Startseite / Archive / 2008 / Alexander Kellner 2007. Mit den Mythen denken. Die Mythen der Burji als Ausdrucksform ihres Habitus.
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Mit dem hier zur Rezension vorliegenden Buch legt Alexander Kellner ein beeindruckendes Werk postmoderner, afrikanischer Erzählforschung vor. Es gelingt dem Autor darin, auf eindrucksvolle Weise die aktuelle Bedeutung der afrikasprachlichen Philologien für die deutsche Afrikanistik und Ethnologie aufzuzeigen und zu erweitern. Darüber hinaus liefert er tiefe und interessante Einblicke in die Geschichte der Burji, die weitgehend aus deren autochthoner Perspektive gezeichnet werden.

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Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile, wobei im ersten Teil (Analyse) neben den theoretischen und methodischen Ansätzen, auf denen Kellners Analyse fußt, auch eine Einführung in die kulturellen Grundlagen der Burji-Kultur und deren Oralliteratur sowie die Analyse der Erzählungen zu finden sind. Der zweite Teil (Dokumentation) bleibt der Dokumentation vor allem des Textkorpus vorbehalten. Anmerkungen zur Notation, zur Grammatik des Burji, ein Glossar häufig verwendeter Burji-Begriffe, eine englischsprachige Zusammenfassung des Textes sowie Kartenmaterial runden das Werk ab.

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Ein erstes, einführendes Kapitel des analytischen Teils ist den Zielen der Abhandlung gewidmet und liefert darüber hinaus ethnografische Anmerkungen zu den Burji sowie eine Beschreibung der geleisteten Vorarbeiten und der Feldforschungen. Der Autor stellt darin vor allem fest, dass es sich bei den Mythen der Burji nicht um "dogmatische Geschichten [handelt], die starre inhaltliche Aussagen über die Welt" enthalten, sondern vielmehr um "variabel auslegbare Denkmodelle […] mittels derer [die Burji] über bestimmte Sinngehalte und gegenwärtige Probleme nachdenken" (S.17). Er liefert somit einen weiteren Beweis für den kreativen Umgang afrikanischer Ethnien mit oraler Literatur, bei dem dieselben Erzählinhalte in neuen Kontexten immer wieder reinterpretiert und der aktuellen Lebenssituation angepasst dargestellt werden.

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Spätestens hier wird klar, dass der Autor seine Arbeit in einem synchronen Rahmen ansiedelt. Daraus ergibt sich schließlich auch die theoretisch-methodische Einordnung in die deutschsprachige afrikanistische Erzählforschung der vergangenen Jahrzehnte. Während Möhligs (1986) textmorphologischer Ansatz zur Analyse afrikanischer Volkserzählungen Kellner vor allem wegen der diachronen Ausrichtung wenig geeignet erscheint, übernimmt er aus dem ebenfalls strukturbasierten und auf Möhligs (1986, 1988) Arbeiten aufbauenden Ansatz von Geider (1990), den er als 'hermeneutisch' bzw. 'kulturphilologisch' bezeichnet, im wesentlichen dessen Modell der Feintranskription und lässt sich von der Idee, Kulturangehörige am Interpretationsdiskurs zu beteiligen, maßgeblich inspirieren. Den Ansatz, "über die Sprache zur Kenntnis der Kultur zu gelangen" (S.28), den bereits Geider (1990:12) zum Kernsatz seiner Textforschung erhoben hatte, macht Keller zu einer Art Credo seiner Arbeit. Kritik übt der Autor (S.33) an Geiders Ansatz jedoch vor allem dahingehend, dass Letzterer die Generativität und Situationsgebundenheit der Texte bzw. ihrer Erzählakte zu wenig berücksichtige und diese dadurch weiter dekontextualisiere, dass sie mit ethnografischen Informationen in Beziehung gesetzt werden, die zuvor in ggf. völlig anderen Kontexten erhoben wurden. So erhebt Kellner die Fragen nach der impliziten und expliziten Botschaft, die ein Erzähler mit seiner Version eines Texts vermitteln möchte, und danach wieweit eine Geschichte den Erzähler zum Nachdenken über bestimmte Thematiken (seiner Kultur) und zu deren Strukturierung bzw. zu deren tieferem Verständnis anregt, zu den zentralen Fragen seines eigenen Ansatzes (S.18).

