Startseite / Archive / 2015 / 3.2 Die Tuareg - Die Aufstände 1962-1964
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1. Einleitung

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Der Aufstand Alfellaga  [1] der Tuareg gegen die malische Regierung ging von Kidal aus (Informationszentrum 22.09.2014) und begann mit der Erbeutung von Waffen und Munition (Lecocq 2002: 129). Er wurde in ihrer intensivsten Phase von den Kel Adagh gesteuert, legte den Grundstein für die bis heute andauernden Rebellionsversuche der Kel Tamasheq und Kel Adgah in Nordmali. In diesem Text möchte ich die Ursachen, den Verlauf und die Auswirkungen der Rebellion vorstellen.

2. Auslöser und Gründe der Rebellion

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Die Rebellion wird von unterschiedlichen Akteuren und Quellen jeweils anders begründet.

Die Hauptakteure unter den Tuareg, die Kel Adagh, haben eine eigene Rebellionshistorie, die über 'Alfellaga' bis zu der Rebellion des Jahres 2012 reicht (Lecocq 2010: 129-134). In ihrer Geschichtserzählung war der Auslöser der Mord an Allaag Albachir  [2] durch die Wüstenpolizei ('Goum' oder 'goumier') im Jahre 1954 (Lemke 2013: 59). Sein Sohn Ellediag Alla erfuhr erst Jahre später, wer die Schuld für den Tod seines Vaters trug, und beschloss, Rache zu nehmen (Lecocq 2010: 131).

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An der Geschichtserzählung der Kel Adagh lassen sich gut die kulturellen Konzepte beschreiben, die eine Eingliederung in den malischen Staat erschweren und Rebellionen anfachen können. Die Kel Adagh sind ein Kriegervolk, was vor allem von den Männern Kriegshandlungen als Vergeltung für erlittene Schande verlangt. Ihr stark hierarchisches Gesellschaftssystem sieht 'Imajeghen' als oberste Klasse, dann 'Imghad' / 'Imrad', die deren Vasallen sind und unter denen die 'Ineslemen', die Marabouts stehen. Ganz zu unterst stehen die 'Iklan', die Sklaven und außerhalb dieses Systems die 'Inaden', die Künstler. [3]

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Der Begriff 'egha', der mit Rache übersetzt werden kann und in der Kultur der Kel Tamasheq eine sehr große Rolle spielt, ist identitätsstiftend und wirkt im Zusammenspiel mit 'eshik' (Ruhm) und 'takaraket' (Schande) als Legitimation für die Rache von Ellediag Alla. Lecocq spricht in diesem Zusammenhang von "Berberpsychologie" als gravierend andere Denkweise der Tuareg, die eine tiefverankerte Stereotypisierung und Vorurteile gegenüber allen Nicht-Tuareg begründet. [4]

Neben diesen kulturellen gab es auch noch eine Reihe politischer Gründe, die als Mitursache für die Rebellion angeführt werden können.

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Nach der Unabhängigkeit und der Gründung der Nationalstaaten 1960 wurde das Siedlungsgebiet der Tuareg auf verschiedene Staaten verteilt, und ihre, für ihr Selbstverständnis als Nomadenvolk unabdingbare Freizügigkeit empfindlich beschränkt. Weiter fühlten sie sich dem neuen Staat, der von Mitgliedern anderer ethnischer Gruppen beherrscht wurde, nicht zugehörig (Lecocq 2010: 117). In einem offenen Brief an Präsident de Gaulle schrieben sie 1957:

"Nos intérêts et nos aspirations ne pourraient dans aucun cas être valablement défendu tant que nous sommes rattachés à un territoire valablement représenté et gouverné par une majorité noire dont l’ethnique, les intérêts et les aspirations ne sont pas même que les nôtres."  [5]

Dieses Zitat verdeutlicht die starken, auch hautfarbenbezogenen Ressentiments auf Seiten der Tuareg.

Ein neues Ehegesetz der Regierung (Februar 1962) wurde als anti-islamisch und nicht vereinbar mit lokalem Brauchtum empfunden(Lecocq 2002: 133), die Abschaffung der Sklaverei und die Auflösung der traditionellen Häuptlingstümer (chieftaincies) traf die Tuareg in ihrer Identität und ihrer Organisation der Wirtschaft empfindlich (Lecocq 2002: 116-117).

