwa 9 Uhr nachts, noch keinen aus der Masse ganz unbekannter Leute, die uns anschrien, zu fragen hatten; zwei Männer, die seiner warteten, trugen unsere Koffer, denen wir mit wachsamen Augen, den Nachtsack in der einen, Huthschachtel und Schirm in der anderen Hand, eine ziemliche Strecke bis zum Wirthshaus 'Das Rheintal' (welches aber jedenfalls nicht soviel Zutrauen, wie das in Mannheim verdient,) folgten.

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Den anderen Morgen (Sa) hatten wir mit Umpacken zu thun und besahen uns den Dom, insbesondere die neuen prächtig gemalten Fenster (von König Ludwig in Bayern gestiftet). Von dem zurückgekehrt, ließen wir uns von unserem Wirthe einen Schein geben über Koffer und Nachtsack, die wir daließen, fuhren dann mit einem Dampfboot über den Rhein nach Deuz und von da mit der Eisenbahn über Düsseldorf nach Elberfeld. Von Deuz nach Düsseldorf ging es rasch durch das schöne fast ganz ebene Land längs des Rheines, nicht so von Düsseldorf nach Elberfeld, wo der Zug einmal über eine Viertelstunde unterwegs halten mußte und wo die große Unebenheit des Bodens den Bau der Bahn schwieriger machte. Besonders der letzte Theil dieser Strecke, als es in das Wupperthal gieng, bot ungemein viel Abwechslung dar, bald befand man sich in einem Einschnitt, bald öffnete sich links, bald rechts beiderseits die Aussicht auf die wohl angebaute und stark bevölkerte Gegend, keine andere Gegend ergözte uns so als das Wupperthal bei und mit Elberfeld.

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In Elberfeld waren wir zuerst bei meinem Oheim (d. i. Bruder der Mutter), dann führte uns dessen Sohn zu Herrn Kaufmann Frickenhaus, der sehr freundlich und liebreich sich eine kleine Weile mit uns unterredete, und von da nach dem Barmer Missionshause, wo besonders die drei Brüder der I. Classe uns mit Freude empfiengen, wie auch die Briefe von Bruder Kaufmann und Kittel. Gedachte drei Brüder haben ein eigenes Zimmer, die 8 Brüder der 2ten Classe sind in zwei Zimmern, obgleich sie die alten Sprachen nicht lernen, (dagegen neben dem Englischen Holländisch) haben sie doch sehr viel zu thun, besonders wegen der Repetition, soviel als Examen am letzten Tage des Monats; auch haben die älteren Brüder sozusagen eine eigentliche Gemeinde, wo sie alltäglich zu predigen und auch Seelsorge zu üben haben.

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Herr Inspector Wallmann sahen wir erst beim Kaffee (im ganzen Bergischen Land gibt es mittwochs und samstags Kaffee statt des Nachtessens.); daß er uns nicht grüßte, war uns allerdings auffallend, aber über Tisch sprach er einiges mit uns und von den ältesten Brüdern hörten wir hernach, wie sehr sie ihn lieben und schätzen ungeachtet seines schroffen einsilbigen Benehmens, was nun einmal seine Eigentümlichkeit ist, auch unterwegs grüße er niemand (kennt auch niemand wegen Kurzsichtigkeit).

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Die Abendandacht hielt er jeden Abend in der Weise, wie sie im Basler Missionshause Sonntagabends im Speisesaal stattfindet. Auch bei der Morgenandacht am Sonntag, dem 1. Adventsfest, waren wir zugegen und lernten da den Mann abermals um seines Ernstes und seiner Gebetsinbrunst recht schäzen, überm Frühstück redete er mehr mit uns in ernster und wohlthuender Weise über den Beruf eines Missionars, insbesondere in einem solchen Todeslande wie Westafrika, war aber ohne 'guten Morgen' oder ein ähnliches Wort des Grußes gekommen, nur zur hinteren Thür herein und raschen Schritts seinem Plaz am Tische zu, so gieng er auch wieder weg und nachmittags konnten wir uns nur von seiner Frau verabschieden, weil er gerade in der Kirche war.