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Den Hauptteil der Arbeit bilden die drei folgenden Kapitel zu Theorie und Methoden, zur Oralliteratur der Burji sowie zur Bedeutungsanalyse der Erzählungen. Kellners Ansatz liegt dabei in einer Verbindung von hermeneutischen und praxisorientierten Aspekten. Hermeneutischen Verfahren – Kellner geht dabei insbesondere auf die Arbeiten von Clifford Geertz ein – spricht er insofern Bedeutung zu, als sie im Zusammenhang mit der Berücksichtigung der kulturellen Binnenperspektive zum Einsatz kommen. Darüber hinaus wendet der Autor Bourdieus Habitus- und Feldkonzept (Bourdieu 1976, 1999) als praxisorientierte Verfahren an, die er als eine 'praxeologische Soziologie' bezeichnet. Dieser Ansatz dient ihm zur "Herstellung eines theoretischen Konnexes zwischen Erzählereignissen und anderen gesellschaftlichen Praktiken" (S.43). Zentrale Bestandteile sind dabei das Habitus-Konzept, als dessen Ausdrucksform Kellner mündliche Traditionen versteht sowie Bourdieus Konzept der sozialen Felder. Darüber hinaus kann so, gemäß Kellner, der "Gegensatz von Kollektivität mündlicher Überlieferungen einerseits und individueller Variation andererseits" überwunden werden (S.19). Ein weiterer Abschnitt ist der Erhebung und Aufbereitung der Erzählungen sowie weiterer Informationen gewidmet. Im abschließenden Kapitel dieses theoretisch-methodischen Teils der Arbeit beschreibt der Autor die Oralliteratur der Burji, wobei sehr ausführlich auf die emisch entwickelten Erzählgattungen eingegangen wird und über die in der Abhandlung thematisierten Mythen hinaus auch weitere Erzählgattungen eingeführt bzw. in Abgrenzung zu den besprochenen Mythen diskutiert werden.

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Der umfangreichste Part des ersten Teils der Arbeit fällt der Bedeutungsanalyse der Erzählungen zu. Darin untersucht Kellner zwei zentrale Mythenstränge der Burji: Zum einen ihre Herkunftserzählung (Liban-Tradition), in der sie über ihre Ethnogenese reflektieren, zum anderen den Yaayya-Mythos, einen Komplex von Erzählungen über das Leben des gleichnamigen Gründers einer der zentralen Burji-Klans. Von den acht Varianten des Liban-Mythos werden vier, von den zehn Varianten des Yaayya-Mythos drei ausführlich vorgestellt und diskutiert. Der Autor führt dabei stets zunächst bemerkenswert ausführlich in den Kontext der Aufnahme ein und bespricht den Vortragsstil. Die Erzählsettings sind vorbildlich beschrieben, bleiben aber dennoch künstlich evoziert. Daran anschließend werden die einzelnen Texte jeweils mehrheitlich chronologisch, entsprechend der Syntax der einzelnen Handlungs- bzw. Erzählabschnitte (Episoden, Ereignisse) diskutiert, wobei der Autor oftmals auf sehr persönliche Weise beschreibt, wie sich ihm der Zugang zu dem entsprechenden Text eröffnet hat. In die Analyse der einzelnen Episoden fließen stets auch weitere, kulturelle Hintergrundinformationen ein. Soweit sinnvoll und möglich, werden Abweichungen der Varianten oder Erzählkontexte untereinander kontrastiv im Sinne des Ziels der Abhandlung gegenübergestellt.

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Auch im Rahmen der Analyse behält der Autor den bereits in der Einleitung begonnenen persönlichen Schreibstil bei. Stellenweise wirkt diese sonst sehr angenehme Schreibart etwas übertrieben und nimmt eher die Form eines Reiseberichts denn diejenige einer wissenschaftlichen Arbeit an. So z.B. wenn der Autor über seine erste Begegnung mit einem Erzähler namens Sode berichtet (S.102). Ab und an lässt dieser Stil den Text auch etwas spekulativ wirken, was kaum der Absicht des Autors entsprungen sein dürfte. Dies ist vor allem auf S.117 der Fall, wo der Autor dem Text implizit-spekulative Fragen über das moralische Verhalten der Burji im Konflikt mit den Boraana unterstellt, die sich nach Meinung des Rezensenten zumindest aus dem Textmaterial so kaum begründen lassen. Begriffsdefinitionen (z.B. für die Termini 'Bild' und 'Motiv') sind eher in den theoretischen als in den methodisch-analytischen Abschnitten zu erwarten (S.105). Insgesamt fehlt eine Auseinandersetzung mit diesen zentralen Begriffen weitgehend. Gerade hier wäre doch aber ein Vergleich mit den Ansätzen von Möhlig (1986, 1995) und Geider (1990, 2003) spannend und hilfreich gewesen. Als herausragend ist die überaus gelungene Übersetzung des theoretisch-methodischen Ansatzes in die analytische Praxis zu bezeichnen, wofür z.B. Abschnitt 1.10 (S.121ff) ein treffliches Beispiel liefert; ebenso die Diskussion des Wahrheitsbegriffs und dort vor allem die Abschnitte 4.4–4.11 (S.143–173), deren Inhalt aufgrund ihrer zentralen Bedeutung für die Gesamtaussage der Abhandlung durchaus auch ein eigenes Kapitel hätte gewidmet werden können. Ein sehr guter abschließender Überblick rundet den ersten, analytischen Teil der Arbeit ab.

