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Johann Gottlieb Christallers Briefkonzept:

betr. Constantia Scholtz, ihre Arbeit u die Situation im Mädchenhaus Basel

(Schorndorf, 29. Dez. 1879)

M3,79 GC 2

<1>

An die Vorsteherin des Missions-Mädchenhauses Basel: 'Du sollst Deinen Bruder nicht hassen in Deinem Herzen, sondern Du sollst Deinen Nächsten strafen, auf daß Du nicht seinethalben Schuld tragen müssest.' (3. Mos. 19,18) 'Sündiget aber Dein Bruder (oder Deine Schwester) an Dir, so gehe hin u strafe ihn zwischen Dir u ihm allein.' (Matth. 18) 'So ziehet nun an, als Auserwählte Gottes, Heilige u Geliebte, herzinniges Erbarmen, Freundlichkeit, Demuth, Sanftmuth, Geduld.' (Col. 3,12)

Theure Schwester in Christo!

So glaube ich Sie doch anreden zu dürfen, wenn anders Sie mich als einen Bruder in Christo gelten lassen wollen. Aber es wird mir wahrlich nicht leicht, an Sie zu schreiben, zumal ich weiß, wie unzugänglich Sie in der Regel für das sind, was andere Menschenkinder in Abweichung von Ihren eigenen Gedanken Ihnen zu sagen sich gedrungen fühlen. Zu einiger Rechtfertigung darüber, daß ich vor solchem Wagniß doch nicht zurückschrecke u zur Richtschnur für mich selber habe ich obige Worte voraus geschickt. Es lagen u liegen mir noch viele andere im Sinn, aber ich muß mich beschränken.

<2>

Meine Tochter Martha ist jederzeit mit wahrer aufrichtiger Liebe an Ihnen gehangen u ist oder wäre Ihnen so treu ergeben als Sie es nur erwarten können. Sie u ich, wie meine Schwester in Gmünd werden es auch nicht vergessen, was Sie in Liebe an ihr u für sie gethan haben. Aber so lieb meiner Martha auch die Arbeit für die Mission, insbesondere die im Mädchenhause ist, sowohl in den äußerlichen Geschäften, als in den wenigen, was sie in Erziehung u Unterrichtung der Kinder thun kann u darf, so wird ihr dieser sonst so liebe Aufenthalt in Ihrem Hause doch, u zwar gegen alles Verhoffen, je länger je mehr in einem solchen Grad verbittert, daß ich es nicht mit meiner Vaterpflicht vereinigen kann, sie noch länger in dieser Leib u Seele aufreibenden Stellung zu lassen.

<3>

[...] Ich bin bereit, meiner Martha Briefe der Kinder-Erziehungs-Commission vorzulegen u bin gewiß, jedermann wird aus denselben den Eindruck bekommen, daß Martha in der That u Wahrheit Sie lieb hat, daß sie wahrhaftig ist u ängstlich sich vor jeder Übertreibung hütet, daß sie herzlich dankbar für alles, was sie Ihnen zu danken hat. Ich würde sagen, ihre schlichten Briefe erweisen sie als ein Herz ohne Falsch, aber das eben ist ihr größter Schmerz, daß die Leute im Hause, besonders auch die Kinder, durch Ihre übertriebene Strenge u Ihre gewiß nicht zur Erziehungsweisheit gehörigen Grundsätze u Kunstgriffe u durch den eigentlichen Bann, mittelst dessen Sie die Leute beherrschen, selbst bei allem Sträuben dagegen zur Falschheit, zur Heuchelei getrieben werde.

<4>

Sie sehen sich oft genöthigt, ein Ja zu sagen zu Ihren Behauptungen, wo doch die Thatsachen u das richtige Gefühl ein Nein verlangen. An Anlässen der Erbitterung zum Scheuwerden fehlts ohne dies nicht. Martha stellt sich in ihren Briefen nicht unschuldiger dar, als sie ist, aber Ihnen gegenüber mag sie sich oft schuldiger bekannt haben, als sie es war oder ist.

<5>

Darin besitzen Sie scheints eine wahre Virtuosität, arme Menschenkinder recht zu zermalmen, bis sie wie einst die Opfer der Folterkammer Ungehorsam und Eigensinn und Bosheit und alles mögliche zugeben, wo ihr Herz nicht dran denkt, einen eigenen Willen dem Ihrigen entgegenstellen zu wollen. Wie viel leichter könnten Sie Ihre schwierige Haushaltung im rechten Gang erhalten, wenn Sie es ohne übertriebenen Rigorismus und Terrorismus probieren würden.

<6>

Das weiß ich ja ganz wohl, daß die Liebe mit Ernst gepaart sein muß, aber wenn bei einer Frau die Strenge in Herbigkeit u Härte umschlägt u diese Herbigkeit habituell wird, so schneidet es tiefer u wirkt schädlicher, als wenn ein Mann von gewaltigem Geist jeden Widerspruch, auch den der verkannten Wahrheit, darnieder schlägt. Ich habe hievon Erfahrung.

<7>

Hr I.J.J. (d.i. chiffriert Inspektor Joseph Josenhans) hatte ein größeres Reich zu regieren als Sie, er hatte unzweifelhaft Regierungsgabe, aber ein noch nicht zur Sündlosigkeit vollendeter Mensch ist oft in dem, worin er am stärksten ist, zugleich am schwächsten. Der kraftvolle Mann hat mitunter übers Ziel hinausgeschossen. (Hier bringt G.Chr. ganz bestimmte Beispiele aus seiner eigenen Tätigkeit innerhalb der Basler Mission, auch seine Differenzen mit Insp. Josenhans.)

<8>

[...] Ich werde mich, sobald oder (wenn) ich nach Stgrt komme, bei Herrn Insp. J(osenhans) (d.i. nach den vergangenen Fehlurteilen) erkundigen, ich werde mich sehr hüten, Händel mit ihm anzufangen, denn ich bin nicht händelsüchtig u ganz u gar Freund von griffigen oder gar scheltenden Worten (wie ich glaube sagen zu dürfen. ) Trotzdem passierte es mir, daß ich in purer Unerfahrenheit u Aufrichtigkeit Herrn IJJ einmal Dinge gesagt haben muß, 'die ihm noch niemand sagte' u die ihn gewurmt haben müssen.

<9>

[...] (zum Schluß des Briefes): Ich muß auch das erwähnen, daß Sie von manchen, die Sie näher kennen, gleichfalls für geisteskrank u unzurechnungsfähig gehalten werden, zu denen gehört aber Martha keineswegs, sie nimmt Sie in Schutz, wo und wann sie kann.

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