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Nachdem wir uns die Bildergruppe in dem Speisesaale darstellend die chinesischen Missionare in europäischer und chinesischer Tracht, die südafrikanischen mit ihren Frauen, die Borneo Missionare ebenso, ferner bekehrte Eingeborene, hauptsächlich von Keudsen (?), Landschaften, Stationen usw angesehen und noch weiter freundlich mit den Brüdern verkehrt hatten, giengen wir mit den letzteren nach Elberfeld zurück und in die neue lutherische Kirche daselbst, wo Pastor Sander predigte über Sach. 9,9. 'Du Tochter Zion, freue dich sehr', als Ursache der Freude nahm er einen Part nach dem anderen aus den angeführten Versen vor, bezog z.B. das Erwecken der Kinder Zions über die Kinder Griechenlands auf den Weg des Evangeliums über die griechische oder Weltweisheit und wies auch auf das in Frankreich sich erhebende Kaisertum als das antichristische Reich in Verbindung mit dem Menschen, der die zweifache Krone trägt, hin. Von der Kirche gieng Steinhauser zurück ins Missionshaus - beim Mittagessen erst habe ich Herrn Inspector W. recht herzlich und freundlich gesprochen - ich war bei meinen Verwandten, holte gegen 3 Uhr Steinhauser ab und von meines Oheims Hause giengen wir zur Eisenbahn, wo der Zug um 3 Uhr 50 Minuten abgieng, weßhalb wir den Besuch bei Herrn Frickenhaus nicht wiederholen noch sonst einen mehr machen konnten. Aber so kurz auch der Aufenthalt in Elberfeld und Barmen war, so hat uns doch dieser Abstecher nicht gereut, mich jedenfalls nicht, da ja uns der längstgehegte Wunsch erfüllt war, meine Verwandten kennen zu lernen.

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In Düsseldorf konnten wir in dritthalb Stunden verweilen, da die beiderseitigen Bahnzüge diesmal nicht zusammentrafen, wir suchten Herrn Pastor Bohrhold auf, mit dem wir nur einige, aber herzliche und erquickende Worte sprechen konnten, weil er einen starken Katarrh hatte und doch gleich darauf (in der Nacht) nach Düsseldorf mußte, das Hlg Abendmahl zu reichen. Ein Knabe von ihm führte uns in Bruder Isenbergs Haus und weil er samt Frau in der Kirche war, auch dahin, wo wir von Pastor Kraft eine köstliche Adventspredigt hörten über Luc. 4: 'Gelobet sei der Herr der Gott Israels, denn er hat besucht und erlöst sein Volk. ' Unten war es, weil die Predigt schon begonnen hatte, als wir kamen, geschlossen, aber als wir eine Wendeltreppe hinaufgiengen, freute es mich inniglich, hier bis vor die Thür heraus alles gedrängt voll Leuten zu sehen, so daß wir kaum in das Innere der Kirche sehen konnten; doch verstanden wir jedes Wort von der ungemein klaren und faßlichen, recht biblischen und die Gemüther anfachenden Predigt. Bruder Isenberg warteten wir vor der Kirche ab, giengen auf ein paar Augenblicke zurück in sein Haus und dann begleitete er uns zur Eisenbahn, wo wir kaum noch recht kamen. Um 8 Uhr 10 Minuten in Deuz angekommen, giengen wir mit einem unterwegs gewonnenen Freunde über die Schiffsbrücke nach Köln zu Herrn Kaufmann Simonis (Große Witchgasse Nr. 96), dessen Namen uns Herr Meulen genannt u den auch Herr Claus in Mannheim zu grüßen uns gebeten hatte. Herr Simonis, ein schon ältlicher, aber Zutrauen erweckender freundlicher Herr kennt Herrn Hoffmann, Pfarrer Blumhardt usw, wir sprachen mit ihm und seiner Frau und Sohn (während sie uns noch Suppe und Fleisch zum Nachtessen bringen ließen) ein paar Stunden, hauptsächlich auch wegen der Reise von Jgf. Diez. Herr Simonis erklärte offen, da so manche Basler Missionare des Weges noch kommen könnten, würde ihm ihre regelmäßige Beherbergung doch zuviel Störung machen, aber bei einem Frauenzimmer sei es etwas anderes, er sei gerne bereit, Frl. Diez aufzunehmen. Wir hatten natürlich nur um den passendsten Gasthof für sie gefragt. Was die Weiterreise nach London betrifft, so glaubten Herr Simonis und Sohn, der Fahrt mit dem von Ostende unmittelbar nach London gehenden Schiff den Vorzug geben zu sollen wegen der Umständlichkeiten in Dover; sie würden dann Frl. Diez von dem Agenten dieser Dampfschifffahrts-Gesellschaft in Ostende St. Amour empfehlen. Der Sohn begleitete uns bis in die Nähe unseres Gasthofes, und von hier brachen wir den anderen Morgen 6 Uhr auf (der Hausknecht führt uns die Koffer) zum Bahnhof der Rheinisch-Belgischen Eisenbahn, wo wir für die ganze Fahrt nach London bezahlten und um 7 Uhr abfuhren.