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Der zweite Teil der Abhandlung (Dokumentarteil) besteht im Wesentlichen aus ausführlichen grammatikalischen Anmerkungen zur Sprache der Burji, die für das Verständnis der Texte unerlässlich scheinen, sowie der Widergabe der zwei Mythenstränge (Liban und Yaayya) in acht bzw. zehn Varianten. Alle achtzehn Erzählungen liegen in einer freien Übersetzung, z.T. mit kommentierenden Anmerkungen des Autors vor. Sieben Texte werden im Originallaut, einige davon sogar mit interlinearisierter Übersetzung angegeben. Für die weitere wissenschaftliche Arbeit mit den Burji-Mythen könnte sich die räumliche Trennung zwischen Übersetzung und Originaltext ggf. als etwas unpraktisch erweisen. Auch wäre es für eine moderne Afrika-Erzählforschung, die sich maßgeblich auf originalsprachliches Textmaterial stützt, wünschenswert gewesen, zumindest alle Texte im originalen Wortlaut abzudrucken oder diese an anderer Stelle zu publizieren und hier in geeigneter Form darauf hinzuweisen.

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Ein Anhang enthält Beispiele für weitere Textgattungen, ein Glossar führt die am häufigsten verwendeten Burji-Begriffe auf und erläutert sie. Im Bezug auf das verwendete Kartenmaterial wäre eine professionellere grafische Gestaltung durchaus wünschenswert. Als von großem praktischem Wert für eine internationale Wissenschafts-Community dürfte sich die englischsprachige Zusammenfassung am Ende des Buches herausstellen.

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Alexander Kellner eine herausragende Arbeit gelungen ist, die in sehr gründlicher Form sowohl für die Ethnologie als auch die Afrika-Erzählforschung innovative, theoretische und methodische Ansätze vorbildlich mit einem umfangreichen Datenbestand verbindet. Dem Autor ist es dabei gelungen, zu zeigen, wie Kulturangehörige in einer oralen Kultur ihre eigenen mündlichen (Geschichts-) Traditionen bzw. Überlieferungen stets neu einsetzen, um damit über vergangene und gegenwärtige Ereignisse und Entwicklungen zu reflektieren bzw. diese einem kulturgemäßen, kritischen Diskurs zu unterziehen. Auch konnte gezeigt werden, wie ein und derselbe Erzählstoff situationsabhängig zur Verarbeitung unterschiedlicher politischer und kultureller Fragestellungen zur Anwendung kommen und in verschiedenen Erzählkontexten ggf. stark umgedeutet werden kann, ohne dabei den besonderen Wahrheitsbegriff oraler Kulturen zu verletzen. Positiv fällt darüber hinaus der angenehme, leicht verständlich Schreibstil sowie die sehr eloquente Sprache des Autors auf, die die Begeisterung und auch eine gesunde emotionale Verbundenheit des Forschers mit dem Forschungsgegenstand ausstrahlen.

Literaturangaben

Bourdieu, Pierre 1976

Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp

Bourdieu, Pierre 1999

Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft . Frankfurt: Suhrkamp

Geider, Thomas 1990

Die Figur des Oger in der traditionellen Lebenswelt der Pokomo in Ost-Kenya. 1. Analytischer Teil, 2. Dokumentationsteil. 2 Bände. Köln: Köppe

Geider, Thomas 2003

Motivforschung in Volkserzählungen der Kanuri (Tschadsee-Region). Ein Beitrag zur Methodenentwicklung in der Afrikanistik . Köln: Köppe

Hornbacher, Anette 2005

Zuschreibung und Befremden. Postmoderne Repräsentationskrise und verkörpertes Wissen im balinesischen Tanz . München: Reimer

Möhlig, Wilhelm J.G. 1986

'Grundzüge der textmorphologischen Struktur und Analyse afrikanischer Erzählungen.' In: Afrikanistische Arbeitspapiere 8:5-56

Möhlig, Wilhelm J.G. 1988

'Zur Übersetzungsproblematik bei der Bearbeitung oralliterarischer Texte in Afrika.' Afrikanistische Arbeitspapiere 13:35-55

Möhlig, Wilhelm J.G. 1995

'The architecture of Bantu narratives. An interdisciplinary matter analysis of a Dciriku text.' In: Traill, Anthony, Rainer Vossen und Megan Biesele (Hg.) The Complete Linguist. Papers in memory of Patrick J. Dickens . Köln: Köppe, S.85-113

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