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Die Regierung Modibo Keitas erließ zudem Vorschriften, welche die traditionelle Lebensweise der Tuareg als Viehzüchter gefährdeten. [6] Obwohl die Regierung kaum in den Ausbau von Brunnen und tierärztlicher Versorgung investierte, plante sie dennoch, Malis Wirtschaft durch Export von Primärprodukten, vor allem Vieh, zur Blüte zu bringen. Mit der Einführung des Franc Malien war es nun nötig, Gewinne offenzulegen und in die Landeswährung zu tauschen. Die Kel Adgah brachten ihre Herden traditionell nach Algerien und tauschten sie vor Ort gegen Lebensmittel. Damit umgingen sie das Steuersystem des Staates, was die Regierung dazu veranlasste, eine enorme Steuer auf den Verkauf von Vieh außerhalb des Landes zu erheben (Lecocq 2010: 139). Weitere Viehsteuern für Herden im Inland folgten (Dayak 1996: 56).

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Die Steuererhöhung wird oft als Hauptgrund für die Rebellion angegeben, dies ist aber eigentlich nicht zutreffend. Das Problem war, dass die Kel Adagh als nomadisch lebendes Volk schlecht besteuerbar waren und noch nie Steuern gezahlt hatten, weder unter den Franzosen noch der neuen Regierung, und damit die Wut dieser auf sich zogen (Lecocq 2010: 142).

Eventuell hat die rigorosere Durchsetzung unter den nördlichen Tuareg Malis, jegliche Form von Sklaverei komplett zu verbieten, auch eine Rolle gespielt. Dadurch mussten sie ihre ehemaligen, nun freien Sklaven für ihre Arbeit bezahlen, was eine weitere finanzielle Last darstellte. [7] Als weitere Gründe kann man die Situation nennen, als nach der Unabhängigkeit eine Konzentration von malischen Truppen in Nordmali erfolgte, um die französischen Einheiten zu ersetzen und sicher zu stellen, dass die Franzosen das Land auch tatsächlich verließen. Die Truppen beschlagnahmten Kamele, vergewaltigten und plünderten. Dies führte dazu, dass die Kel Iforas 1962 zu rebellieren begannen (Dayak 1996: 56).

Diese wirtschaftlichen Maßnahmen, die von den Tuareg als Diskriminierung angesehen wurden, und das Zusammenwirken von politischen und ethnischen Konflikten mit den persönlichen Motiven der Akteure und den kulturspezifischen Eigenheiten können als Gründe für die Rebellion identifiziert werden.

3. Ziele der Rebellen

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Die Unzufriedenheit der Tuareg mit den bestehenden und sich ständig verschlechternden Verhältnissen und ihre Ablehnung der Politik der malischen Regierung führte zu einer Rebellion, die in erster Linie ‚gegen‘ ebendiese Verhältnisse gerichtet war und keine Leitidee für irgendeine politische Lösung hatte. Die Rebellion war ein Versuch, die eigene kulturelle Identität und ihre Lebensweise zu retten (Lecocq 2010: 134).

Sie erhofften einerseits den Zusammenschluss von Teilen Westafrikas in der "Organisation commune des Régions Sahariennes", wie ihn die Franzosen zeitweilig planten, wo sie größere Freiräume hätten (Lemke 2013: 57). Andererseits wurde natürlich auch die uneingeschränkte Unabhängigkeit als Ziel genannt (Lecocq 2010: 168).

4. Verlauf der Rebellion:

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Zeydag Attaher, ein hoher Führer der Kel Adagh, hatte eine Gruppe Männer um sich versammelt, die seine Vision von einem unabhängigen Adagh bzw. Tamasheqland teilten. Sie nutzten den französischen Nuklearstützpunkt in Takormiasse (Algerien) zu Organisations- und Versammlungszwecken. Von dort aus organisierten die Beschaffung von Waffen und die Durchführung von Überfällen. Waffen wurden größtenteils mit Geld von Unterstützern oder Einnahmen aus Raubzügen finanziert aber teilweise auch durch Raubzüge, Entführungen und Lösegeldzahlungen. Die Rebellen gehörten größtenteils den Kel Adagh an, wobei auch vereinzelt Mitglieder anderer Tuareg-Gruppen sich am Aufstand beteiligten (Lecocq 2010: 136-140). Sie nutzten Kamele zur Fortbewegung in dem unwegsamen und für Fahrzeuge unpassierbaren Gefechtsgebiet. Wenngleich sie damit der malischen Armee einigen Widerstand leisten konnten, waren sie den Regierungstruppen am Ende wegen ihrer veralteten Waffen und der geringen Zahl ihrer Kämpfer weit unterlegen.