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Da giengs nun den ganzen Tag fort, in Veroners, der ersten Station in Belgien mußten wir die Pässe zeigen und kamen dann in eine Wagenabtheilung zu etlichen Engländern, die auch über Ostende und Dover nach London wollten, da gab es schon einigermaßen Gelegenheit, sich im Englischen zu üben; in Molines mußten wir auf den Zug von Brüssel warten, in Gent nochmals die Wagen wechseln und kamen etwa halb 7 Uhr in Nacht und Regen in Ostende an. Unser Gepäck ins Zollhaus zum Abfahrtsort des Dampfschiffes zu bringen, kostete jeden 1 1/2 Francs (Taxe), ebenso uns samt Gepäck (mit etwa 1 Dutzend anderen Reisenden) in einem kleinen Boot etwa eine halbe Stunde weit unter starkem Regen und bei bewegter See zum Dampfschiff zu bringen.

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Das vollgepfropfte Boot glitt wie eine Nußschale über die Wellen, man mußte auf einer Leiter hinab, und als es nach vollendeter Fahrt mit Mühe dem Dampfschiff genähert und daran befestigt war, in letzteres hinaufsteigen, ich stürzte statt mit aufrechten Füßen aufs Verdeck zu kommen, auf die Knie und dachte dann an Wilhelm von der Normandie 'Ich ergreife dich, England'. Das Flämisch der schreienden Bootsleute verstand ich nicht, es deuchte mich aber troz Finsterniß und Wogen lustig auf dem schaukelnden Boote, weil ich mich unter dem Schirm des Höchsten wußte. Auf dem Dampfschiff war es nun freilich nicht sehr heimelich, weder oben noch unten, außer Anfang als Steinhauser und ich als einzige Reisende II. Classe in der kleinen Cajüte beisammen waren und von einem Rest eines Mainzer Brodlaibchens aßen. Steinhauser suchte die englischen Herren, fand sie alle in einer schöneren Cajüte und holte mich auch hin, aber es zeigte sich bald, daß wir kein Recht dahin hatten. So hatte uns das Herumstolpern nichts genüzt, und ich gieng wieder zurück in die kleine Cajüte; schon aber verspürte ich die Wirkungen von dem Schwanken des Schiffes und erfuhr sie in bekannter Weise einigemal, doch so, daß ich mich nach den paar krampfhaften Zusammenziehungen des Magens jedesmal wieder ordentlich fühlte. Steinhauser blieb auf dem Verdeck auch nicht verschont.

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Endlich landete das Schiff in Dover, und zwar hart am Ufer (zu anderen Zeiten kanns vorkommen, daß man in Ostende vom Lande aus sogleich das Dampfschiff besteigen kann und dagegen in Dover nicht landen kann, sondern in den Booten eine Strecke weit ans Ufer zu fahren hat, es hängt von Ebbe und Flut und vom Wetter ab.) Auf der Elberfeld/Düsseldorfer Bahn hatte mir ein preußischer Soldat, der diesen Zug nach England schon oft gemacht, eine Adresse aufgeschrieben an seinen Freund Mr. Harrington, Zoll Agenten, nach diesem fragten wir, und hatten so um die Deutschen, die uns ihre Dienste anbieten wollten, die aber den drei Brüdern Grosby so mißfielen, uns nicht zu bekümmern.

