Startseite / Archive / 2011 / Angelika Mietzner 2009. Räumliche Orientierung in nilotischen Sprachen.
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1. Introduction

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Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit der kognitiv semantischen Analyse räumlicher Orientierung, der Deixis und der Grammatikalisierung von Direktionalität in nilotischen Sprachen. Als theoretische Grundlage zu Untersuchungen in den perspektivischen Bereichen dienen die Konzepte Landmarke und Trajektor und deren Beziehung zu einander, die die Grundkonzepte der kognitiven Grammatik (Langacker 1987) sind. Die Arbeit von Angelika Mietzner bietet nicht nur einen ausgezeichneten Beitrag zur kognitiven Semantik in den Nilotischen Sprachen, sie gibt auch einen gründlichen und sehr ausführlichen Einblick in Sprachdaten des Ost-, West- und Südnilotischen in den Bereichen Himmelsrichtung, Deixis und der Grammatikalisierung von Direktionalität (Itiv und Ventiv). Das Buch ist sowohl für den theoretisch als auch für den mehr deskriptiv orientierten Wissenschaftler interessant und lesenswert.

2. Die Struktur des Buches im Einzelnen

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Im Vorwort wird ein Überblick über den Forschungsstand gegeben, die ost-, west- und südnilotischen Sprachen werden vorgestellt und die Methodologie der Forschung beschrieben. Das zweite Kapitel legt den theoretischen Rahmen der Arbeit fest, wobei der Gebrauch von Trajektor und Landmarke (Langacker 1987) für die Raumorientierung und das Single-File Modell und das Face-to-Face Modell (Heine 1997) im Einzelnen erklärt werden. Für die Gesamtarbeit werden die kognitiv-linguistischen Raumvorstellungen von Levinson & Wilkins (2006) zugrunde gelegt. Levinson & Wilkins teilen den Raum in Stasis und Kinesis ein. Dem statischen Aspekt können nicht-angulare Beziehungen zugeordnet werden, die z.B. die Topologie beschreiben, und angulare, die sich auf intrinsische, relative und absolute Referenzrahmen beziehen. Der kinetische Aspekt, der die Bewegung im Raum beschreibt wird in der Arbeit nicht berücksichtigt.

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Aus der semantisch-kognitiven Aufteilung der Stasis ergibt sich dann die Struktur der Arbeit. Diese ist in die Bereiche 'Raum' und 'Direktionalität' aufgeteilt, wobei 'Raum' dann in die Topologie (Kapitel 5), den relativen Referenzrahmen (Single-File Modell vs. Face-to-Face Modell / Kapitel 3) und den absoluten Referenzrahmen (Himmelsrichtungen / Kapitel 4) gegliedert ist. Die Direktionalität als weiterer Teil der Stasis wird aufgefächert in statisch (Demonstrativpronomina / Kapitel 6) und kinetisch (verbale Richtungsmorpheme Itiv und Ventiv / Kapitel 7).

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Die Ergebnisse aus Kapitel 3, in dem das Single-File Modell und das Face-to-Face Modell auf ost-, süd- und westnilotischen Sprachen angewendet werden, zeigen deutlich eine dominante Anwendung des Single-File Modells in den ost- und südnilotischen Sprachen, wobei im Ostnilotischen ausschließlich das Single-File Modell benutzt wird und im Südnilotischen 3 von 10 Sprechern auf das Face-to-Face Modell zurückgreifen. Im Westnilotischen wird überraschender Weise häufiger das Face-to-Face Modell angewandt. Die Sprecher aus drei von fünf Sprachen ziehen diese kognitive Perspektive vor. Es lässt sich nicht ausschließen, dass die Sprecher, die das Face-to-Face Modell anwenden durch westliches Denken (Face-to-Face Modell) beeinflusst waren. Bei einigen dieser Sprecher lässt sich eine gehobene Ausbildung in der englischen Sprache nachweisen.

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In Kapitel 4, in dem der absolute Referenzrahmen der Himmelsrichtungen näher beleuchtet wird, kann die Autorin nachweisen, dass die Bezeichnungen für Himmelsrichtungen in den nilotischen Sprachen durch Landmarken (Berge, Flüsse), kosmologische Konzepte (Sonne, Sterne), atmosphärische Konzepte (Wind und Wetter), ethnisch relevante Richtungen (Siedlungsgebiete anderer Ethnien), geschichtlich relevante Merkmale (Kriegsschauplätze) und Körperteile (Gesicht, Kopf oder Rücken) bestimmt sind. Außerdem werden deiktische Konzepte angewendet, die die Achsen links/rechts, vorne/hinten und oben/unten festlegen. Auffällig ist die Variabilität in den Bezeichnungen der Himmelsrichtungen in den nilotischen Sprachen.