Die malischen Truppen setzten sich aus der 'Compagnie de Commandos Autonomes' (CCA), der Basiseinheit der malischen Armee, sowie den umfunktionierten 'goum' Einheiten, den 'Groupes Nomades d'Intervention de la Gendarmerie' (GNIG) zusammen. Auf dem Höhepunkt der Rebellion im Oktober 1963 bekämpften 2.200 malische Soldaten, ausgestattet mit zwei Flugzeugen und 35 gepanzerten Wagen, sowie schwerer Bewaffnung eine maximale Anzahl von 200 Rebellen (Lecocq 2010: 136-142).

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Trotz ihrer zahlenmäßigen und ausrüstungsbedingten Übermacht konnte die malische Armee die Rebellion nicht beenden. Die Regierungstruppen waren zwar wesentlich besser bewaffnet als die Rebellen, kannten aber das unwegsame Terrain nicht und waren somit weniger beweglich. Sie verübten Übergriffe auf die Zivilbevölkerung, bei denen Rache verübt und Geiseln genommen wurden, um ihnen Informationen zu entlocken (Dayak 1996: 129). Dieses Vorgehen der Regierungstruppen zeichnete sich durch extreme Willkür und Brutalität aus, was den Hass der Rebellen weiter schürte (Lecocq 2010: 150-152). Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen von einer Armee, die mit Panzern und modernem Kriegsgerät gegen kamelberittene Krieger mit veralteten Waffen vorging (Dayak 1996: 57; 129).

5. Gefechte während der Rebellion 1963/64  [8]:

Karte 1: Mali während der Rebellion 1963/64

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Keita sicherte sich durch diplomatische Beziehungen die Unterstützung Marokkos und Algeriens durch Verleugnung der wahren Rebellionsgründe und Darstellung der Tuareg als "nostalgische Verehrer der Kolonialzeit" Dadurch wurde den Tuareg der Rückzugsweg Richtung Norden abgeschnitten. Teilweise willkürliche Hinrichtungen, vergiftete oder verminte Brunnen und Erschießungen von den Viehherden waren an der Tagesordnung (Dayak 1996: 57).

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Marokko und Algerien unterstützten Mali nun bei der Verhaftung von Rebellenführern; vor allem die Verhaftung Elledis im März 1964 brach der Rebellion das Genick (Lecocq 2010: 155-156). Die Rebellen wurden gefoltert und so zur Preisgabe weiterer Verbündeter gezwungen, ohne traditionellen Kopfschleier - für die Tuareg zu dieser Zeit eine unvergleichliche Schande - durch die Straßen in Kidal und Adagh getrieben, um so die Bevölkerung und Sympathisanten zu demoralisieren. [9] Weitere Androhungen von Gewalt, wie der Einsatz von Napalmbomben wurden angedroht. Tuaregfrauen und -kinder wurden eingesperrt (Lecocq 2010: 159-161).

Dies führte dazu, dass ein großer Teil der Rebellen die Waffen niederlegte. Nur ein kleiner Teil Kämpfer der ersten Stunde wollte die Rebellion fortsetzten und wurde von den malischen Soldaten getötet. Am 15. August 1964 erklärte die malische Regierung den Sieg über die Rebellen und somit das Ende der Rebellion (Lecocq 2010: 162). Die Folgen der Kämpfe und der Verlust von Vieh zwangen viele Tuareg zur Sesshaftigkeit (Dayak 1996: 57), was von verstärkten Bestrebungen der Regierung noch intensiviert wurde. Für sie bedeutete das sozialer Abstieg und Armut - die Dürren der folgenden Jahrzehnte trieben diesen Prozess weiter voran (Lecocq 2010: 131).