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Im Zollhaus gieng alles in schöner Ordnung vor sich, Schwierigkeiten hatten wir keine und folgten dann Mr. Harrington in das Gun Hotel (Gasthof zur Kanone), wohin unser Gepäck gebracht wurde. Wir ließen uns in dem freilich in englischer Pracht eingerichteten Gasthofe Kaffee geben und dann in ein schmales Zimmer mit zwei Betten führen, die wir aber der wenigen Stunden von 2-6 Uhr morgens nicht benüzten, nachdem ich die Zusicherung erhalten, daß wir sie dann nicht bezahlen dürfen, ich brachte aber am Morgen doch nur 1Sh deßhalb in der Rechnung weg und wir hatten zu bezahlen für Kaffee 3 Sh, für Zimmer 2 Sh, Aufwartung 2 Sh, zusammen 7 Sh. Mr. Harrington rechnete für sich 1 1/2 Sh, was wir ihm gerne gaben, denn er begleitete uns auch noch zur Eisenbahn, von wo der Zug morgens 7 Uhr abgieng und uns dann um 12 Uhr nach London brachte. (Außer 3 1/2 Sh für das Gepäck vom Schiff zum Gasthof zahlte ich 1Sh, von da zum Bahnhof hatten wir in England nichts mehr zu bezahlen, dagegen mußten dem Kutscher, der uns zu Herrn Youngs Haus und von da zu Mrs. Bitter brachte 3 1/2 Sh. gegeben werden). Mr. Young war nicht zuhause, seine Frau wußte aber schon, wohin wir kommen sollten, nemlich nicht zu Ms. Raynes, wo (zu unserer freudigen Überraschung) noch die drei Brüder unserer Classe waren, sondern zu Mrs. Bitter, deren verstorbener Mann wahrscheinlich ein Deutscher war, so daß die Tochter in Neuwied und Holland erzogen und gebildet wurde, sie spricht aber trefflich Englisch. Außer diesen Mutter und Tochter ist noch ein Frauenzimmer da, Madame Robiens, deren Vater auch ein Deutscher war. Herr Young bestimmte dieses Kosthaus für uns aus Rücksicht auf einen Wunsch von Dr. Steinkopf, zu dessen Gemeinde die Familie gehört. Br. Wirns war auch da, und gegenwärtig herbergen hier: ein schwedischer Geistlicher, der der wenigen schwedischen Einwohner, noch mehr aber der ab und zu gehenden schwedischen Matrosen wegen hier angestellt ist, zwei schwedische Missionare aus Lund, von denen der eine nach China, der andere nach Madagascar oder zu den Gallas gehen will, endlich ein württembergischer Candidat der Theologie, der aber anfangs nächster Woche London verläßt, um seine Ausbildungsreise auch nach Nordamerika auszudehnen, Carl Günther aus Heilbronn.

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Am Dienstag Abend wollten wir die drei Brüder bei Ms. Rayns gleich besuchen, trafen sie aber nicht, wohnten dagegen einer Versammlung der Brüdergemeinde bei, wo insbesondere des Schiffes, das vor 100 Jahren erstmals und seither alljährlich den Weg nach Grönland machte und einen Unfall erfuhr, gedacht wurde, dann Briefe gelesen u Ansprachen gehalten wurden, u. a. auch von Dr. Steinkopf; damit war ein Lebewohl verbunden, in dem Brode und zwei bis dreimal Tasse The einem jeden Anwesenden angeboten wurden. Ich war freilich von der Reise her zu sehr ermüdet, als daß ich hätte von diesen englischen Reden viel Gewinn ziehen können. Am Mittwoch VM (d. i. Vormittag) kamen die drei Brüder zu uns und wir giengen mit ihnen (she Anfang des Briefes), abends waren sie bei uns, von Mrs. Bitter zum The eingeladen. Am Donnerstag waren wir zuerst allein bei Mr. Young, dann mit Gersthofer und Maser im Missionshause (nicht Islington-College) in Salisbury Square, wo die beiden Secretäre der C. M. S. Mr. Venn u Major Straith von den drei Brüdern Abschied nahmen (Herr Venn betete mit uns kniend) und uns sich vorstellen ließen. Wir beide bekamen gleich Yorubagrammatik mit Wörterbuch (von Crowther) geschenkt mit der Aussicht auf eine baldige Einladung zu Mr. Venn und wohl auch Major Straith. Dann machten wir noch sonstige Gänge in der Stadt mit den drei Brüdern, halfen ihnen des Abends einpacken, waren des Abends zum The eingeladen von Ms. Rains, die an sonstigen Kostgängern Missionar Graf hatte und einen Schullehrer Young, der mit Unterbrechung, 22 Jahre in Sierra Leone gewesen ist und im Frühjahr dahin zurückgeht. Nachts hatten wir fünf Brüder noch einmal eine Classenkonferenz zusammen.