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In Kapitel 5, das die Raumverhältnisse anhand der Bilderserie zu topologischen Relationen von Bowerman untersucht, konnte eine interessante Beziehung zwischen den kognitiven Perspektiven der Raumaufteilung und der Satzstellung im Satz hergestellt werden.

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Zur Bestimmung des grammatischen Ausdrucks kognitiver Perspektiven wird die Beziehung zweier Objekte zueinander untersucht, wobei die Konzepte Landmarke und Trajekor und deren Beziehung zueinander elizitiert worden sind. Die südnilotischen Sprachen haben grundsätzlich zwei Möglichkeiten, diese Raumaufteilung auszudrücken, entweder durch Positionsverben oder durch den Gebrauch der Basiskonstruktion Kopula-Trajektor-Landmarke (Kop-TR-LM) beziehungsweise einer Erweiterung dieses Basiskonstruktion durch adpositionale Nomina. Die kognitiven Variationen entstehen durch eine Erweiterung der Basis-Satzstruktur (Kop-TR-LM) mittels adpositionaler Nomina, Präpositionen und Genetivkonstruktionen. Bei dem Gebrauch von positionalen Verben besteht entweder die Möglichkeit, eine Partizipkonstruktion zu bilden oder das entsprechende Verb als Hauptverb zu nutzen. Die ostnilotischen Sprachen sind nur hinsichtlich der Kopulakonstruktion, nicht aber hinsichtlich des Gebrauchs positionalen Verben untersucht worden. Die lückenhaften Datenlage ließ eine Berücksichtigung der westnilotischen Sprachen insgesamt nicht zu. Trotzdem konnten folgende verallgemeinernde Feststellungen herausgearbeitet werden (129):

  1. Lokativkonstruktionen, die aus der Minimalkonstruktion einer Kopula dem Trajektor und der Landmarke bestehen, beschreiben ausschließlich [+Kontakt]-Situationen.

  2. Haben Lokativkonstruktionen in südnilotischen Sprachen ein adpositionales Nomen in postnominaler Position, so handelt es sich dabei mit größter Wahrscheinlichkeit um orit ‘innen’ oder parak ‘auf, über, oben’

  3. Haben südnilotische Sprachen eine Lokativkonstruktion, in der ein adpositionales Nomen zwischen Trajektor und Landmarke steht, so können damit alle Arten von Kontaktsituationen ausgedrückt werden.

Bei der Auswertung des Vergleichs zwischen dem Gebrauch von Vollverben, die den Trajektor ausdrücken, und den Kopula-Konstruktionen, kommt die Autorin zu folgenden Ergebnissen für die südnilotischen Sprachen (152-153):

  1. Wird in südnilotischen Sprachen in einer Lokativkonstruktion kein Verb verwendet, welches die Positionierung des Trajektors spezifiziert, so muss in allen diesen Sätzen ein adpositionales Nomen verwendet werden.

Ausnahmen bilden ausschließlich Kopulasätze, die einen sehr engen, fast in einander übergehenden Kontakt von Trajektor und Landmarke beschreiben.

  1. Wird in den südnilotischen Sprachen eine Lokativkonstruktionen mittels eines Verbs beschrieben, so wird die Position des Trajektors bezüglich der Landmarke mit der Präposition eng ausgedrückt.

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An dieser Stelle fehlt leider eine Auswertung und eine verallgemeinernde Feststellung über die adpositionalen Nomina in den ostnilotischen Sprachen.

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Die beiden letzten Kapitel befassen sich mit der Grammatikalisierung des kognitiven Verständnisses von Direktionalität. In Kapitel 6 wird der bisherige Forschungsstand, die Dreiteilung der Demonstrativsuffixe in proximal, medial and distal verifiziert. Auffallend ist dabei, dass in einzelnen Sprachen das distale Demonstrativpronomen durch Vokallängung und Höhung des Endvokals erweitert werden kann. Auch gibt es in den nilotischen Sprachen die Möglichkeit ,Demonstrativpronomina emphatisch zu markieren.