6. Fazit

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Das Heldenepos eines kontinuierlichen Aufbegehrens gegen Fremdherrschaft findet in 'Alfellaga' nach der ersten Rebellion von 1916, in der die Kolonialmacht Frankreich bekämpft wurde, seinen Anknüpfungspunkt und dient mit den erlittenen Traumata nach wie vor als kraftvolle Rechtfertigung für Unabhängigkeitsbestrebungen. Generell lässt sich sagen, dass die Rebellen sich in der Hoffnung auf internationale Unterstützung ihrer Sache zu naiv und optimistisch gaben. Ihr Kampf blieb weitestgehend ohne internationale Aufmerksamkeit - ein Fehler, den sie bei zukünftigen Rebellionen nicht wiederholen würden (Lecocq 2010: 167-168).

Literaturhinweise

Alesbury, Andrew 2013

'A society in motion: The Tuareg from the precolonial era to today'. In: Nomadic Peoples, 17, 1: 106-125

Boilley, Pierre 2012

Les Touaregs Kel Adagh, Paris : Karthala

Coulibaly, Tiéfolo 2012

'Irrédentisme Touareg au Mali'. Maliweb.net. http://www.maliweb.net/insecurite/irredentisme-touareg-au-mali-67502.html (21.9.2014)

Dayak, Mano 1996

Die Tuareg Tragödie. Bad Honnef

Hofbauer, Martin und Münch, Philip (Hrsg.) 2013

'Mali. Wegweiser zur Geschichte'. Herausgegeben im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Paderborn: Schöningh Verlag, http://www.mgfa-potsdam.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/wegweiserzurgeschichtemali.pdf?PHPSESSID=81c1e6402c930fab90d8f27da763bb28 (20.01.2015)

Informationszentrum Asyl und Migration 2014

'Briefing Notes'. www.refworld.org/docid/542a62274.html (19.04.2014)

Lecocq, Baz 2002

'That Desert is Our Country: Tuareg Rebellions and Competing Nationalism'. In: Contemporary Mali (1949-1996) Dissertation, Faculty of Social and Behavioral Sciences. University of Amsterdam

Lecocq, Baz 2010

Disputed Desert Decolonisation, Competing Nationalism and Tuareg Rebellions in Northern Mali. Leiden

Lemke, Bernd. 2013

Mali und die Entkolonialisierung. In: Hofbauer, Martin / Münch, Philipp. [Hrsg.] 2013. 'Wegweiser zur Geschichte. Mali'. Paderborn: Schöningh, 49-61



[1] Der Aufstand von 1963, der im übrigen Mali gemeinhin als „die erste Tuareg-Rebellion“ bezeichnet wird, heißt bei den Tuareg-Klans der Region Adrar des Ifoghas Alfellaga = ‚Rebellion‘ (Lecocq 2002: 120). Die Kel Ifoghas, auch Kel Adagh (var. Kel Adrar, Kel Adghagh) genannt, sind eine Konföderation von Tuareg-Klans, die in der Region Adrar des Ifoghas leben, einem 250.000 Quadratkilometer umfassenden Gebirgsmassiv in der Sahara, Mali.

[2] Prominenter Rebell der Kel Adagh, der die französische Vorherrschaft nicht anerkannte und dadurch nach deren Empfinden den Frieden gefährdete.

[3] Ausführlich bei Lecocq 2010: 4 ff.

[4] Lecocq zeigt, dass Ehre nur durch kriegerische Handlungen wieder hergestellt werden kann. 2010: 120

[5] Zitiert und erläutert bei Coulibaly, 2012

[6] Nach Lecocq war die Einschätzung der Tuareg durch die Regierung von wissenschaftlichen und kolonialen Ideen zur Organisationsform einer Gesellschaft und vor allem von Unverständnis gegenüber den Tuareg, deren Lebensweise als Anarchie angesehen wurde, bestimmt. Diese hatten sich von Grund auf zu ändern. Lecocq 2010: 118

[7] Es waren große Anstrengungen unternommen worden, bei den südlichen Tuareggruppen Sklavenhaltung und -handel zu unterbinden, wohingegen der Norden zunächst relativ unkontrolliert geblieben war. Lecocq 2010: 117

[8] Ausführlich : La révolte 1963-1964, bei Boilley 2012: 317-351.

[9] Lecocq weist darauf hin, dass es im Verständnis der Tuareg für einen Mann keine größere Schande gibt, als in der Öffentlichkeit sein Gesicht zu zeigen.

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