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Am Freitag frühstückten wir eine halbe Stunde bälder als sonst, um vor 9 Uhr in der Wohnung der drei Brüder zu sein, denen wir noch ein wenig halfen, bis alle ihre Sachen auf zwei Gefährte geladen waren, in denen wir dann, sieben Personen an der Zahl (Missionar Graf, der nach Sierra Leone zurückgeht, und Ms. Rains eingeschlossen) zu der Great Western Railway-Station geführt wurden. Dorthin kamen auch Bruder Hinderer mit Frau und die englischen Missionare, die ganze Reisegesellschaft, die am 5. Dez. von Plymouth zunächst nach Sierra Leone abgehen sollte, besteht aus 13 Personen, eine Abreise so vieler auf einmal war der Ms. Rains noch nicht vorgekommen. Wir blieben bis sich der Zug in Bewegung setzte und giengen dann am Hydepark beim Buckingham-Palace, James's Park vorbei (wobei wir eine Abtheilung Grenadiere mit Militärmusik vom James's Palace zum Buckingham-Palace ziehen sahen) durch einige der bedeutendsten Straßen den weiten Weg zu Ms. Rains und dann in unsere Wohnung zurück.

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Nun haben wir aber schon den 4. Dez., u noch ist dieser Brief, den wir doch sobald als möglich in Basel wünschten, mit den Bemerkungen für Frl. Diez nicht fertig. Wir bejammerten es in diesen Tagen oft, daß wir keine Zeit zum Schreiben finden konnten, besonders auch wegen der hiesigen Zeiteintheilung. Um 9 Uhr morgens ist breakfast, vorher konnten wir heute das erste Mal zum Schreiben kommen, weil wir kein warmes Zimmer und in unserem Schlafzimmer keinen Tisch hatten; beim breakfast bleibt man eine halbe bis eine Stunde sizen, beim dinner, das mit zwei Ausnahmen um 3 Uhr ist, noch länger, um 5 Uhr hat man The und um 9 Uhr oder später supper (Butterbrodschnittchen, Käse und Bier).

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Heute hoffen wir, von meinem Freunde Christian Strubel abgeholt, zu Herrn Knollete, Herrn Dr Steinkopf usw zu kommen, und von morgen an eine regelmäßigere Zeitbenüzung auch mit Lese- und Sprachstunden bei Mr. Bitter samt den zwei schwedischen Missionaren zu haben. Diesem Briefe werden Sie es freilich wohl anmerken, daß er nicht in behaglichen Musestunden ordentlich ausgedacht werden konnte, er ist wohl auch zu lang geworden, aber Sie werden mir das zugut halten.

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Von einem Besuch (mit Ch. Strubel) bei Herrn Knollete und einigen anderen Gängen zurückkommend, wobei uns der Heimweg sehr viel Zeit wegnahm, da wir gerade keinen Omnibus benuzen konnten, muß ich nun zum Schlusse eilen. Mr. Knollete beschenkte uns beide mit einer Taschenbibel und den Evangelien Matthäus und Johannes in der Accrasprache von Hansen. Morgen gedenken wir in der Savoychurch zum Hlg Abendmahl zu gehen und uns diesen Abend bei Dr. Steinkopf dafür anzumelden. Die deutsche Gemeinde feiert das Hlg Abendmahl ja am ersten Sonntag des Monats. Sonst wollen wir aber an den Sonntagen die englischen Gottesdienste besuchen.

Sie haben wohl die Güte, diesen Brief auch den Brüdern mitzutheilen, die wir alle herzlich grüßen; sie werden bald Bruder Gersts Brief erhalten, den er in Plymouth vollenden und dann uns zuschicken will. Herzliche Grüße an Frau Pfarrer, Bruder Zuvamba, Ries, Herrn Günzler und Mörike, insbesondere aber an Sie mit Ihrer Frau u Kindern von Ihren in Dankbarkeit und Liebe herzlich ergebenen Gottlieb Christaller und A. Steinhauser. (Rückseite): London 1. und 4. Dezember 1852, Gottlieb Christaller A. Steinhauser.

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