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Die Ergebnisse aus Kapitel 7 beweisen, dass die bekannten Direktionaltätsuffixe Itiv und Ventiv polyfunktional sind. Direktionalität, die mit den Richtungsmorphemen Itiv und Ventiv beschrieben wird, zeigt zusätzlich zu diesen Funktionen, die in allen nilotischen Sprachen belegt ist, den Mobilitiv, die Simultaneität, den Altrilokal, die finale Funktion, den Resultativ, den Attenuativ, den Benefaktiv, den Preparativ, den Kausativ und den Inzeptiv. Außer als Marker für Direktionalität, die in allen nilotischen Sprachen belegt ist, dienen sie der Markierung von Mobilitiv, Simultaneität, Altrilokalität, Finalität, Resultativ, Attenuativ, Benefaktiv, Preparativ, Kausativ und Inzeptiv. In Tabelle Nr. 28 (194) wird eine quantitative Auswertung der Polyfunktionalität der direktionalen Suffixe in den nilotischen Sprachen vorgenommen. Als Gesamtergebnis stellt die Autorin fest, dass in den nilotischen Sprachen die Grammatikalisierung der kognitiven-räumlichen Vorstellungen keiner einheitlichen Tendenz unterliegt, sondern sich durch eine hohe Divergenz auszeichnet.

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Der erste Anhang umfasst Daten für die ostnilotischen Sprachen Maasai und Teso, die an Hand der Bilderserie topological relations picture series von Melissa Bowerman elizitiert wurden. Der zweite Anhang zeigt die Bilder der topological picture series von Melissa Bowermann.

3. Einordnung in den Forschungsstand und kritische Bemerkungen:

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Die vorliegende Arbeit stellt einen Durchbruch in zweierlei Hinsicht dar. Sie konzentriert sich erstens auf die Semantik der nilotischen Sprachen und schließt so eine Lücke neben den gut dokumentierten Arbeiten in Syntax, Phonologie und Morphologie. Des Weiteren kann die Autorin nachweisen, dass die Grundkonzepte Trajektor und Landmarke, Grundkonzepte der Kognitiven Grammatik von Langacker (1987), sich zur Analyse kognitiver Perspektiven in Sprachen gut eignen, wodurch sie einen theoretischen Beitrag zum Bereich der kognitiven Semantik bietet.

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Die Arbeit hat noch andere Vorzüge. Sie eröffnet viele neue Ansatzpunkte für weitere Forschungsarbeit. So wird zum Beispiel die Frage aufgeworfen, welche Ursachen die kognitive Vielfalt der Polyfunktionalität von Itiv und Ventiv haben, wobei die historische Perspektive der Kontaktsprachenforschung diskutiert und dokumentiert wird (z.B. in Karte 4 auf S.196). Es zeigt sich auch, dass die Raumvorstellungen im Ostnilotischen und Südnilotischen unterschiedlich grammatikalisiert worden sind. Leider wurden für das Ostnilotische - aufgrund der Spezialisierung auf das Südnilotische und der damit einhergehenden ausschließlichen Verwendung existierender Publikationen ohne eigene Feldforschung - keine differenzierten Grundsätze über die kognitive Erfassung des Raumes formuliert. Dies stellt zwar eine Lücke dar, kann jedoch sicherlich dem nicht gesicherten Forschungsstand zugeschrieben werden mag. An dieser Stelle bietet sich eine vertiefende oder eine vergleichende Studie an. Auch der Gebrauch von Vollverben zur Raumbeschreibung in ostnilotischen Sprache ist in dem Buch nicht erwähnt worden und würde eine weiteres Forschungsgebiet eröffnen.

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Am Schluss wird die sehr interessant Frage aufgeworfen, warum die semantisch-kognitive Domäne in den nilotischen Sprachen so divergent ist, während der Bereich der Morphologie und des Lexikons sich sehr homogen verhält. Drei Erklärungsmöglichkeiten werden von der Autorin angeboten (209-216), die gleichzeitig auch die interdisziplinäre Natur der Forschung erkennen lassen:

  • Semantisch-kognitive Kategorien werden von geographischen, kulturellen und räumlichen Aspekten beeinflusst.

  • Semantisch-kognitive Kategorien unterliegen in Sprachkontaktsituationen Wandel. Dabei sind Einflusse aus lokalen balanciertem Kontakt von denen aus Linguae francae zu unterscheiden.

  • Semantisch-kognitive Kategorien sind anfällig für Innovationen.

