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Johann Gottlieb Christaller an Mutter und Schwestern

(Basel, 2. April 1849)

M3,49 G C 3

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Geliebte Mutter u Schwestern!

Gott, der barmherzige Vater, ziehe Euch immer mehr zum Sohne, Jesus Christus, der Weg, die Wahrheit und das Leben, führe Euch zum Vater. Der Heilige Geist verkläre Jesum in Euren Herzen und leite Euch in alle Wahrheit!

Indem ich heute an das Schreiben der Briefe, die mir schon längst ein Anliegen waren, gehe, verstreicht mir ein schöner Theil der mir herausgenommenen Zeit mit Besinnen darüber, welchen ich zuerst vornehmen, ob und mit welchen Entschuldigungen ich beginnen solle. Da ich versprochen habe, über meine Zeiteintheilung und das Anstaltsleben Euch Mittheilung zu machen, glaube ich dieß am besten thun zu können, wenn ich Euch ein Aufsatzheft mitschicke, worin Ihr solche ausführlicher als Ihr erwartet habt, finden werdet.

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In der Woche, von welcher die Beschäftigungen in Aufsatz Nr. 13 angegeben sind, war 1 Std Bibl Geschichte, 3 St dt Sprache, 3 St Lesen und Schreiben, 1 Std Geigen, 1 1/2 St Singen wegen Herrn Epplers Krankheit noch ausgefallen, dagegen konnte ich wie sonst, zumal wenn ich irgendein Ämtchen hatte, mit dem Armenier mich viel abgeben.

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Mein gegenwärtiger Stundenplan ist so, daß ich nur 1 oder 2 Stunden täglich zur Selbstbeschäftigung habe u nur etwa am Freitag 2 Std aneinander, so daß mir gewöhnlich der Aufsatz, der schon am Fr Abend abgegeben werden sollte, noch am Sa NM zu thun macht, da ich ihn in den vereinzelten Stunden (wo ich entweder wegen des Lateins der I. Classe nicht im Lehrsaal arbeiten kann, oder als in der letzten Arbeitsstunde des Tages auch nicht mehr so aufgelegt seyn kann, wegen der vorangegangenen Manchfaltig-keit nicht gehörig zu fertigen vermag. Auf den Sa NM gibt es dann auch meist Verschiedenes zu thun, und Ausgänge zu machen, und am Sonntag walten auch solche Gründe u Verhältnisse vor, daß ich selten einige Stunden zusammenhängend haben konnte.

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Ausgefüllt ist hienach die Zeit immer, die Beschäftigungen sind aber keineswegs eigentlich anstrengend, dagegen durch die Manchfaltigkeit, bei welcher die Gedanken eben doch von Morgens bis Nachts in jeder Stunde von etwas Anderem in Anspruch genommen sind, mitunter etwas abspannend. Die Zeit, welche andere Brüder auf das Latein verwenden, verwende ich, neben dem, das ich neuerdings nach eigenem Wunsch 4-5 Lateinhefte corrigiere, auf den Armenier; soviel an mir liegt, ist freilich der Unterricht, den ich ihm gebe, höchst unvollkommen, aber in letzter Zeit zeigte es sich mir recht deutlich, wie der Geist Gottes an ihm arbeitet u ihn innerlich fördert, so daß ich nicht zweiflen darf, daß der Herr ihn uns zugeführt habe.

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Vor 3 Wochen an einem Sa Nachts schloß er sich besonders innig an mich an u von dort an sitze ich jede Nacht nach der Andacht noch eine Weile bei ihm in dem Vorzimmer, in welchem er den Winter über (in einem Betttisch) schläft, da ihm als Morgenländer der Schlafsaal doch zu kalt gewesen wäre. Er hatte von Anfang an, weil ich fast allein unter den Brüdern mich mit ihm abgab, eine rechte Zuneigung gegen mich gefaßt, aber lange Zeit fühlte er sich im Übrigen doch nicht recht heimisch, da manches nicht nach seinem Sinne und seines Herzens Gedanken war. So sagte er mir an jenem Samstag oder einem der folgenden Abende, bis dahin seyen seine Augen immer zuhause gewesen, aber er habe den Heiland gebeten, er möge ihn recht mit einem Bruder verbinden, damit er hier bleiben und etwas Gutes lernen könne, und nun habe ihm der Heiland solche Liebe zu mir gegeben, daß er seine Heimath vergessen könne. Schon vorher hatte er mir gesagt, wenn ich nicht dagewesen wäre, so hätte er nicht bleiben können; ich wünschte immer, er möchte sich auch mehr an andere anschließen, aber er machte sich eben wo möglich an mich und ich selbst lerne das Wesen der Liebe recht verstehen. Manchmal sey er von seinem Platze aufgestanden, er arbeitet nemlich in dem zweiten Lehrsaal u habe durch die Fenster in der Scheidewand geblickt, ob ich noch an meinem Platze sey, u als wir kürzlich des Nachts einmal darauf zu sprechen kamen, daß ich wahrscheinlich auf den Sommer in das Missionshaus kommen werde, machte diese Bestätigung seiner bereits gehabten Ahnung hievon einen sehr niederschlagenden Eindruck auf ihn: er hielt eine solche Trennung für unerträglich, und als ich von ihm in meinen Schlafsaal gegangen war, überließ er sich, nach der Tiefsinnigkeit der Morgenländer, allein seinen Gedanken hierüber; vom baldigen Zubettegehen ist er überhaupt kein Freund, er habe, sagte er einmal, nicht gelernt, solange schlafen, dießmal aber, als er endlich sich zu Bette legen wollte, schlug die Uhr in Hrn Epplers Zimmer 5 Uhr u so schlief er also in dieser Nacht gar nicht.

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So könnte ich noch manche Beweise seiner außerordentlichen Liebe zu mir anführen, worunter auch, daß er immer für mich zum Heiland bete, daß er mir Weisheit geben und mich gesund erhalten möge. Er durfte auch früher auf kindlich glaubige u einfältige Gebete manche merkwürdige Erhörungen erfahren; des Nachts bete ich jedesmal noch mit ihm, ehe wir auseinandergehen. Ich muß es als einen starken Beweis der Gnade u Liebe Gottes gegen mich ansehen, daß er diesen Michael Wartanow solche ihm selbst nicht erklärliche Liebe gegen mich erzeigen läßt. Sie steht in einem unglaublichen Gegensatz zu meiner Schnödigkeit, Untüchtigkeit u Verderbtheit; ich denke aber, ich dürfe Euch nicht davon reden, es ist ja wahr, was der alte Haller sagte: 'Es muß eben ein Jedes seine Sachen selber durchmachen.' Betet nur, der gnädige u barmherzige Heiland möge keines von uns verloren gehen lassen. - Eine erwünschte Erleichterung für mein künftiges Briefschreiben wird es mir seyn, wenn Ihr in Euren Briefen Fragen an mich richtet u Eure Wünsche mittheilet, da mir die Sammlung der Gedanken u die Auswahl dessen, was ich schreiben soll, oft so schwer wird.

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