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Die Diskussion der drei Lösungsmöglichkeiten kann folgendermaßen zusammengefasst werden:

  1. Immer wieder auftretende neue geographische und kulturelle Einflüsse zwingen die Sprecher zu einem ständigen Orientierungsprozess (Levinson 1997). Dieser mündet wiederum in Erneuerungen der räumlichen Angaben und Konzepten, was sich besonders in den Ausdrücken für Himmelsrichtungen zeigt.

  2. Durch den Kontakt mit anderen Sprachen kommt es immer wieder zu Entlehnungen von Konzepten und Bezeichnungen. Am häufigsten treten die Entlehnung im lexikalischen Bereich auf. Im semantisch-kognitiven Bereich kann es jedoch auch zu Entlehnungen von Ideen und Konzepten kommen. Die Autorin diskutiert, dass es bei der Entwicklung der Polyfunktionalität des Itiv/Ventiv voraussichtlich zu Ideenentlehnung aus anderen Sprachen kam, und diese Ideen durch die Form des Itiv und Ventiv ausgedrückt wurden, was zum Beispiel auch als Strategie für karibische Sprachen erkannt wurde (Carlin 2006). Die neuen Ideen bestehen dann parallel zu der alten Verwendung der Form.

Die Anfälligkeit der semantisch-kognitiven Kategorie für Erneuerungen hängt mit der Variabilität der Lebensweise und des Lebensstil der Sprecher zusammen und wird auch in Zukunft zu weitere Innovation führen, was auch von Lakoff & Johnson (1997) bestätigt wird.

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Kritisch ist anzumerken, dass die Autorin nicht auf den Gebrauch des verbalen Instrumentalsuffix eingeht, das in allen südnilotischen Sprachen (z.B. Rottland 1982, Creider & Creider 1989, Jerono (in prep.) belegt ist, und der eine Alternativform zu der Konstruktion aus Verb und der Präposition eng bildet. Diese Bemerkung bezieht sich vor allem auf die oben erwähnte Feststellung 5. Daraus ergibt sich die Frage, wie sich die Beziehung zwischen Trajektor und Landmarke gestaltet, wenn das Instrumentalsuffix vorkommt. Der Gebrauch des Instrumentalsuffix stellt laut Jerono (in prep.) und eigenen Beobachtungen die normale Form dar, während eng in besonders hervorgehobenen Situationen gebraucht wird. Eine weitere Frage wäre: kann das Instrumentalsuffix auch mit dem Partizip des Verbs auftreten, und wenn ja, welche Distribution ergibt sich dann zwischen dem Gebrauch der Präposition eng und dem derivaten Instrumentalsuffix in Bezug auf die Beziehung zwischen Trajektor und Landmarke? In einigen Sprachdaten des Kalenjin findet sich das Objektsuffix (z.B. in den Sprachdaten auf den Seiten 394-398) auf. Leider wird nicht deutlich, welche Bedeutung es hier hat.

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Insgesamt sollte die Arbeit einen Anreiz für alle Forscher im Bereich der nilotischen Sprachen darstellen, den im Buch aufgeworfenen Fragen weiter nachzugehen.

Referenzen

Carlin, Eithne B. 2006

'The Quechua impact in Amuesha, an Arawak language of the Peruvian Amazon.' In: Aikhenvald, Alexandra Y. and R. M. W. Dixon 2006 (Hg.), Grammars in Contact. A Cross-Linguistic Typology. New York: Oxford University Press. S.290-332

Creider, Chet and Jane Creider 1989

A Grammar of Nandi. Hamburg: Buske Verlag

Heine, Bernd 1997

Cognitive Foundations of Grammar. New York, Oxford: Oxford University Press

Jerono, P (in prep.)

The Word Order of Tugen. Ph.D. thesis, University of Nairobi

Langacker, Ronald W. 1987

Foundations of Cognitive Grammar: Theoretical Prerequisites. Stanford: Stanford University Press

Lakoff, George und Mark Johnson 1997

Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg: Carl Auer (Übersetzung des englischen Originaltexts Metaphors We Lve By, 1980, University of Chicago Press)

Levinson, Stephen G. 1997

'From outer to inner space: linguistic categories and non-linguistic thinking. In: Nuyts, Jan and Eric Pederseon (Hrsg.) Language and Conceptualization, pp. 13-45. Cambridge: Cambridge University Press

Levinson, Stephen G. und David Wilins (Hrs.)2006

Grammars of Space. Explorations in Cognitive Diversity. Cambridge, New York, Melbourne: Cambridge University Press

Rottland, Franz 1982

Die südnilotischen Sprachen. Beschreibung, Vergleichung und Rekonstruktion. Berlin: Reimer

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